Was wäre der Senegal ohne Senghor?

János Riesz über die wechselvolle Geschichte Senegals und seines ersten Staatspräsidenten

Von Ursula HomannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ursula Homann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Léopold Sédar Senghor ist einer der bekanntesten Afrikaner. Er war Politiker, Dichter und Philosoph. Seine Lebenszeit von 1906 bis 2001 umspannt fast das ganze 20. Jahrhundert. Zahlreiche Ehrungen sind ihm im Laufe seines Lebens zuteil geworden, sowohl als Dichter als auch als Staatsmann. Er kämpfte gegen die kulturelle Fremdbestimmung Afrikas, stritt für die Wiedergewinnung der bedrohten Afrikanität und bemühte sich um einen besseren Status für den Senegal und ganz Westafrika. Sein Ideal war ein westafrikanischer, föderaler Staat. Doch als er sah, dass dieses Projekt am Widerstand Frankreichs wie der afrikanischen Nachbarkolonien scheiterte, fügte er sich in das nachkoloniale Projekt einer weltumspannenden kulturellen, auf der französischen Sprache gründenden "Frankophonie". Die historischen Erfahrungen der dreißiger und vierziger Jahre des vorigen Jahrhunderts hatten sein Weltverständnis geprägt und seinen Blick für die globalen geschichtlichen Zusammenhänge geschärft.

Als Staatsoberhaupt hat er den Senegal zwei Jahrzehnte lang, von 1960 bis 1980, regiert und das Land politisch und wirtschaftlich stabilisiert. Ohne gewaltsamen Bruch übergab er das Amt des Staatspräsidenten an seinen Nachfolger.

Senghor war Afrikaner und Franzose zugleich und zählte zu den großen Bewunderern der französischen Kultur, auch wenn er, wenn es sein musste, mit den Franzosen, wie auch mit den Deutschen, hart ins Gericht gegangen ist. Aber er fühlte sich nicht nur der französischen Zivilisation und der afrikanischen Kultur verbunden, sondern auch dem christlichen Glauben.

János Riesz - er lehrte viele Jahre "Afroromanistik" an der Universität Bayreuth - beleuchtet in seinem Buch "Léopold Sédar Senghor und der afrikanische Aufbruch im 20. Jahrhundet" Senghors Rolle als Mittler zwischen einzelnen Kulturen und Völkern und schließt damit eine große Lücke in der Geschichtsschreibung. Stammt doch das letzte und bisher einzige deutschsprachige Buch über Senghor aus dem Jahr 1968. In jenem Jahr hatte Senghor den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels erhalten. In diesem Jahr jährt sich sein Geburtstag zum hundertsten Mal. Auch das ist zweifellos ein wichtiger Anlass, sich mit der Lebensgeschichte des afrikanischen Politikers und Dichters zu befassen. Riesz' Buch ist allerdings weder eine umfassende Biografie Senghors noch eine pointierte wissenschaftliche Studie. Vielmehr ging es dem Autor darum, am Beispiel Senghors dem Prozess der Dekolonisation und dem Weg zur Unabhängigkeit der ehemaligen Kolonien mitsamt der schwierigen Demokratisierung der Bevölkerung in der ältesten französischen Kolonie in Afrika mit all seinen historischen und soziologischen Hintergründen nachzuspüren.

Er untersucht Widersprüche und Brüche im französischen Kolonialsystem, die Bedeutung des Islams und der Bewegung der Négritude im Senegal, die Entwicklung der afrikanischen Gesellschaft während des 20. Jahrhunderts sowie die Folgen der beiden Weltkriege für Westafrika, die vor allem darin zu sehen seien, dass der Mythos des überlegenen Europas allmählich zerbrach und die Emanzipationsbemühungen der Afrikaner einen gewaltigen Aufschwung erfuhren.

All diese Episoden in der Geschichte Senegals lassen sich am Lebenslauf Senghors sehr gut verfolgen. Riesz rückt daher immer wieder Momente und Phasen des "Aufbruchs" im Leben und schriftstellerischen Werk Senghors in Verbindung mit seiner Epoche in den Blick. Er geht dabei auch kurz auf Senghors Schulzeit im Senegal und auf seine Studienjahre in Paris ein.

Im Oktober 1928, schreibt Riesz, kommt der damals zwanzigjährige Léopold Sédar Senghor zum Studium nach Paris. Von 1935 bis 1938 unterrichtet er an einem Gymnasium in Tours. "1984 wird Senghor als erster Afrikaner in die 'Académie Française' aufgenommen und in die Reihe der 40 'Unsterblichen' eingereiht. Die Laudatio hält kein Geringerer als der ehemalige Ministerpräsident Edgar Faure, in dessen Regierung (1955-1956) Senghor Staatssekretär gewesen ist."

