Düsterstes im Gedächtnis

Neue Arbeiten zu Paul Celans übersetzerischem Werk

Von Axel SchmittRSS-Newsfeed neuer Artikel von Axel Schmitt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In dem seine Baudelaire-Übertragungen einleitenden Aufsatz "Die Aufgabe des Übersetzers" fordert Walter Benjamin, dass nicht mehr das Gemeinte und der Sinn im Vordergrund des Übersetzungsbemühens stehen sollten, sondern die auf Artikulation der Fremdheit der anderen Sprache abzielende Anbildung der "Art des Meinens" der anderen Sprache in der eigenen. Indem aber das Fremde der anderen Sprache - und damit die radikale Differenz zwischen den Sprachen - zum zentralen Wert des Übersetzungsvorgangs wird, wird ein zugleich vereinheitlichendes und universalsprachliches Übersetzungsdenken aufgegeben. Die von Benjamin für die Übersetzung fruchtbar gemachte Inkommensurabilität der Sprachen fand eine geradezu zwingende Fortsetzung in einem Denken, das Sprache als differentielles und bedeutungskonstitutives Ordnungsgeschehen einführt. Gerade indem die Differenz zwischen Eigenem und Fremdem in der Übersetzung zur Darstellung gebracht wird, vollzieht sich in der Übersetzung in exemplarischer Weise das, was Jacques Derrida ein "System in Dekonstruktion" nennt.

Geht man folglich davon aus, dass die Sprache ein differentielles und artikulatorisches System ist, das, im Vollzug begriffen, sich stets auf syntagmatischer, paradigmatischer und semantischer Ebene modifiziert, dann darf die Übersetzung zwischen den Sprachen nicht lediglich einzelne Elemente übertragen, sondern muss vielmehr Verwebungen, Verhältnisse und Relationen übertragen. Dies erweist sich als für das gesamte Problemfeld der Übersetzung entscheidend, zumal ein sprachliches Gewebe, das als ein unaufhörlich sich veränderndes System gedacht wird, sich keineswegs innerhalb einer textualen Inklusion organisieren kann.

Nach Derrida ist der Leib einer jeden Sprache immer schon von fremden Texturen durchzogen. Es gibt immer Überschneidungen und Verwebungen zwischen den Sprachen, was zur Folge hat, dass die ehemals als Übersetzung zwischen den Sprachen entworfene Übersetzung derart zu einer Übersetzung in sprachlichen Geweben werden muss. Ein Übersetzungsdenken, das diese radikal textuale Struktur der Sprache mitberücksichtigt, muss zudem beachten, dass der Prozess der Übersetzung selbst die Modifikation der betroffenen sprachlichen Gewebe vorantreibt, womit noch einmal der dekonstruktive Charakter der Übersetzungsbewegung exponiert wird. Denn gerade die Übersetzung löst in ein und demselben Text-Ereignis bestehende Texturen auf und schafft neue; sie konstruiert und destruiert gleichermaßen. Anselm Haverkamp hat in diesem Zusammenhang darauf verwiesen, dass "Übersetzung [...] die Agentur der Differenz [ist], welche die trügerische Identität von Kulturen sowohl schafft, als auch sie im Zwiespalt ihrer ursprünglichen Nicht-Identität erneuert und vertieft." Jede der Sprachen, zwischen denen übersetzt beziehungsweise über-gesetzt werden soll, ist bereits eine von Übersetzung tief gezeichnete Sprache: keine ursprünglich natürliche, sondern eine ursprünglich kultivierte, überbaute Sprache. Sprache als immer eine Sprache, die doch die eines Anderen ist, provoziert als Differential zwischen dem Eigenen und dem Anderen eine neue Übersetzungstheorie.

Als einer der bedeutendsten Übersetzer fremdsprachiger Literatur ins Deutsche, für den dieser de-/konstruktive Charakter der Übersetzungsbewegung ausgemacht werden kann, ist in den letzten Jahren Paul Celan zu nennen; hinsichtlich Quantität und Qualität können ihm wohl allenfalls Rainer Maria Rilke und Hans Magnus Enzensberger an die Seite gestellt werden. Celan hat aus acht Literaturen übersetzt, aus dem Englischen, Amerikanischen, Französischen, Russischen, Italienischen, Rumänischen, Portugiesischen und Hebräischen. Zwei dicke Bände der "Gesammelten Werke" mit insgesamt über 1.500 Seiten enthalten Übersetzungen von 42 Lyrikerinnen und Lyrikern, dazu Pablo Picassos surrealistisches Drama "La désir attrapé par la queue" ("Wie man Wünsche beim Schwanz packt") und Alain Resnais' Dokumentarfilm über Auschwitz ("Nacht und Nebel").

