Ungesühnte Verbrechen

Das Handbuch "Nicht ermittelt" informiert umfassend über die Verbrechen der deutschen Polizeibataillone während des Krieges und ihrer missglückten strafrechtlichen Verfolgung nach 1945

Von H.-Georg LützenkirchenRSS-Newsfeed neuer Artikel von H.-Georg Lützenkirchen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Im Gefüge der Mordmaschinerie, mit der die deutsche Naziherrschaft während des Zweiten Weltkriegs in den Ländern Osteuropas und der Sowjetunion ihre menschenvernichtende Praxis betrieb, erregen die Verbrechen der Polizeibataillone besondere Erschütterung. Die Kenntnis über die vielfach dokumentierten Grausamkeiten und die offensichtliche Mordlust, mit der diese Einheiten ihr 'Geschäft' betrieben, verbindet sich mit einer erschreckenden Einsicht: Waren es am Ende nicht "ganz normale Männer", die in den Polizeieinheiten Dienst taten? "Würde das nicht bedeuten, dass damals wie heute viele Bürger mit oder ohne Befehl dazu in der Lage wären, massenweise Zivilisten zu erschießen?"

Die Einsicht in die abgründigen Potentiale menschlichen Handelns ist schmerzhaft. Und vielleicht liegt hierhin ein - in dieser Studie nicht weiter ausgeführter - psychologischer Grund dafür, dass nach 1945 die Ermittlungen gegen die Täter so kläglich ausfielen. In jedem Fall verstört der Widerspruch: "Die Tatsache, dass Ordnungspolizisten an der Tötung von Hunderttausenden von Zivilisten und Kriegsgefangenen beteiligt waren, steht im krassen Widerspruch dazu, dass in Westdeutschland kaum ein Ordnungspolizist angeklagt, geschweige denn verurteilt wurde." Daraus ergeben sich die zentralen Fragen der vorliegenden Studie: "Wie und in welchem Umfang waren Polizeieinheiten an der Massenvernichtung von Menschen im Zweiten Weltkrieg beteiligt? Waren sie Vorreiter oder doch nur Erfüllungsgehilfen für Hitler, Himmler, Heydrich und Göring? Und zweitens: Inwieweit sind Täter aus den Reihen der Ordnungspolizei für ihre Beteiligung nach 1945 zur Rechenschaft gezogen worden? Wie haben Staatsanwaltschaften ermittelt? Wer waren die Täter? Was wurde aus ihnen nach 1945?"

Zur Beantwortung dieser Fragen legt Stefan Klemp ein Handbuch vor, dessen auf umfangreichen Quellenstudien basierende Informationen ein nützliches Hilfsmittel bei zukünftigen Arbeiten zur Geschichte der Polizeibataillone sein werden. Das gilt besonders für den Anhang, in dem Klemp tabellarisch die Einsätze aller bisher bekannten Polizeieinheiten, die jeweilige Ermittlungsgeschichte mit entsprechenden Aktenzeichen sowie die Bilanz der Opferzahlen aller Einheiten vorlegt. Mehr als 520.000 Menschen wurden von den Polizeieinheiten ermordet.

Die Mordaktivitäten der Polizeibataillone im Kriegseinsatz dokumentiert der Autor im ersten Teil des Handbuchs. Von beispielhafter Aussagekraft auch im Hinblick auf das Selbstverständnis der Einheiten ist das Polizeibatataillon 91. Schon im Spätherbst 1939 ermordeten Angehörige des Bataillons mindestens 162 jüdische Bewohner der Stadt Ostrow. "Zwar wurde die Vernichtung 1939 noch nicht systematisch betrieben, aber die Idee war schon vorhanden, und Polizisten wollten die Pläne in vorauseilendem Gehorsam ausführen." Fazit: "Wenn die Ideen und das Feindbild da sind und diejenigen, die das Kommando haben, die damit übereinstimmen, machen bestimmte Menschen mit." Der Autor zieht daraus im letzten Kapitel, in dem er zusammenfassend einen typischen Einzelfall schildert, den Schluss, dass die meisten Polizisten dann doch keine "ganz normale" Männer waren, sondern eher überzeugte "Weltanschauungskrieger". "Der Vernichtungskrieg im Osten ließ eben keinen Platz für normale Männer oder ein normales Leben." Bleibt allerdings die Frage, ob nicht dieser Zustand selbst wieder der normale ist.

