Der Januskopf der Moderne

Dorothee Kimmich und Tobias Wilke führen in Aufbruchsstimmung und Dekadenz der Literatur um 1900 ein

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Immer mal wieder stolpert man in dem einen oder anderen Text darüber, dass von der Jahrhundertwende die Rede ist, manchmal auch ausdrücklich von der letzten Jahrhundertwende. Was gesagt wird, will dann jedoch oft so gar nicht zu den jüngst verstrichenen Jahren passen. Man stutzt kurz. Dann begreift man, gemeint ist die Zeit um 1900. So auch im Titel der von Dorothee Kimmich und Tobias Wilke herausgegebenen "Einführung in die Literatur der Jahrhundertwende", die sich mit der literarischen "Epochenschwelle" zwischen 1885 und 1910 befasst, also vom einsetzenden Niedergang des Realismus bis zum aufkommenden Expressionismus handelt. Ein viertel Jahrhundert mithin, von dem die AutorInnen zu recht sagen, dass es von den "verschiedensten Stile[n]" geprägt war.

Absicht der Einführung ist es, die "Austauschbeziehungen" der Literatur der "beginnenden Moderne" mit "anderen Diskursen" der Zeit deutlich werden zu lassen. Denn viele "literarische Phänomene und Entwicklungen" gerade der infragestehenden Epoche ließen sich erst im Kontext der "kulturhistorischen Konstellationen" "hinreichend einordnen und beschreiben", betonen die AutorInnen und folgen damit einem dem new historicismus verpflichtenden Ansatz.

Nachdem Kimmich und Wilke die "Konturen der Epoche" mit einigen Federstrichen umrissen und einen kurzen Forschungsbericht vorgelegt haben, widmen sie sich im Abschnitt "Kontexte" auf nicht weniger als 36 von 145 Textseiten den besagten Diskursen umso ausführlicher. Behandelt werden etwa "Modernisierung und Urbanisierung", "Photographie und Kino", "Sozialer Wandel und neue Mentalitäten", die "Wissenschaften um 1900", "Ernst Machs Theorie der Empfindungen" sowie "Psychologie und Psychoanalyse". Ein etwa ebenso langer Abschnitt beleuchtet "Aspekte und Geschichte der Literatur". Die abschließenden Kapitel sind "Einzelanalysen repräsentativer Werke" vorbehalten.

Zwar quillt der Abschnitt zu den kulturgeschichtlichen Kontexten der literarischen Epoche vor tausenderlei Informationen und Fakten geradezu über, aber vielleicht gerät gerade darum manches gar zu knapp. So wird etwa der vor und um 1900 virulente Sozialdarwinismus unmittelbar mit "menschenverachtenden Theorien der Produktion und Selektion von Völkern" in Verbindung gebracht, ohne seinen Begründer Friedrich Albert Lange auch nur zu erwähnen. Nun war Lange zwar ein Theoretiker des Sozialdarwinismus, aber alles andere als ein Verfechter seiner Praxis. Die vielleicht politischste Schrift des Philosophen und Urvaters des Neukantianismus, "Die Arbeiterfrage", galt vielmehr der Propagierung des "Kampf[es] gegen den Kampf ums Dasein" Dieser müsse durch seinen "Gegensatz", die Vernunft, wenn möglich im Hegel'schen Sinne aufgehoben zumindest aber "auf sein geringstes Maß" beschränkt werden. Die Leerstelle "Lange" sticht um so mehr ins Auge, als ansonsten ein fast schon exzessives name dropping betrieben wird.

