Über das Genießen und Verändern

Was heute noch alles unter die Mütze des Herrn B. B. passt

Von Moritz MalschRSS-Newsfeed neuer Artikel von Moritz Malsch

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wieder ein Brecht-Jahr.Wieder viele Bücher, Hörbücher, Lesungen, Aufführungen über, von, mit und auf Brecht. Doch wie soll man einen ehren, der selbst die kritische Distanz zum Maßstab erhob? Dessen Episches Theater ein einziger Appell war, sich sein Misstrauen gegenüber der Autorität des Gezeigten zu bewahren? Bertolt Brecht wusste selbst, wie süchtig seine Gedichte machen, dass ganze Generationen junger und alter Lyriker an den Stichen seiner Pointen wie an der Fixernadel hängen würden, dass er, mithin, Gefahr lief, im Marx'schen Sinne für Opium erklärt zu werden und im einen oder anderen Teil Deutschlands unter das Betäubungsmittelgesetz zu fallen. De facto war er ja auch ein verbotener Autor in der Bundesrepublik der McCarthy-Ära, bis linke Sozialpädagogik- und Lehramts-Studenten in den 60er Jahren den Marsch durch die Institutionen antraten und schließlich ihre Schüler mit BB quälten, aus Rache, weil ihre eigenen Lehrer sie einst mit JWG, FS oder TF traktiert hatten. Aber das nur nebenbei. Es ist eine alte Geschichte, die Klassikerliebe, doch wem sie just passieret...

Erst vor acht Jahren war Brecht-Jahr, und in Berlin wurde seinerzeit alles von Brecht gespielt: Der Lindberghflug, Die Rundköpfe und die Spitzköpfe, sogar das böse Agitationsstück Die Maßnahme schaffte es auf eine große Bühne. Vielleicht deswegen, weil damals schon alles und fast zu viel über Brecht und die Frauen, Brecht und die Zigarren, Brecht und die CIA usw. gesagt wurde, ist es dieses Jahr ein wenig stiller um den anstehenden 50. Todestag - erfreulich wenige Brecht und...-Themen springen uns von den Litfasssäulen ins Auge. Dafür erschien im Transit-Verlag ein sehr schönes und glücklich machendes Buch, das alle geheilten Brecht-Junkies wieder anfixen kann: "O Chicago! O Widerspruch! - Hundert Gedichte auf Brecht". Der Titel ist eine Brücke zu Brechts eigenem 1951 erschienenen Band "Hundert Gedichte". Über das Unter-einen-Hut-Bringen der Gedichte in einer Anthologie ("in diesem Falle unter meine Mütze") schrieb Brecht an den Herausgeber des Bandes Wieland Herzfelde: "Es handelt sich nicht darum, den Dichter 'kennenzulernen', sondern die Welt und jene, mit denen zusammen er sie zu genießen und zu verändern sucht."

Und ganz in diesem Sinne geht es in O Chicago! O Widerspruch nicht nur um Weihrauch und Hagiografie, sondern um die Welt, die Brecht uns hinterlassen hat, im engeren Sinne: um den Krater, den sein Einschlag in die Welt verursacht hat. Den Krater, der heute mit blauen und roten Blumen bewachsen ist, ein Garten, durch den mancher Baal wandelt, mancher Möchtegern-Meckie meckert und sich mit großen Geistern über Bäume und anderen Kleister unterhält. Karen Leeder und Erdmut Wizisla haben 100 Gedichte aus 80 Jahren von 73 Autorinnen und Autoren ausgewählt - 14 davon sind neu für diese Sammlung entstanden - und in hinreichend offene und somit gut geeignete Kategorien zusammengefasst (Porträt des B.B.; Lebensreise meines Lehrers; Variationen auf Brechts Verse; Ein Blatt, baumlos; Frei nach B.B.; Brechts Tod; Brecht, deine Nachgeborenen).

In den Gedichten ist nicht nur vielfach der Widerhall von Brechts wunderbar pointierter Klarsprache zu hören, sondern diese setzen sich allesamt konkret mit Brecht oder seinen Texten auseinander. Besonders populär: Das Gespräch über Bäume, mal eskapistisch (Rose Ausländer: Wer mag leben / ohne den Trost der Bäume), mal in offener Kritik an Brecht (Günter Eich: Akazien sind soziologisch unerheblich) und mal ökobewegt (Walter Helmut Fritz: Inzwischen ist es fast / Zu einem Verbrechen geworden, / nicht über Bäume zu sprechen). Oft geht es um Brechts (Volker Braun: Wer wohnte unter dem dänischen Strohdach / [...] Hatte er nicht auch eine Köchin dabei / Mari Hold aus Augsburg?) und des Sozialismus' Widersprüchlichkeit (Volker Braun: Fragen eines regierenden Arbeiters: Wie viele von uns / Nur weil sie nichts zu melden hatten / Halten noch immer den Mund versteckt / wie ein Schamteil?) oder um die geografisch real existierende Gegenwart, die Seeräuber-Jenny-Träume verbietet (Elke Erb: Die Elbe ist ein Grenzfluß / [...] und kein Schiff / mit acht Segeln durchkreuzt meinen Traum).

Wie könnte es anders sein: Nicht alle Texte sind heute von mehr als historischem Interesse. Die Abschnitte über Brechts Tod und Nachruhm könnten noch gekürzt werden, haftet einigen wenigen Texten doch heute etwas Nierentisch-Patina an. (Wolf Biermann mit seiner schon damals großen Klappe bildet für diese Abschnitte einen positiven Kontrast). Mehr in Brechts Sinne dürfte die abschätzend-anerkennende Haltung von Günter Kunert (Aus schwarzen Wäldern kommend seinerzeit: / Ein Menschenfresser ohne Arg und Harm. / Viel Lust an Frauen. Und Genuß am Streit. / Verläßlich aber, daß es Gott erbarm.) und die kryptisch-dialektische Abseitigkeit von Heiner Müller sein (Wenn die Helle sagt, ich bin die Finsternis / Hat sie die Wahrheit gesagt).

Besonders dann, wenn man die deutschen und die von Iain Galbraith etwas pathetisch übersetzten, ursprünglich englischsprachigen Gedichte miteinander vergleicht, merkt man, wie sehr der Tonfall der gesamten deutschen Lyrik von Brecht wie von wenigen anderen geprägt wurde. Da ist zum Beispiel das Lakonische, für das in dieser Sammlung Rainer Kirsch steht (vertreten durch das Gedicht "Jahwe und Keuner"): "Gott lenkt. / h k denkt." lautet der gesamte Text.

Zu guter Letzt: Ein kaum salbaderndes Nachwort, das auf wenigen Seiten einen anregenden Durchrausch durchs Buch schafft, Auswahlkriterien plausibel macht, Erfahrungen berichtet, ohne alle Fragen beantworten zu wollen.

Und was lernen wir daraus? "Und der Mond von Alabama / war noch lange nachher klar" (Jürgen Theobaldy). Brechts Mütze wird weiter getragen. Ein Buch, in dem Brecht vielfach verehrt, geliebt und auch um ihn geweint, in dem der Schönheit seiner Gedichte gehuldigt wird, und in dem dem Meister und seiner Verführungskunst aber auch häufig ein freundschaftliches Misstrauen entgegenschlägt. Gut gemacht.


Titelbild

Karen Leeder / Erdmut Wizisla (Hg.): O Chicago! O Widerspruch. Hundert Gedichte auf Brecht.
Transit Buchverlag, Berlin 2006.
160 Seiten, 17,80 EUR.
ISBN-10: 388747211X

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