Im zentralen Teil des Handbuchs liefert der Autor auf Grundlage intensiver Quellenstudien eine Übersicht über 53 Polizeibataillone, sieben Polizeiregimenter, drei Polizeireitereinheiten sowie zwei Polizeischützenregimenter sowie die gegen sie angestrengten Ermittlungsverfahren. Dem folgt ein Teil mit der Überschrift "Gründe für das Scheitern der Ermittlungsverfahren". Denn was der Autor zuvor mit zuweilen spürbarer Empörung dokumentiert hat, ist ein Desaster. Man kann durchaus von einer gezielten und planmäßigen Beeinflussung der Ermittlungen zugunsten der Angeklagten sprechen. Zum Beispiel im Fall des Dortmunder Polizeibataillons 61, der "vielleicht das eklatanteste Beispiel für skandalöse Ermittlungsverfahren in Nordrhein-Westfalen" ist. Drei Verfahren gegen Angehörige des Bataillons 1954, 1959/60 und 1967 wurden durch skandalöse Ermittlungsfehler beeinflusst. So wurde in keinem der Verfahren eine vollständige Liste der Bataillonsangehörigen erstellt, auf Vernehmungen der überlebenden Opfer wurde verzichtet, zwischen Angeklagten und Zeugen gab es immer wieder Absprachen bis hin zur Zeugenbeeinflussung. Schließlich wurde hier wie auch in anderen Verfahren den Angeklagten regelmäßig ein Befehlsnotstand zuerkannt - unabhängig von der jeweiligen Sachlage.

Diese Verteidigungsstrategie, auch darauf verweist das Handbuch, ist sachlich nicht zu rechtfertigen. In den wenigen bekannten Fällen, bei denen Angehörige der Einheiten sich dem Morden entzogen, sind Sanktionen gegen sie nicht bekannt. Indes: nur wenige der Polizisten verweigerten ihre Teilnahme an den Mordaktionen. Ganz normale Männer...

Während die Justiz in Westdeutschland ihre Ermittlungen mit einer "ganz erheblichen Nachlässigkeit" betrieb, kann dies für viele in der DDR durchgeführten Verfahren nicht gelten. So wurden beispielsweise gegen Angehörige des Polizeibataillons 304 in der sowjetisch besetzten Zone bereits seit 1945 Verfahren durchgeführt, und weitere Verfahren führten noch 1975 zu Verurteilungen, während in Dortmund bereits 1969 das erste Verfahren eingestellt wurde. Auf die Erkenntnisse der DDR-Verfahren 'verzichtete' die westdeutsche Justiz sehr oft. Das Handbuch bilanziert schließlich zehn herausragende Gründe für das Versagen der BRD-Justiz: zu diesen gehören u. a. das allgemeine politisch-gesellschaftliche Verdrängungsklima der Nachkriegsjahre, die eigene NS-Vergangenheit vieler Justiz- und Polizeiangehöriger, die von vielen Ermittlern geduldete Zeugenbeeinflussung durch Beschuldigte und ein "Netzwerk der Ehemaligen" - aber auch die Sorge, dass zu viele Urteile gegen Polizisten zu einem Personalnotstand hätten führen können.


Titelbild

Stefan Klemp: "Nicht ermittelt". Polizeibataillone und Nachkriegsjustiz.
Klartext Verlagsgesellschaft, Essen 2006.
503 Seiten, 34,90 EUR.
ISBN-10: 389861381X

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