Noch knapper als die Fakten zu den kultur- und wissenschaftsgeschichtlichen Kontexten präsentieren sich die Informationen im Abschnitt zur Literatur um 1900. Zwar bekommt man einen gewissen Eindruck über die Grundzüge der literarischen Entwicklung und ihrer Themen, etwa über die "Großstadtliteratur", über Impressionismus und Sprachkritik oder über das "Junge Wien". Das mag für eine Einführung ja genügen. Dennoch vermisst man das eine oder andere. Am enttäuschendsten fallen die Ausführungen zu literarischen Körper- und Geschlechterkonzepten aus, die auf gerade mal drei Seiten abgehandelt werden. Selbst, wenn man berücksichtigt, dass auch an anderer Stelle hin und wieder eine Randbemerkung zum Thema einfließt, ist das doch allzu dürftig. Diese offenbare Geringschätzung literarischer Geschlechter- und Körperkonzepte ist umso bedauerlicher, als auch die AutorInnen konstatieren, dass gerade der Literatur die "Funktion eines Experimentierfeldes" zukam, "auf dem geltende soziale Normen und Rollenbilder in Frage gestellt und alternative Konzepte von Körperlichkeit, Weiblichkeit und Männlichkeit erprobt" wurden. Zu dieser fast schon sträflichen Vernachlässigung passt allerdings, dass bereits im "Kontexte"-Abschnitt die misogyne Schrift "Über den physiologischen Schwachsinn des Weibes" aus der Feder des bekannten Frauenhassers Paul J. Möbius angeführt wird. Die mindestens ebenso berühmte und weit eloquentere Kritikerin der zeitgenössischen Antifeministen Hedwig Dohm wird von Kimmich und Wilke jedoch zum Schweigen verurteilt. Lieber lassen sie mit Adele Gerhard und Helene Simon zwei unbedeutende Antifeministinnen Möbius zur Seite springen.

Ausführlicher als den "Körper- und Geschlechterkonzepten in der Literatur" widmen sich die AutorInnen dem "Subjektverfall" und der Sprachkritik sowie der Beziehung zwischen Literatur und Psychoanalyse. Hier schließen sie sich aus guten Gründen der - im Untertitel eines von Thomas Anz und Christine Kanz 1999 herausgegeben Buches vertretenen - These an, dass zwischen beiden ein von "Kooperation und Konkurrenz" geprägtes Verhältnis besteht. Wie Kimmich und Wilke weiter ausführen, entfalte die Psychoanalyse ihre "[v]olle literarische Breitenwirkung" zwar erst mit dem expressionistischen Jahrzehnt, doch ließen sich auch zuvor schon "einige Interferenzen" zwischen der Psychoanalyse und der Literatur des "Jungen Wien" ausmachen.

Bevor sich Kimmich und Wilke abschließend Einzelanalysen wichtiger Werke des untersuchten Zeitraums widmen, beleuchten sie das - wie sie etwas schief formulieren - "janusköpfige Gesicht" der zwischen Aufbruch und Dekadenz oszillierenden Moderne.

Die Einzelanalysen behandeln neben Werken von Stefan George ("Das Jahr der Seele"), Christian Morgenstern ("Galgenlieder"), Arthur Schnitzler ("Leutnant Gustl" und "Reigen"), Robert Musil ("Die Verwirrung des Zöglings Törleß") und Rainer Maria Rilke ("Briefe über Cézanne", "Neue Gedichte" und "Die Aufzeichnungen des Malte Laurid Brigge") den als "Chandos-Brief" bekannt gewordenen Prosa-Text von Hugo von Hofmannsthal, bei dem es sich, wie die AutorInnen nicht ganz zu Unrecht schreiben, um den "Schlüsseltext seiner Epoche schlechthin" handelt. Ein Werk, das in die Einzelanalysen fraglos aufgenommen werden musste. Auch soll nicht angezweifelt werden, dass die anderen behandelten Werke aus guten Gründen hinzugekommen sind. Doch fällt die Absenz der Erzeugnisse auch nur einer einzigen schreibenden Frauen auf. Dies umso mehr, als Literatinnen auch zuvor schon allenfalls mal in einem knappen Halbsatz erwähnt werden.


Kein Bild

Dorothee Kimmich / Tobias Wilke: Einführung in die Literatur der Jahrhundertwende.
wbg – Wissen. Bildung. Gemeinschaft, Darmstadt 2006.
160 Seiten, 14,90 EUR.
ISBN-10: 3534175832

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch