Kein europäisches Reifezeugnis für Frankreich

Markus C. Kerbers verspätete Polemik gegen die deutsch-französische Achse

Von Roman LuckscheiterRSS-Newsfeed neuer Artikel von Roman Luckscheiter

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das Kurioseste dieses an sich schon kuriosen Buchs ist sein Beipackzettel. Der Autor erklärt darin, warum seine "deutschen Anmerkungen zur französischen Frage", die aus den neunziger Jahren stammen, erst 2006 erscheinen konnten. 1999 sei der Vertrag von Siegfried Unseld für den Suhrkamp-Verlag unterzeichnet worden, doch dann sei das Manuskript liegengeblieben, bis Unselds Nachfolgerin Berkewicz sich 2004 explizit weigerte, den Band, der überwiegend aus überarbeiteten Vorträgen und Essays, darunter für den "Merkur", besteht, zu drucken.

An vielen Stellen, so offenbar die Begründung der Verlagsleitung, sei er "überzogen polemisch und einseitig" und verletze die "Ehre des französischen Volkes". Erst nach einem Gerichtsbeschluss kam Suhrkamp nun doch noch seiner eingegangenen Verpflichtung nach. Markus C. Kerber, Professor für Wirtschafts- und Finanzpolitik in Berlin, zeigt sich schon auf dieser juristischen Ebene kampfeslustig und kündigt in seinem "Nota bene" zugleich an, künftig "erneut seine Beobachtungen zu Frankreich der Öffentlichkeit in Buchform kundzutun".

Dafür muss er sich dann aber doch einiges Neues einfallen lassen. Denn schon die vorliegenden rund 200 Seiten weisen erhebliche Redundanzen auf, wenngleich ihnen nicht eine belebende Verve abgesprochen werden kann. Der Autor legt Wert auf die Feststellung, dass er seinen Beitrag zur Landeskunde aufgrund vielfacher Erfahrungen als Berater in deutsch-französischen Kooperationen verfasst hat. Allzu konkret sind diese jedoch nicht eingeflossen. Vielmehr scheinen sie immer wieder für die pompöse Generalabrechnung verallgemeinernd hochgekocht worden zu sein, in deren Zentrum die "Pariser Oligarchie" steht. In vielen Anekdoten aus dem politischen Betrieb Frankreichs und ebenso vielen Versuchen einer Mentalitätsbestimmung klingt allzu Bekanntes, Klischeehaftes durch. Originell ist der Vorschlag, den wie auch immer zu fassenden Geist Frankreichs nicht mit Descartes, sondern mit Molière in Beziehung zu bringen, also nicht mit philosophischer Klarheit, sondern mit Hofstaat, "Unaufrichtigkeit als Regel für gutes Benehmen" und mit "unüberbietbarer Selbstzufriedenheit". An solchen Beleidigungen entwickelt Kerber eine rechte Lust, und der Leser fühlt sich davon streckenweise belustigt und gut unterhalten. Fühlt er sich aber auch informiert?

Kerbers "Anmerkungen" wollen französische Fassaden brechen. "Fraternité" sei bloß ein rhetorischer Trick, tatsächlich aber gehöre zum französischen Freundesbegriff, zumindet was die ständig zitierte "Pariser Oligarchie" angeht, der Verrat. "Erst dort, wo die Pariser Intellektualität aufhört, fängt die Wahrhaftigkeit an", formuliert der Autor, der im nächsten Streich genüsslich die Kulturikone André Malraux mit den herzerfrischenden Worten demontiert, er sei in seiner Selbstgewissheit "unerträglich" gewesen. Das alles wäre insgesamt kein allzu ernstzunehmender Beitrag zu den deutsch-französischen Beziehungen, wenn nicht auch konkrete politische Analysen mitgeliefert würden: So bekommt der Leser anhand einschlägiger Beispiele insbesondere aus der Amtszeit Mitterands Einblick in die "Instabilität" der V. Republik, in die prekären Vollmachten für den Chef der Exekutive und in eine Verfassung, in der eine "echte" Gewaltenteilung Kerber zufolge fehle. Dass Justiz, Geheimdienst und nicht zuletzt auch die Wirtschaft relativ unkontrolliert oder zumindest unsanktioniert ihrer Arbeit nachgehen können, zeigt der Autor nicht nur als französisches, sondern auch als europäisches Problem auf. Denn er hegt den Verdacht, dass diese spezifische politische Kultur unter der Amtszeit von Jacques Delors auch in Brüssel implementiert worden sei.

Die Franzosen haben demnach einen schlechten Einfluss auf Europa. Stärker formuliert: Die "französische Konzeption von Staat und Nation" sei "mit einem funktionierenden europäischen System unvereinbar." Und nochmal als rhetorische Frage: "Ist Frankreich überhaupt reif für Europa?" An solchen Stellen, die den Ton des Buchs tragen, wird deutlich, dass Polemiken immer nur auf den ersten Blick reizvoll sind. Denn intellektuell ansprechender wäre es gewesen, auch etwas über innerfranzösische Kritik am politischen Handeln zu erfahren, über Reformkräfte und konkret messbare Missstände. Die Frage des Untertitels "Europa ohne Frankreich?" wird immerhin mit einer ansprechenden These beantwortet. Europa könne sich nämlich, so der Finanzwissenschaftler, als eine Art Entwicklungshelfer für Frankreich erweisen; nicht Europa brauche also Frankreich, sondern Frankreich Europa. Damit geht die dringende (und in mancher Hinsicht vielleicht sogar bereits umgesetzte) Empfehlung einher, dass die deutsch-französische Achse zerbrochen werden müsse, damit sich Deutschland dem gesamten Europa zuwenden könne, das dann stark genug sei, um das anachronistische Frankreich zu absorbieren. Da kommt ein Verdacht auf: Kerber könnte sich an den europapolitischen Visionen gerächt haben, die in den neunziger Jahren aus Frankreich laut wurden, als das wiedervereinigte Deutschland Sorgen bereitete. Damals hießen die Einlassungen der von Kerber so gehassten Intellektuellen aus Paris "Französische Anmerkungen zur deutschen Frage", denen der Autor einen "hochtrabenden" Gestus bescheinigt. Nun liegt eine mindestens ebenbürtige Abhandlung als rabiate Antwort aus Berlin vor.


Titelbild

Marcus C. Kerber: Europa ohne Frankreich? Deutsche Anmerkungen zur französischen Frage.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2006.
222 Seiten, 9,50 EUR.
ISBN-10: 3518121006

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