Im Triumph und im Verfall

Eine Marbacher Ausstellung beschäftigt sich mit Gottfried Benns "Doppelleben"

Von Ulrich RüdenauerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ulrich Rüdenauer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Mit vielen schönen Gewissheiten ging es in der Moderne zu Ende. Die Dinge gerieten ins Schwanken, dem Bürger flog vom spitzen Kopf der Hut, das Ich wurde ein anderer und war schon längst nicht mehr Herr im eigenen Haus. Mit einer vertrauenswürdigen Realität konnte man im frühen 20. Jahrhundert nicht mehr rechnen. "In Krieg und Frieden, in der Front und in der Etappe, als Offizier wie als Arzt, zwischen Schiebern und Exzellenzen, vor Gummi- und Gefängniszellen, an Betten und an Särgen, im Triumph und im Verfall verließ mich die Trance nie, dass es diese Wirklichkeit nicht gäbe", schreibt Gottfried Benn in "Lebensweg eines Intellektualisten". "Eine Art innerer Konzentration setzte ich in Gang, ein Anregen geheimer Sphären, und das Individuelle versank", so geht es in der Exegese des biografischen Weges und des künstlerischen Prozesses fort. Eine "Urschicht" sei aufgestiegen, "an Bildern reich und panisch". Dieser Urschicht entstammte auch Werff Rönne, "der Arzt, der Flagellant der Einzeldinge, das nackte Vakuum der Sachverhalte, der keine Wirklichkeit mehr ertragen konnte, aber auch keine mehr erfassen".

Benn entlässt seine Ich-Abspaltung Rönne 1915 ins literarische Leben. Und auch das Todesjahr seines expressionistischen Alter Ego lässt sich ziemlich genau angeben: "Assistenzarzt Dr. Werff Rönne † XII 1942 bei Stalingrad". Das Datum des Ablebens findet sich auf dem Deckblatt eines Manuskripts, das Benn in den Kriegswirren des Januars 1945 an seinen langjährigen Vertrauten und Briefpartner Friedrich Wilhelm Oelze zur Aufbewahrung schickt: "Ausdruckswelt" heißt die Essaysammlung, deren politische Auslassungen den Autor zweifelsohne ins Gefängnis bringen können. Deshalb schreibt er die Essays seinem anderen Ich zu, eben jenem im Geiste des Expressionismus geborenen Rönne.

Der sandbraune Aktendeckel ist bei der ersten Wechselausstellung des Literaturmuseums der Moderne in Marbach zu besichtigen, eines von mehreren Exponaten, die uns Gottfried Benns Ich-Figurationen, seine Arbeitsweise und insbesondere eines seiner irritierendsten Werke näher bringen sollen: "Benns Doppelleben oder Wie man sich selbst zusammensetzt" heißt die von Jan Bürger kuratierte Schau, die anlässlich des 50. Todestags des Dichters zu sehen ist.

Gottfried Benns Autobiografie "Doppelleben" trug nicht unwesentlich zu seinem "Combak" nach dem Zweiten Weltkrieg bei. Benn, der zu Beginn der dreißiger Jahre mit der Nazi-Ideologie liebäugelte und dann als Wehrmachts-Arzt die, wie er es zu nennen pflegte, "aristokratische Form der Emigrierung" wählte, veröffentlichte wieder. Und er wurde gelesen. Sogar gefeiert. 1951 erhielt er den Büchner-Preis, und junge Lyriker sahen in ihm einen Autor, dessen Werk aus dem avantgardistischen Zeitalter in die kahle Nachkriegszeit hinüberragte - und einen Anschluss an moderne Schreibweisen ermöglichte. So findet sich im Marbacher Archiv auch ein schwärmerischer Brief des jungen Rolf Dieter Brinkmann an sein frühes Vorbild Benn.

"Doppelleben" erschien 1949 auf Anregung seines damaligen Verlegers Max Niedermayer. Mit diesem innerhalb von knapp einem Monat verfassten Buch knüpfte Gottfried Benn an die erste autobiografische und höchst prekäre Schrift aus dem Jahr 1934 an: "Lebenswege eines Intellektualisten". Die "Lebenswege" dienten damals zu seiner Verteidigung: Der Balladendichter Börries von Münchhausen hatte öffentlich verlautbart, nicht nur Benns Literatur, auch sein Name lasse auf jüdische Herkunft schließen. Dem meinte Benn entgegentreten zu müssen, wollte er in Deutschland weiter publizieren; ein Schreibverbot folgte trotzdem, 1938.

Der Essay "Lebenswege eines Intellektualisten" ist in einem nationalsozialistischen Duktus gehalten, der jedoch Züge einer Camouflage trägt; in ihm zeigt sich bereits eine ironische Distanz zum neuen Regime. Schon der Begriff "Intellektualist" klingt wie eine Karikatur, mehr noch wie ein Schimpfwort. Auch in diesem Text ist Benn - zu seinem eigenen Vorteil - nicht recht fassbar: Er verändert häufig Form und Argumentation, springt zwischen Lebens- und Werkbeschreibung hin und her - so wie er stets auch zwischen Mikroskop und Schreibmaschine hin und her wechselte. Das setzt sich in "Doppelleben" fort. Wir haben es wieder mit einer Rechtfertigungsschrift zu tun: Sein Leben wird ein zweites Mal geschrieben - und wieder in Brüchen und Heteronymien.

Benn war die Vorstellung einer kontinuierlichen Biografie und Psychologie fremd. "Die Einheit der Persönlichkeit ist eine fragwürdige Sache", schreibt er einmal und ist damit auf der Höhe des Moderne-Diskurses. Die verschiedenen Ichs, das Durchspielen von Rollen - das ist für Benns Prosa charakteristisch, genauso aber auch für sein Leben. "Der Stil der Zukunft wird der Roboterstil sein, Montagekunst", proklamiert er im "Doppelleben", und er macht ernst damit: Er schneidet, wie man in der Ausstellung schön nachvollziehen kann, die Seiten aus seiner alten Biografie heraus, montiert sie und sich neu zusammen.

Das ist der Ausgangspunkt der Marbacher Erkundung. Die Entwürfe zum "Lebensweg" zeigen, wie der Dichter die Texte aus heterogenen Materialien collagiert hat. Jan Bürger konnte aus dem Nachlass Benns, der fast vollständig in Marbach lagert, schöpfen: Zu bestaunen sind etwa seine Arbeitshefte, in denen sich Alltagsnotizen mit poetischen Skizzen mischen. So protokolliert Benn akribisch, wann er sich die Haare schneiden lässt, und inmitten dieser profanen Ereignisse findet sich immer wieder der hohe Ton des Dichters. Auch der legendäre Brief Klaus Manns ist im Original nachzulesen: Der forderte den von ihm verehrten Benn 1933 dazu auf, Stellung gegen Hitler-Deutschland zu beziehen. In seiner von Klassenressentiments nicht freien, berühmt-berüchtigten "Antwort an die literarischen Emigranten" wirft Benn diesen vor, sie hätten es versäumt, "den ihnen so fremden Begriff des Volkes in sich wachsen zu fühlen".

In "Doppelleben" nimmt er diese Episode wieder auf, würdigt den Brief Klaus Manns und billigt ihm zu, damals klüger gewesen zu sein als er selbst, und fährt dann fort: "Treten wir nun zurück von Klaus Mann und mir im Jahre 1933 - schreiben wir das heutige Datum, es gibt etwas, das sie beide verbindet, es ist: das Dilemma der Geschichte."

Und das Dilemma der persönlichen Verstrickung in Geschichte. Eine spektakuläre Neuentdeckung dieser Ausstellung zeigt diese Verstrickung über das bisher Bekannte hinaus sehr deutlich. 60 Benn-Briefe an eine frühe Geliebte, Gertrud Zenzes, sind erst kürzlich aufgetaucht. Darunter auch die Überraschung: ein Schreiben aus dem Jahr 1933, in das ein ansonsten von Benn bisher nicht bekannter, antisemitischer Ton hineingerät: "Was nun das Judenproblem angeht", schreibt Benn dem "lieben Trudchen" in die USA, "an dem Sie vielleicht besonders leiden und das Nordamerika mit seinem unvergleichlichen Rassenmischmasch natürlich ganz fremd ist, so sehen Sie das sicher auch ganz falsch. Denken Sie einmal, unter den Berliner Ärzten waren 85% Juden, den Rechtsanwälten 75%. In den journalistischen und Theaterbetrieben auch ungefähr 80%. Es ist doch vollkommen selbstverständlich, dass dieser Zustand eines Tages als unmöglich angesehen wurde."

Doppelleben, das ist eine manchmal erschreckende Form des Spiels mit verschiedenen Weltmodellen, ein Experimentieren sowohl in der Kunst als auch im wirklichen Leben - der notorische Frauenheld Benn legte in seinen Liebesbeziehungen zuweilen einen schizoiden Charakter an den Tag und verschickte innerhalb eines Tages glühende Liebesbriefe an verschiedene Frauen. Die Ausstellung bietet einen Querschnitt durch die unterschiedlichsten Nachlassmaterialien. Sie ist ein Versuch, dem gespaltenen Denker auf die Schliche zu kommen. Aber auch, dem Dichter gerecht zu werden. Dass der einen Teil seines "Doppelleben"-Manuskripts auf Kondolenzpapier schrieb, hatte wohl nicht nur mit Papierknappheit zu tun. Wer mehrere Leben führt, hat eben ein engeres Verhältnis zum Tod. Und kann sich mehrere Grabinschriften und Nachrufe leisten.

Die Ausstellung "Benns Doppelleben oder Wie man sich selbst zusammensetzt" ist vom 7. Juli bis 27. August im Literaturmuseum der Moderne in Marbach am Neckar zu sehen. Parallel zur Ausstellung ist ein von Jan Bürger verfasstes Marbacher Magazin erschienen.


Titelbild

Jan Bürger: Benns Doppelleben oder Wie man sich selbst zusammensetzt. Marbacher Magazine.
Schiller-Nationalmuseum Deutsches Literaturarchiv, Marbach 2006.
96 Seiten, 10,00 EUR.
ISBN-10: 3937384219

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