Persönliche Identität über den Tod hinaus?

Tino Markworth über "Unsterblichkeit und Identität beim jungen Herder"

Von Jost SchneiderRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jost Schneider

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Welcher Literaturdozent hätte dies nicht schon erlebt: In einem Seminar über die deutsche Aufklärung wird Lessing zunächst als Prototyp des vorurteilsfreien, logisch argumentierenden, sachlich urteilenden Denkers vorgestellt. Doch wenn die Rede auf die letzten acht Paragrafen seiner bekannten Schrift über "Die Erziehung des Menschengeschlechts" kommt, scheint dieses Bild einen Riss zu erhalten. Denn Lessing formuliert darin Mutmaßungen über eine eventuelle Wiedergeburt des Individuums, die eher den populären abergläubischen Vorstellungen der ungebildeten Masse als der Gedankenwelt eines aufklärerischen Gelehrten zu entstammen scheinen.

In seiner klar strukturierten, jederzeit nachvollziehbar argumentierenden Studie über "Unsterblichkeit und Identität beim jungen Herder" kann Tino Markworth einleitend zeigen, dass solche Mutmaßungen im dritten Viertel des 18. Jahrhunderts auch in der gelehrten Welt weite Verbreitung fanden, und zwar aus durchaus seriösen, eine Crux der aufklärerischen Vernunftreligion widerspiegelnden Motiven. Wenn sich nämlich in einer solchen Vernunftreligion die neue aufklärerische Geschichtsphilosophie und das modernisierte, teilsäkularisierte Christentum widerspruchsfrei verbinden lassen sollten, dann musste nicht zuletzt geklärt werden, ob das Individuum innerhalb des göttlichen Weltdramas nur einen oder mehrere Auftritte haben sollte, ob es also an mehreren Phasen der Geschichtsentwicklung Anteil haben oder auf die Dauer einer einzigen Lebensspanne reduziert bleiben sollte.

Offenkundig ist diese Frage sowohl im Hinblick auf das Problem der transgenerationellen Gerechtigkeit als auch hinsichtlich der Konzeption des Jüngsten Gerichtes von zentraler Bedeutung. Wie ist es zu rechtfertigen, dass das eine Individuum in einer Periode des Friedens und des Wohlstands, das andere hingegen unter der ständigen Bedrohung durch Kriege und Katastrophen sein Dasein fristen muss? Und wie soll ich meine Identität bestimmen, wenn ich damit rechnen muss, in künftigen Leben, unter völlig veränderten Bedingungen, erneut mein Glück machen zu müssen bzw. zu dürfen?

Wie Markworth in sehr plausibler Weise verdeutlichen kann, hat der junge Herder um 1772 einen Wechsel seiner diesbezüglichen Vorstellungen vollzogen. Bis zu diesem Zeitpunkt favorisiert er eine Position, die zwar der Seele ewiges Leben zuerkennt, gleichzeitig jedoch dem Postulat der persönlichen Unsterblichkeit eine Absage erteilt. Die Seele lebt also fort, aber nicht als 'meine' Seele, sondern als ein Etwas, an das sich bei der folgenden Wiederverkörperung ein ganz anderes Ich anheftet.

Nach 1772 bevorzugt Herder hingegen die Vorstellung, dass das Individuum als zeitlich begrenztes Element eines von der Vorsehung gelenkten Heilsgeschehens in einen übergreifenden Sinnzusammenhang integriert ist, der es als vergleichsweise irrelevant erscheinen lässt, ob im zweiten Ich Bestandteile des ersten Ich aufbewahrt bleiben. Was nun zählt, ist der beiden Seelenmanifestationen gemeinsame Anteil am großen Ganzen, das in der Art eines Mosaiks natürlich auch dann noch einen sinnvollen Bildinhalt haben kann, wenn das Steinchen X und das Steinchen Y nicht beieinander liegen und vielleicht sogar in Größe, Form, Farbe usw. keinerlei Gemeinsamkeit aufweisen.

Die Frage nach den Gründen für diesen Wechsel beantwortet Markworth mit biografischen und immanent-philosophischen Argumenten von unterschiedlicher Plausibilität und Gewichtigkeit. Vielleicht wäre es sinnvoll gewesen, an dieser Stelle den Fragehorizont etwas zu öffnen und auch die Schriften des mittleren und des späten Herder mit einzubeziehen. Damit wäre allerdings auch die Gefahr der unhistorischen Vermischung von Argumenten und Dokumenten aus verschiedenen Schaffensphasen Herders verbunden gewesen. Markworth legt großen Wert darauf, in dieser Hinsicht strikt historisch vorzugehen und die einzelnen Schaffensperioden sorgsam voneinander zu trennen. Mag dies auch wissenschaftstheoretisch eine saubere Lösung sein, so impliziert es doch gleichzeitig ein Identitätskonzept, das in einer gewissen Spannung, an manchen Stellen auch in Widerspruch zu der Unsterblichkeitslehre des behandelten Autors steht. Wenn ich beim Übergang von diesem zum nächsten Leben Teile meiner Identität - und sei diese auch 'nur' als Teilhabe am großen Ganzen definiert - hinüberretten kann, so sollte dies wohl auch für den Wechsel von einer Schaffensperiode zur nächsten gelten. Natürlich kann dies nicht bedeuten, dass Markworth Herders Identitätskonzepte hätte übernehmen sollen oder gar müssen; man hätte jedoch erwarten können, dass er seine dem strikten historisierenden Ansatz seiner Untersuchung innewohnenden identitätstheoretischen Prämissen offen legt und ihrerseits (methodengeschichtlich) historisiert.

Auf die Hauptresultate seiner Studie hätte eine solche methodologische Selbstreflexion allerdings nur geringen Einfluss gehabt. Insgesamt kann diese lesenswerte Monografie deshalb als wichtiger eigenständiger Beitrag sowohl zur Herder-Forschung im engeren Sinne als auch zur Religions- und Philosophiegeschichte im weiteren Sinne bezeichnet werden.


Titelbild

Tino Markworth: Unsterblichkeit und Identität beim frühen Herder.
Schöningh Verlag, Paderborn 2005.
203 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-10: 3506716867

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