Ähnlich wie die eigenen Gedichte seien seine Übersetzungen "Begegnungen", schrieb Celan in einem Brief an Hans Bender vom 10. Februar 1961: "[...] auch hier bin ich mit meinem Dasein zur Sprache gegangen". Berücksichtigt man ferner die große Anzahl der noch im Nachlass befindlichen, bisher noch nicht veröffentlichten Übersetzungen, dann sind mehr als die Hälfte aller Texte Celans von dieser Auseinandersetzung mit nicht-deutschsprachiger Literatur bestimmt, deren Spuren in seinem dichterischen Werk allenthalben erkennbar sind, als Zitat oder als eigenständige Reflexion über das Übersetzen. Jürgen Lehmann und Christine Ivanovic haben zu Recht darauf verwiesen, dass "Übersetzung, Dichtung und theoretische Äußerung über Literatur [...] immer wieder intensiv aufeinander [verweisen]; eine derart enge Verschmelzung der genannten Bereiche ist in der deutschsprachigen Literatur nach 1945 nur selten anzutreffen". Vor allem die Zeit Ende der fünfziger bis Anfang der sechziger Jahre ist hinsichtlich Intensität und Vielfalt der Gegenstände als Höhepunkt von Celans übersetzerischer Tätigkeit anzusehen. Das Übersetzen ist hier besonders eng an die poetischen und poetologischen Arbeiten gebunden, an die Bände "Sprachgitter" und "Die Niemandsrose" sowie an die beiden Literaturpreisreden. Während dieser Zeit entstehen Übersetzungen moderner zeitgenössischer Lyrik bzw. solcher Autoren, die wie Welemir Wladimirowitsch Chlebnikow und Giuseppe Ungaretti dieser Moderne nahe stehen. Dominierend ist die übersetzerische Auseinandersetzung mit modernen französischen Autoren um die Zeitschrift "L'Ephémère", vor allem mit dem Werk von André du Bouchet und Jacques Dupin.

Führt man sich insgesamt vor Augen, was Celan übertragen hat, so entsteht, wie Axel Gellhaus treffend bemerkt hat, "eine biographische Spur, ein Lebenskonzept, zahlreiche Begegnungen in der Spannung von Fremdheit und Nähe, Wahlverwandtschaften zeichnen sich ab". Durs Grünbein hat in Bezug auf Celans Übersetzungen einmal zu Recht angemerkt, dass "Celan niemals irgendwen, und schon gar nicht irgendwie übersetzt [hat]. Er war immerfort auf der Suche nach komplementären Stimmen. Der Leser spürt, wie sehr es ihm darum ging, sich selber näher zu kommen im Dialog mit dem Anderen. Die fremde Zunge, das abweichende Metrum, das ganz andere lyrische Weltbild waren ihm ebenso viele Zugangswege und Türen zum eigenen Wortraum". Celans Übersetzungen "schließen das Original in die eigene Stimme ein wie ins persönliche Gebet, ohne die Integrität desselben je zu verletzen. Sie sind sein bescheidenes Echo. In ihrer Zurückhaltung bewahren sie, Zeile für Zeile, den ursprünglichen Eigensinn". Aufschlussreich ist der Satz - bezeichnend für seine Methode arbeitsteiliger Empathie -, mit dem Celan seinen Rundfunk-Essay über Ossip Mandel'stam einleitete, indem er einen Zeugen aufrief, Nikolaj Gumiljow, einen früheren Weggefährten des Dichters: "Diese Gedichte haben Gewicht. Man möchte sie selbst geschrieben haben". Es ist dies das uneingeschränkte Bekenntnis zum Anderen, in dem das Eigene erkannt wird. In diesem Sinne sind Celans Übersetzungen zu verstehen. Er selbst hat nicht versäumt, jene, die ihm besonders am Herzen lagen, zu kommentieren. Den beigefügten Notizen, zumeist portraithafter Art, kann man entnehmen, worauf es ihm dabei ankam. Nicht die Aufbereitung lyrischer Prunkstücke, ihre Überführung ins Museum der modernen Poesie war seine Anliegen, sondern Geistesgegenwart, erneuerte Präsenz des Vertrauten.