Senghor stand schon früh im Scheinwerferlicht der Öffentlichkeit und hielt ab 1937 weithin beachtete Reden. Viele trauten ihm schon zu jener Zeit zu, in hohe und höchste Positionen politischer Verantwortung aufzusteigen. Detailliert verfolgt der Autor Senghors neuen Aufbruch und Weg in die Politik nach dem Zweiten Weltkrieg. 1951 wird er Abgeordneter in der französischen Nationalversammlung, gründet seine eigene Partei und bestimmt die Geschicke des Senegals über dreißig Jahre an führender Stelle mit. In der selben Zeit gelangte er auch als Dichter zu Weltruhm, insbesondere als Lyriker. Er selbst sagte im hohen Alter: "Was von mir bleiben wird, sind meine Gedichte."

Senghor hatte überdies einen festen Bezug zur europäischen Kultur und war besonders fasziniert vom deutschen Geistesleben, von Goethe und den Romantikern, der deutschen Musik, der deutschen Philosophie, von der deutschen Afrikawissenschaft im Allgemeinen und von Leo Frobenius im Besondern. Aber er war auch entsetzt über die Verbrechen der Nationalsozialisten und der Wehrmacht und hat über seine Erfahrungen und über das Leid, das Deutsche ihm und den Seinen im deutschen Kriegsgefangenenlager zugefügt hatten, Gedichte geschrieben, die im Lyrikband "Die schwarzen Hostien" nachzulesen sind. Von der Erlangung der politischen Unabhängigkeit des Senegals 1960 und dem Ende des afrikanische Aufbruchs handelt das letzte Kapitel.

Heute nimmt der Senegal dank Senghor eine Sonderstellung ein, nicht zuletzt auf dem Bildungssektor, in der Belletristik und im Sachbuchbereich, meint der Autor abschließend und räumt gleichzeitig ein, dass es den vielen arbeitslosen Jugendlichen in den Städten und den Massen der senegalesischen Landbevölkerung wohl wenig hilft, wenn die französischsprachige Literatur des Landes auf dem afrikanischen Kontinent, in Europa und in Amerika geschätzt werde. Doch man stelle sich das Gegenteil vor, gibt er zu bedenken: Was wäre der Senegal ohne Senghor und ohne all seine anderen Dichter wie Birago Diop und Ousmane Sembène, Mariama Bá und Aminata Fall. Natürlich müsse Afrika, wie auch der aus Burkina Faso stammende Historiker Joseph Ki-Zerbo und andere Kritiker Senghors gemeint haben, seine Identität bewahren und von einem Objekt zu einem Subjekt der Geschichte werden, was indes ohne die Bewahrung und Entwicklung der afrikanischen Sprachen nicht zu erreichen sei. Die koloniale Gesellschaft habe sich zwar zurückgezogen, aber sie habe ihre Schule und ihre Sprache als "Bombe mit Zeitzünder" hinterlassen. Erst die Zukunft werde erweisen, ob es gelingt, diese Bombe zu entschärfen und in eine "Trägerrakete für eine neue Gesellschaft" zu verwandeln. Afrika dürfe nicht von außen entwickelt werden, sondern müsse sich selbst entwickeln. Die dringend notwendige Alphabetisierung der Massen könne nur in den afrikanischen Sprachen erfolgen. Nur so könne ihr eine Teilhabe am politischen Handeln ermöglicht werden. Ähnliches habe Senghor schon 1937 gesagt, fügt der Autor hinzu. Vielleicht müsse man die Zukunft Afrikas in größeren Zeiträumen denken. "Wie der Kolonialismus seine Zeit hatte, so wird vielleicht auch die neokoloniale Abhängigkeit nicht ewig dauern."

Der schwarzweiß bebilderte Band ist informativ und spannend, fakten- und figurenreich. Ein Sach- und Personenregister hätte ihm daher wohl angestanden. Dann wäre der Anhang, der immerhin eine gute Auswahlbibliografie und eine Zeittafel aufweist, perfekt gewesen.


Titelbild

János Riesz: Léopold Sédar Senghor und der afrikanische Aufbruch im 20. Jahrhundert.
Peter Hammer Verlag, wuppertal 2006.
350 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-10: 3779500477

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch