Rest in Peace

Dort, wo das Nichts wohnt, beginnen die Welten des britischen Schriftstellers Magnus Mills. Nun ist eine neu hinzugekommen

Von Maik SöhlerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Maik Söhler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wer noch keine Zeile des britischen Schriftstellers Magnus Mills kennt, dem gehört mein ganzer Neid. Denn der hat noch dicke Brocken reinsten Glücks vor sich. Diese Brocken manifestieren sich in der Realität als Romane, formal gesehen alles andere als dick, was schade ist, denn sobald man zu lesen beginnt, sollen diese Bücher niemals mehr enden. Die Angst liest bei Mills stets mit, es ist die Angst vor der letzten Seite und davor, dass der Mann bis zur Veröffentlichung seines nächsten Buches wie bisher immer zwei Jahre brauchen wird. Die Zeit bis dahin ist tote Zeit.

Von der Kritik wird Mills häufig in einem Satz mit Franz Kafka und Flann O'Brien genannt. Das ist gut und schlecht zugleich. Gut, weil man so wenigstens den Hauch einer Ahnung bekommt, um welche Reiche der Fantasie es bei Mills gehen könnte. Schlecht, weil es bei Mills eben um nichts geht. Nichts. NICHTS. Kafkas "Das Schloss" ist im Vergleich zu Mills "Die Herren der Zäune" ein durch die Handlung hechelnder Thriller, O'Brien's "Der dritte Polizist" kann gegen Mills' "Indien kann warten" als Musterbeispiel an Realismus, engagierter Literatur und Plotpower gelten. Wer nichts erwartet, dem bleibt nur Mills. Alles andere ist Bewegung.

Nun ist von Mills im Frühjahr ein neuer Roman auf Deutsch erschienen. Er heißt "Ganze Arbeit". Die Berliner Mills-Gemeinde ging gleich ganz euphorisch ans Lesen und war anschließend ein wenig enttäuscht. Sicher, hieß es, ein toller Roman, wie immer, großartig, fantastisch, fabulous. Aber, und das sei man nicht gewohnt, in "Ganze Arbeit" passiere einfach zu viel.

Das ist ein hartes Urteil. Und ein ungerechtes. Denn bei genauer Lektüre stellt sich schnell heraus, dass wieder einmal nichts geschieht. Nur ist diesmal das Nichts mobil. Es wohnt überall dort, wo sich UniVans befinden. Das sind Lieferwagen eines - ja was? Unternehmens? Staatsbetriebs? Jedenfalls eines sich selbst erhaltenden Systems namens der "PLAN". Sich selbst erhaltend meint: Tausende UniVans transportieren nichts anderes als Ersatzteile für UniVans zu UniVan-Depots, die dort in defekte UniVans eingebaut werden, damit diese wiederum andere UniVan-Ersatzteile in andere Depots bringen können, die dort usw.

So ist es, so war es immer und so würde es weiter sein - wäre da nicht eine minimale Meinungsverschiedenheit über die Länge des Arbeitstages, die die Belegschaft spaltet und den PLAN zu zerstören droht. Typisch, denkt man, Keynesianer gegen Neoliberale, systemimmanentes Gebelfer zur Frage, ob Überstunden Arbeitsplätze zerstören oder nicht. Aber bei Mills ist alles ganz anders, denn der Streit wird zwischen den Verfechten des Acht-Stunden-Normaltages, des Acht-Stunden-Normaltages-minus-15-Minuten-fürs-Abstempeln und den Anhängern eines vorgezogenen Feierabends geführt.

So viel kann zu dem gesagt werden, was gemeinhin im Roman "Handlung" heißt, hier aber nichts anderes bildet als eine Form, die die immer gleichen Abläufe im Nichts einrahmt.

Verlassen wir doch einfach mal die konventionelle Rezension eines einzelnen Romans mit ihrem Muster von Handlungs- und Figurenschilderung - Kontextualisierung - Analyse - Bewertung und wenden uns, da das alles im Falle von Mills kaum etwas, nein: nichts bringt, seinem in allen Romanen wiederkehrenden Topos, also dem Nichts selbst zu. Was für ein Nichts ist es? Was sagt es aus? Wo kommt es her? Wo will es hin? Lässt es sich näher bestimmen?

Zuerst eine Antwort auf die letzte Frage: Auf jeden Fall. Mills' Nichts ist der perfekte Mix aus britischer Pub-Atmosphäre, der schönen Seiten der Beamtenmentalität der siebziger Jahre und Teilen der Gesellschaftsform, die Karl Marx in "Die deutsche Ideologie" so beschreibt: "In der kommunistischen Gesellschaft, wo Jeder nicht einen ausschließlichen Kreis der Tätigkeit hat, sondern sich in jedem beliebigen Zweige ausbilden kann, die Gesellschaft die allgemeine Produktion regelt und mir eben dadurch möglich macht, heute dies, morgen jenes zu tun, morgens zu jagen, nachmittags zu fischen, abends Viehzucht zu treiben, nach dem Essen zu kritisieren, wie ich gerade Lust habe, ohne je Jäger, Fischer, Hirt oder Kritiker zu werden."

Es sind nur Teile des Kommunismus, die Mills in den Alltag seiner Figuren schmuggelt, denn weder Lohnarbeit und Ware noch Staat oder Bourgeoisie sind abgeschafft. Die Arbeit, dieses autoritär-terroristische Dogma des 19. und 20. Jahrhunderts, ist sogar ein wesentlicher Bestandteil von Mills' Universum. Zäune müssen gesetzt, Tore und Boote gestrichen, UniVans gefahren, selbst vor der Hütte muss gefegt werden - ohne die sich ständig wiederholenden, durch und durch stupiden Tätigkeiten fehlte etwas zum Glück. Denn die duldsame Apathie beim Werkeln ist die Grundbedingung für einen vergnüglichen Feierabend bei Darts und Bier.

Arbeit gehört demnach zum Leben wie beispielsweise Stuhlgang, so etwas will erledigt sein, bevor der Tag so richtig beginnen kann. Arbeit ist bei Mills einfach da, spielt aber keine Rolle, ebenso wenig wie Status, Geld, Erfolg, Stress, Konkurrenz oder Kriege. Nichts davon kommt gegen die stoische und beharrliche Einfachheit der Welten an, in denen Mills' Personal zu Hause ist. Es ist ein Kommunismus der Ruhe, eine Weltordnung der Bedächtigkeit, ein wohliges Nichts.

Wo es her kommt und wo es hin will, tut für alle, die dieses Paradies zu schätzen wissen, nichts zur Sache. Mögen sich doch Historiker und Futurologen damit beschäftigen, aber bitte: ohne Hektik, gemach, der späte Vogel fängt den Wurm. Womit auch die Frage nach der Aussage des Nichts beantwortet wäre.

Zu ergänzen wäre lediglich, dass es sich um literarische Realitäten und keinesfalls um Utopien handelt. "Zum König!" ist strikt antiutopisch ebenso wie "Die Herren der Zäune"; "Ganze Arbeit" und "Indien kann warten" gehen nicht von einer befreiten Welt ohne Arbeit aus, sondern bearbeiten die Arbeit so lange, bis Mühsal und Pein allgemeiner Gelassenheit weichen. Nie war Literatur entspannter.


Titelbild

Magnus Mills: Ganze Arbeit. Roman.
Übersetzt aus dem Englischen von Katharina Böhmer.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2006.
188 Seiten, 17,80 EUR.
ISBN-10: 3518417541

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