"Das Gedicht", sagt Ossip Mandel'stam, "läßt sich mit der ägyptischen Totenbarke vergleichen. In dieser Barke ist alles für das Leben bereitgelegt, nichts wurde vergessen". Jeder Versuch, jene Barke zu rekonstruieren, musste schief gehen. Beim Übersetzen in fremde Gewässer verlor sie noch jedes Mal einen Teil ihrer ursprünglichen Fracht. Was das andere Ufer erreicht, hat sich unterwegs verwandelt. Gelangt es an die andere Seite überhaupt noch als das Fremde, Andere? Oder ist es dem Eigenen anverwandelt, täuschend ähnlich geworden? Gerade dies ist nach Ansicht Benjamins die "Aufgabe des Übersetzers": dem Anderen sein Eigenes zu bewahren, es sichtbar zu halten, da sich sonst keine Begegnung vollzieht, sondern simple Aneignung. Zu Unrecht ist Celan wiederholt der Vorwurf gemacht worden, er "celanisiere" fremde Texte durch seine Übersetzungen. Vielmehr ist sich Celan stets des - um mit Heidegger zu sprechen - Abgrunds zwischen den Sprachen bewusst, der "Zeitenschrunde", die nicht nur auf jene abstrakte hermeneutische Differenz zwischen den verschiedenen Sprachen und dem je unterschiedlichen Sprachdenken verweist, sondern auch auf den Abgrund, der jedes Mal wieder überwunden werden musste, wenn Celan deutschen Boden betrat. Celan hat die Kritik an seiner angeblich zu "celanischen" Manier nicht leicht genommen, sondern als kulturpolitisches Phänomen im Nachkriegsdeutschland verstanden und sich selbst einmal in der Nähe zu Hölderlin gesehen, als er sich notierte: "Am Mandelstamm zackernd, aufs neue". Die Kritik hatte Hölderlin als Übersetzer zu dessen Lebzeiten mit Hohn und Spott bedacht, deren beredter Ausdruck das "Zackern am Pindar" war.

Dem ist jedoch die Einschätzung Vladimir Markovs entgegenzuhalten, der in seiner Rezension der Celan'schen Übersetzungen Mandel'stams bemerkte: "Celan ist wie ein großer Pianist, der einen großen Komponisten spielt: irgendwo nimmt er eine falsche Note, irgendwo setzt er einen ganz individuellen Akzent; aber er spielt wunderbar und unvergeßlich. Bleibt nur zu träumen, daß er weitere russische Dichter übersetzt". In einem Brief an Werner Weber vom 26. März 1960, der Celans einzige theoretische Reflexion über eine Poetologie des Übersetzens darstellt und gewissermaßen als Supplement seiner berühmten Büchner-Preis-Rede "Der Meridian" zu lesen ist, schreibt Celan, indem er vom Axiom, Gedichte seien Geschenke, ausgeht: "Denn die Sprachen, so sehr sie einander zu entsprechen scheinen, sind verschieden - geschieden durch Abgründe. [...] das Gedicht, das übertragene Gedicht muß, wenn es in der zweiten Sprache noch einmal dasein will, dieses Anders- und Verschiedenseins, dieses Geschiedenseins eingedenk bleiben".

Der Komplex der Übersetzungen stand lange Zeit im Schatten der Beschäftigung mit dem poetischen Werk Celans, war vor allem analytisch nicht angemessen vertreten. Sieht man von der Monografie Leonard Olschners einmal ab (Leonard M. Olschner: Der feste Buchstab. Erläuterungen zu Paul Celans Gedichtübertragungen, Göttingen 1985), fehlten Modelle für eine kritische Edition der Genese literarischer Übersetzungen ebenso wie ausführliche Analysen der Übersetzungsverfahren Celans. Das änderte sich mit dem Jahr 1997, als gleichzeitig in Marbach die Ausstellung "Fremde Nähe. Celan als Übersetzer" stattfand (mit dem großartigen von Axel Gellhaus herausgegebenen Katalog) und der von Jürgen Lehmann und Christine Ivanovic veranstaltete Sammelband "Stationen. Kontinuität und Entwicklung in Paul Celans Übersetzungswerk" (Heidelberg 1997) erschien, der das breite Spektrum von Celans Übertragungen hinsichtlich der großen Zahl der Literaturen ebenso wie der Vielfalt und Differenziertheit der übersetzerischen Verfahren vorstellte.

An diese wegweisenden Ergebnisse knüpfen auch die jüngsten Arbeiten zu Celans Übersetzungen an. So geht Ute Harbusch in ihrer Studie "Gegenübersetzungen" von der Annahme aus, Paul Celans Übersetzungen böten auch einen neuen Weg zum Verständnis seiner Poetik. Im Rahmen ihrer Lektüre von Celans Übertragungen französischer Symbolisten wie Charles Baudelaire, Stéphane Mallarmé, Arthur Rimbaud oder Paul Valéry aus den Jahren 1957 bis 1960 macht sie vor allem die poetologische Dimension von Celans Beschäftigung mit jenen Vertretern der modernen Lyrik sichtbar. Es ist durchaus bezeichnend, dass diese Arbeiten im Vorfeld des "Meridian" zu situieren sind und er gerade während dieser Zeit verstärkt auch dichtungstheoretische Überlegungen anstellt. Bereits 1958 finden sich aber auch Notate, die Differenzen markieren.

So antwortet Celan auf eine Umfrage der Librairie Flinker in Paris: "Die deutsche Lyrik geht, glaube ich, andere Wege als die französische. Düsterstes im Gedächtnis, Fragwürdigstes um sich her, kann sie, bei aller Vergegenwärtigung der Tradition, in der sie steht, nicht mehr die Sprache sprechen, die manches geneigte Ohr immer noch von ihr zu erwarten scheint. Ihre Sprache ist nüchterner, faktischer geworden, sie mißtraut dem 'Schönen', sie versucht, wahr zu sein".

Diese Überlegungen stehen im Kontext einer grundsätzlichen "In-Frage-Stellung der Kunst", die Celan im "Meridian" unter Berufung auf Georg Büchner für die Dichtung einfordert. Damit bewegt sich Celan im Raum des Paradoxen, unternimmt er doch einerseits übersetzend den Nachvollzug einer lyrischen Sprache der Vergangenheit (hier die symbolistischer Gedichte), der er sich selbst verpflichtet weiß, um sich andererseits gleich wieder von der Lebensabgewandtheit und Artifizialität jener Sprache abzugrenzen, derer er sich nach der "Zeitenschrunde" der Shoah nicht länger bedienen kann. Ute Harbusch trägt diesen gegenstrebigen Tendenzen in Celans Auseinandersetzung mit den französischen Symbolisten dadurch Rechnung, dass sie seine Übertragungen als "Gegenübersetzungen" in des Wortes doppelter Bedeutung bezeichnet: "Gegenüber-Setzungen" und "Gegen-Übersetzungen": "Sie setzen sich in Beziehung zum Gegenüber des Ausgangstextes und sie setzen diesem einen neuen, anderen sprachlichen Gestus entgegen". Denn während sich der literarische Symbolismus "durch die Flucht aus der Wirklichkeit, das Ideal einer 'reinen Poesie' auszeichnet, beschreibt Celan die Aufgabe des Gedichts als eine Suche nach Wirklichkeit; während der Symbolismus eine unpersönliche Sprache anstrebt und schließlich, mit Mallarmé, den Tod des Autors ausruft, besteht Celan auf einer Vorstellung von Dichtung als der 'gestaltgewordene[n] Sprache eines Einzelnen', als dem 'schicksalhaft Einmalige[n] der Sprache'".

Korrespondierend zu Celans wiederholten Feststellungen im Umkreis des "Meridian", seine "In-Frage-Stellung" der Kunst sei "zumindest, vielleicht: metaästhetisch" liegt es nahe, Celans Gedichte ebenso wie seine Übertragungen mit Harbusch als Metapoesie zu lesen. In diesem Zusammenhang erinnert die Verfasserin daran, die Kontexte der oftmals höchst eigenwillig verlaufenden Rezeption dieser Texte durch Celan mitzuberücksichtigen, da sie häufig für die Art der poetischen Qualität der Übersetzungen verantwortlich sind. So ist beispielsweise die im Juli 1957 innerhalb kurzer Zeit verfasste Übersetzung von Rimbauds "Le bateau ivre" als deutliche Abgrenzung von den zahlreichen früheren deutschen Übersetzungen dieses Textes zu lesen. Celan bezeichnet seine Version in einem Brief an Petre Solomon vom 17. Februar 1958 dementsprechend auch als "die erste echte deutsche Fassung". Und auch Celans Übertragung von Valérys Langgedicht "La Jeune Parque" ist in ihrer spezifischen Struktur, ihrer reflektierten Brechung und Dekonstruktion der Vorlage nur aus der invertierenden Auseinandersetzung mit den ästhetischen Positionen Valérys einerseits und den Valéry-Übertragungen Rilkes (und damit auch als Re-Vision der eigenen frühen Gedichte) adäquat zu erfassen. Übersetzung wird, wie bereits Bernhard Böschenstein in diesem Zusammenhang treffend bemerkt hat, zum "Gegengesang", zur Par-Odie.

Ähnlich wie Ute Harbusch liest auch Markus May in seinen Untersuchungen zu Paul Celans Übersetzungen amerikanischer Lyrik diese als integralen Bestandteil von Celans Werkzusammenhang. Während für Celans Dichtung das (in Anlehnung an Martin Bubers und Franz Rosenzweigs Bibelübersetzung formulierte) poetologische Grundprinzip des Dialogischen einige Aufmerksamkeit gefunden hat, versucht May Aspekte einer dialogischen Poetik des Übersetzens bei Celan anhand eines bisher von der Celan-Forschung eher vernachlässigten Teilkorpus' zu rekonstruieren: der Übersetzung amerikanischer Lyrik. Im ausgesprochen lesenswerten ersten Teil der Arbeit rückt May die für Celans Übertragungen charakteristischen Phänomene einer - bei Michail M. Bachtin für den Roman formulierten - spezifischen Hybridisierung und Rekontextualisierung ins Zentrum der Betrachtung. Beide gewähren in ihren jeweiligen textuellen Ausprägungen Aufschluss über die besondere Art der Auseinandersetzung Celans mit den von ihm übertragenen Autoren und Werken. Im zweiten Teil seiner Studie beschäftigt sich May mit Celans Versuchen einer übersetzerischen Annäherung an Gedichte Marianne Moores, Emily Dickinsons und Robert Frosts, die ab Anfang der fünfziger Jahre ins Blickfeld Celans geraten, wobei Dickinson "quasi das nachträgliche Verbindungsglied zwischen amerikanischen Zeitgenossen und englischen Barockdichtern her[stellt], da ihre Dichtung, die unleugbar aus dem 19. Jahrhundert voraus in die Moderne weist, neben anderem auch stark geprägt ist von Shakespeare und den 'Metaphysical Poets'".

War Celan, wie Harbuschs und Mays Studien noch einmal unterstreichen, ein vieler Sprachen mächtiger, aber selbst konstant in der deutschen Sprache schreibender Dichter und Übersetzer, so wurden auch seine eigenen Gedichte (teilweise noch zu seinen Lebzeiten, vor allem aber seit seinem Tod) in zahlreiche andere Sprachen übertragen. In der jüngsten Vergangenheit hat sich vor allem der von Alfred Bodenheimer und Shimon Sandbank herausgegebene Sammelband "Poetik der Transformation. Paul Celan - Übersetzer und übersetzt" (Tübingen 1999) diesem Komplex gewidmet. Der titelgebende Begriff einer 'Poetik der Transformation' konstituiert sich gerade im Wissen um das Eingebundensein und die Anlehnung alles Sprechens an kulturelle Vor- und Kontexte, die Differenz zur anderen lässt erst ein Bewusstsein der eigenen Sprache entstehen.

An diese Doppelung von Celans lyrischem Werk als Gegenstand von Interpretation und Übersetzung knüpft auch Jadwiga Kita-Hubers Untersuchung "Verdichtete Sprachlandschaften" an, die ein plastisches Bild der Lyrik Celans zeichnet und sich den Problemen widmet, was seine polnischen Übersetzer bei der Übertragung scheinbar unübertragbarer Texte leisten mussten. Ihre Studie kommentiert und interpretiert in einem ersten Schritt Gedichte Celans aus allen drei Schaffensperioden. Zweitens ergründet sie die ästhetischen Werte der polnischen Übersetzungen und versucht Rückschlüsse auf spezifische sprachliche Möglichkeiten des Deutschen und Polnischen zu ziehen, wobei es sich nicht um die Bewertung der Gedichte und ihrer Übertragung ins Polnische handelt, sondern primär um die "Beschreibung allgemeiner und besonderer Prozesse, die das literarische Übersetzen begleiten". Schließlich werden in einem dritten Schritt die Tendenzen der Celan-Rezeption in Polen beschrieben und die Frage beantwortet, wie sich Celan und seine Texte "in das hiesige System literarischer Bezüge" einordnen lassen.

Der Studie liegt die Annahme zugrunde, dass die Lektüre der Gedichte Celans "schon immer - metaphorisch gesprochen - eine Art Übersetzung ist". Daran knüpft die Verfasserin eine zweite These, derzufolge "gerade die übersetzungsrelevante Analyse der Gedichte Celans" es erlaube, "einen angemessenen Zugang zu diesen Gedichten und - in weiterer Folge - zu ihren Übersetzungen zu finden". Die semantisch dichten und präzisen Deutungen der Texte Celans beleuchten - der wiederholt reklamierten Prämisse Jean Bollacks folgend - auch den biografischen Kontext und die Lebenstexturen des Dichters, ohne den - so die zweifellos zutreffende Annahme Kita-Hubers - vor allem die Texte der letzten Lebensphase Celans nicht mehr gelesen werden könnten. Aber auch Celans verstreute poetologische Äußerungen, Elemente der jüdischen Tradition, Medizin und Geologie werden deutend herangezogen und verlangen nach Ansicht der Verfasserin "wissende Aufmerksamkeit sowohl von Lesern als auch Übersetzern, die sich mit Paul Celan beschäftigen". Parallel zur Interpretation der Gedichte erklärt und bewertet Jadwiga Kita-Huber die wichtigsten Übersetzungen ins Polnische und ihre Konsequenzen für die dortige Celan-Rezeption.

Die hier vorgestellten Arbeiten zum Übersetzer Celan führen in aller Deutlichkeit vor, dass es sich bei diesen Gedichten um ebenso viel- wie gegenstimmige Texträume handelt. Celans Existenz in der Vielsprachigkeit wie seine Bedeutung für andere Sprach- und Kulturgebiete, seine innovative Sprachschöpfung, die das Deutsch der Nachkriegszeit wesentlich neu gestaltet hat, lässt sich in der Auseinandersetzung mit seinem übersetzerischen und übersetzten Werk gut beobachten.

Celans literarisches Werk demonstriert eine in der deutschsprachigen Literatur nach 1945 fast einmalige Verschmelzung von Dichtung, Literaturtheorie und Übersetzung. Das Pariser Exil eines Deutschsprechenden konvergierte mit dem inhärenten Fremdsein des Übersetzers. Da er wenige verwandte Stimmen aus Deutschland selbst vernahm, trug Celan seiner Muttersprache die Stimmen des Französischen, des Russischen, des Englischen, des Hebräischen, des Italienischen usw. zu. An Celans Übersetzungen lässt sich erkennen, dass der von Derrida beobachtete Prozess der Übersetzung selbst die Modifikation der betroffenen sprachlichen Gewebe vorantreibt, womit der de-/konstruktive Charakter der Übersetzungsbewegung exponiert wird. Celans Übersetzungen lösen in ein und demselben Text-Ereignis bestehende Texturen auf und schaffen neue; sie konstruieren und destruieren gleichermaßen. Vor allem in der Einlassung auf Ossip Mandel'stam kommt das zum Ausdruck, was anspruchsvolles Übersetzen für Celan bis zum Ende seines Lebens bedeutete: das fremd(sprachig)e Gedicht als eine ins Ungewisse hinein aufgegebene "Flaschenpost an Herzland" anlanden zu lassen, mit ihm ins "Geheimnis der Begegnung" einzutreten und durch diesen "Fergendienst" (Heidegger) des 'Über-setzens' das Paradoxon der "Fremden Nähe" zu gewährleisten.


Titelbild

Markus May: "Ein Klaffen, das mich sichtbar macht". Untersuchungen zu Paul Celans Übersetzungen amerikanischer Lyrik.
Universitätsverlag Winter, Heidelberg 2004.
289 Seiten, 36,00 EUR.
ISBN-10: 382531331X

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Jadwiga Kita-Huber: Verdichtete Sprachlandschaften. Paul Celans lyrisches Werk als Gegenstand von Interpretation und Übersetzung.
Universitätsverlag Winter, Heidelberg 2004.
440 Seiten, 58,00 EUR.
ISBN-10: 3825316092

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Titelbild

Ute Harbusch: Gegenübersetzungen. Paul Celans Übertragungen französischer Symbolisten.
Wallstein Verlag, Göttingen 2005.
522 Seiten, 64,00 EUR.
ISBN-10: 3892448817

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