Die Pfeife als Mordwerkzeug

Vladimir Vertlib überzeugt wieder einmal mit drei Erzählungen aus dem jüdisch-europäisch-nationalsozialistischen Europa

Von Georg PatzerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Georg Patzer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Eine ziemlich schräge Familie, von der dieser ehemalige Häftling erzählt. Der harmlose Familienvater Leopold Ableitinger, "zweiundvierzig Jahre alt, Angestellter in der Verrechnungsabteilung eines großen Gastronomiebetriebs in Salzburg, verheiratet, Vater zweier Kinder", macht an einem sonnigen Oktobernachmittag eine kleine Radtour. Als er sich an einer kleinen Hütte ausruht, kommt ein junger Mann vorbei und beleidigt ihn. Da nimmt er seine Pfeife und bohrt dem Mann das Mundstück ins Gehirn. (Nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis raucht er nur noch Zigarillos.)

Aber die Tat hat eine Vorgeschichte, die Ableitinger jetzt einem Journalisten erzählt. Sie beginnt mit dem Vater und der Großtante: "Siebenundzwanzig Huscher" hat der Vater, sagte die Großtante immer. Die "Huscher" hat er immer schon gehabt: Das Bier muss er immer mit der linken Hand einschenken, die Handtücher müssen immer ganz genau aufgehängt werden: "Das dritte Handtuch von links musste dreimal zusammengefaltet, das fünfte mit einer Wäscheklammer am rechten oberen Zipfel festgemacht sein. Das Wichtigste war, dass die blauen Streifen keine durchgehenden Linien bildeten." Alles muss seine Ordnung haben.

Seit zwölf Jahren ist der Krieg vorbei, noch stehen die Ruinen in Wien. Ratten und Menschen wohnen nebeneinander, der "Balkon" ist eigentlich ein zerbombtes Zimmer, in das es hineinregnet. In dieser Welt ist der vierzehnjährige Leopold Ableitinger ein Fremder. In seiner Familie, wo es normal ist, dass der Vater die Mutter schlägt, im Gymnasium, wo ihn die Lehrer und Schüler immer wieder daran erinnern, dass so ein Proletarier wie er nicht dazugehört. Sie lassen ihn nur in Ruhe, weil er ihnen als Klassenbester bei den Hausaufgaben hilft.

Nebenan wohnt ein laute Flüchtlingsfamilie aus Ungarn, "Altösterreicher" werden sie genannt: "Ein dreckiges Volk", meint der Vater. Aber da sagt die Großtante plötzlich: "Er muss es ja wissen." Und der Vater hält ihr den Mund zu. Was ist das für ein Geheimnis? Leo beginnt zu recherchieren, geht in die Schulbibliothek und in die Stadtbücherei, fragt nach der Verfolgung der Juden. Die Antwort: ein einhelliges, lautes Schweigen. Darüber spricht man nicht. Daran denke man nicht einmal. Dann fällt Leo ein, dass seine Großmutter seit vielen Jahren ein Tagebuch führt, heimlich nimmt er es und liest. Er entdeckt, dass der Vater bei Kriegsende beim Volkssturm gewesen ist, dass er ungarische Juden bewacht hat, die in eine Scheune getrieben und verbrannt wurden. Ist er ein Mörder? Leo liebt seinen Vater und will es nicht glauben. Und als die Großtante weiter stichelt, bringt er sie zum Schweigen.

In skurrilen und tragischen Geschichten kennt sich Vladimir Vertlib aus. In seinen Romanen "Das besondere Gedächtnis der Rosa Masur" und "Letzter Wunsch" erzählt er von den europäischen Juden, die sich in einer antisemitischen Welt nicht mehr auskannten, nur noch in Schlupfwinkeln überleben konnten, sich in grotesken, heimlichen Existenzen einrichten mussten, immer bedroht, selbst vom Nachbarn oder Freund, der zum Verräter und Mörder werden konnte. Jetzt erzählt Vertlib, der 1966 in St. Petersburg geboren wurde und mit seinen Eltern über Israel, die Vereinigten Staaten, Österreich, die Niederlande und Italien nach Österreich auswanderte, von den Tätern. Ihrem Charakter, ihren Neurosen spürt er nach, der Mischung aus Kultur und Grausamkeit, aus Normalität und Bestialität.

Wie in der Titelgeschichte "Mein erster Mörder" oder in "Ein schöner Bastard": Im Mittelpunkt steht eine deutsch-tschechische Familie. Der Vater, ein Deutscher mit jüdischen Vorfahren, ist mit einer Tschechin verheiratet. Während des Kriegs muss er sich verstecken, die Tochter Renate wird aus dem deutschen Gymnasium geworfen. Nach Kriegsende, als die Russen kommen, zerbricht die Familie, verliert Haus und Geschäft. Als der Vater nach Österreich ausreist, wird die Mutter als antikommunistische Spionin verdächtigt und kommt in ein Lager. Gerettet wird sie von einer kommunistischen Funktionärin, die später in den antisemitischen Schauprozessen Ende der vierziger Jahre verurteilt wird. Die Tochter reist viele Jahre später auch nach Österreich aus, wird aber 1968 als Tschechin ohne Visum von der Ausweisung bedroht. Ein alter Nazi hilft ihr schließlich.

So abstrus ist das Leben in Europa inzwischen geworden, Schwarz und Weiß sind sehr relative Begriffe. Vertlib beschreibt in seinen drei Erzählungen in eindringlichen Worten zerstörte Lebensläufe, sich selbst zerstörende Familien und Länder, die nur noch von Angst und Dummheit bestimmt werden. Seine Lebensgeschichten basieren auf authentischen Geschichten, kurz und knapp werden Schicksale deutlich, die die seltsamen Windungen und Wendungen, die sie vollführen müssen, oft gar nicht mehr reflektieren können, ihnen ausgeliefert sind.

Dabei ist und bleibt Vertlib auch immer witzig, sein Humor beherrscht alle Spielarten von kindlich begeistert bis böse und sarkastisch. Den Schlaf der Großtante beschreibt er als "ein polyphones Musikstück. Wenn sie einatmete, gab sie einen lang anhaltenden Schnarchlaut von sich, der zum Schluss etwa eine Oktave höher war als am Anfang. Ihr Bauch hob sich dabei um zehn Zentimeter. Das Bettgitter quietschte und der Rahmen knackte. Das Ausatmen ging in einen kurzen, explosiven Schnarchlaut über. Das Bett gab einen kurzen Schmerzensschrei von sich und verstummte. Lang, lang, kurz, kurz, Pause. Jede Nacht derselbe Rhythmus. Ich wartete eine der Pausen ab und zog Großtante die Decke weg. Das Schnarchen wurde zum Stakkato, das jäh abbrach, die Bettmusik zur Aufeinanderfolge sich überlagernder Dissonanzen." Als sie ihren Großneffen beschimpft als "Sohn eines versoffenen geilen Rüden und einer verblödeten läufigen Hündin", ist er erstaunt: "Großtantes Beschimpfungen fielen sonst knapper und phantasieloser aus."

Vertlib erzählt von normalen Menschen, die sich nur zufällig in einer Ausnahmesituation befinden. Ohne falsches Pathos erzählt er von Opfern der Zeit, ohne Heldenverehrung auch von Heldentaten, unaufgeregt, in einem lockeren Berichtstil. Von der Würde des Menschen und von seinen Abgründen erzählt er, von Bewährungsproben in schwierigen Zeiten, die ein Mensch bestehen oder in denen er untergehen kann. Er erteilt Lektionen in Moral, ohne jemals den Zeigefinger auch nur einen Millimeter zu heben. Vertlib ist ein Glücksfall für die deutsche Literatur, ein seltenes Exemplar von einem unauffälligen, sich nie aufdrängenden, locker und leise plaudernden Erzähler mit einem Thema und einer Moral, mit Spannung, Einfallsreichtum, Sinn für die Skurrilitäten des Lebens und viel Witz. Der gerade, weil er sich nie aufdrängt, umso eindringlicher und nachhaltiger wirkt. Ein Erzähler mit einer angenehmen, direkten, humorvollen und sehr selten einmal umständlichen Sprache.


Titelbild

Vladimir Vertlib: Mein erster Mörder. Lebensgeschichten.
Deuticke Verlag, Wien 2006.
256 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-10: 3552060316

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