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Wolfgang Albrechts Plädoyer für eine erneu(er)te Grundlagenforschung zu Lessing

Von Axel SchmittRSS-Newsfeed neuer Artikel von Axel Schmitt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Aufklärer und skeptische Melancholiker, sachliche Kritiker und Polemiker Gotthold Ephraim Lessing erfreut sich bis heute einer unbestrittenen und kontinuierlichen Wertschätzung. Wobei man sich in der Forschung seit einigen Jahren mit Recht „unterwegs zu einem ‚neuen‘ Lessing“ wähnt (vgl. hierzu den Lessing-Schwerpunkt in literaturkritik.de 08/2002). Zu beobachten ist der Versuch einer Einordnung Lessings in die Diskussionen und geistigen Auseinandersetzungen seiner Zeit. Man ist stärker als jemals zuvor bereit, in seinen Texten die Verknüpfung mit dem Diskurs von der Aufwertung der sinnlichen Natur des Menschen in der Epoche der Aufklärung, das Ineinander-Schreiben von Sinnlichkeit und Vernunft, Gefühl und Reflexion zu erblicken.

Nach wie vor offen ist jedoch die Frage, ob sich die unterschiedlichen Forschungsansätze bündeln lassen, um etwa auch ein anthropologisch fundiertes Bild von Lessings Texten und deren Kon-Texten zu entwerfen. Die bislang umfassendsten Synthesen in Richtung eines ‚neuen‘ Lessing-Bildes bieten zum einen die von Wilfried Barner u. a. veranstaltete Ausgabe des Deutschen Klassiker Verlags (im Sinne einer Kommentierung der Texte sowie einer Dokumentation und Erschließung des historischen Kon-Textes), zum anderen das ausgesprochen verdienstvolle Lessing-Handbuch von Monika Fick, das die Denkfigur des Paradoxen als das eigentlich Faszinierende an Lessing enthüllt und in dem es in erster Linie darum geht, die historischen Kon-Texte zu rekonstruieren und mit der Analyse der Texte Lessings zu verknüpfen.

Gleichwohl plädiert der derzeitige Präsident der Lessing Society, Wolfgang Albrecht, im jüngsten Jahrbuch der Gesellschaft für eine „erneu(er)te Grundlagenforschung zu Lessing“, obwohl oder doch eher weil die jüngste Forschung ein erhebliches Maß an Neueinsichten in die Texte Lessings bereitgestellt habe. Albrecht zufolge erscheint es als problematisch, dass sich die Text- und mehr noch die sonstige Quellenbasis für die unterschiedlichen Deutungsansätze bislang wesentlich langsamer und nur vereinzelt fortentwickelt habe. So könnten vor allem die Erforschung der Lebenswelten, der Tätigkeitsumstände und der Wirkungen Lessings zu seinen Lebzeiten noch keineswegs als abgeschlossen gelten. Dabei beklagt Albrecht vollkommen zu Recht das als Lücke, was schon vor mehr als einem Jahrzehnt zwar projektiert wurde, aber über eine konstituierende Sitzung in der Bad Homburger Werner-Reimers-Stiftung nicht hinausgekommen ist: ein mikrologischer Blick auf ‚Lessings Lebenswelten‘ inklusive einer Sichtung der unterschiedlichen Lessing-Bilder vom Ausgang des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart. So fehlen nach wie vor ergiebige Informationen zur Breslauer Zeit und auch die gründliche Kenntnis der Mehrzahl von Lessings Kommunikations- und Streitpartnern bleibt ein bedauerliches Desiderat der Forschung. Darüber hinaus ist zu beklagen, dass Erich Schmidts bis heute unübertroffene zweibändige Lessing-Biografie (Berlin 1884-1892) keine modernisierte Fortführung fand und auch keine systematische biografische Forschung nach sich zog, die sich den konstatierten ‚dunklen Stellen‘ der Vita Lessings hätte widmen können.

Aber auch weitere ‚Baustellen‘ der Lessing-Forschung bringt Albrecht zur Sprache. So scheint sich eine dringend notwendige historisch-kritische Edition der Texte und der Korrespondenz Lessings unter den gegenwärtigen finanziellen Verhältnissen der DFG nicht realisieren zu lassen. Löbliche Ausnahmen sind einerseits das mit Elke Monika Bauers Ausgabe der „Emilia Galotti“ (vgl. literaturkritik.de 05/2005) begonnene Vorhaben, Lessings Hauptdramen mitsamt möglichst vollständigen Dokumentarteilen historisch-kritisch auszulegen, und andererseits die von Albrecht und Dieter Fratzke mustergültig edierte zweibändige Anthologie „Lessing im Spiegel zeitgenössischer Briefe“, die etwa 1250 Schriftstücke von 1750 bis 1781 mitsamt brieflichen Äußerungen zu Lessings Tod enthält. Diese Ausgabe ermöglicht unter anderem, „ein dicht geknüpftes Briefgeflecht von Freunden Lessings und ein (erschließungsbedingt vorerst noch) lockeres von seinen Gegnern als ein exemplarisches Korrespondenznetzwerk aus dem Aufklärungszeitalter zu untersuchen“.

Darüber hinaus kann die letztes Jahr erschienene, ebenfalls von Albrecht und Fratzke edierte Sammlung „Lessing. Gespräche, Begegnungen, Lebenszeugnisse“ die verdienstvolle, aber längst überholte Arbeit Richard Daunichts („Lessing im Gespräch. Berichte und Urteile von Freunden und Zeitgenossen“, München 1971) zumindest teilweise ersetzen und bietet darüber hinaus sowohl von Lessing selbst herrührende Texte (amtliche Erklärungen, Quittungen, Bürgschaften, Bücherscheine u. a.) als auch ihn betreffende Schriftsätze, Urkunden und allgemeine Presseverlautbarungen.

Die von Albrecht initiierten Unternehmen können durchaus als ein erster wichtiger Schritt in Richtung eines Neuanfangs in der Grundlagenforschung zu Lessing angesehen werden. Es bleibt jedoch abzuwarten, inwiefern die notwendigen weiteren Schritte folgen werden. Wünschenswert wäre dies in jedem Fall.

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Wolfgang Albrecht / Dieter Fratzke (Hg.): Lessing im Spiegel zeitgenössischer Briefe. Ein kommentiertes Lese- und Studienwerk. Band 1.
Lessing Museum, Kamenz 2003.
560 Seiten, 57,00 EUR.
ISBN-10: 3910046401

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Wolfgang Albrecht / Dieter Fratzke (Hg.): Lessing. Gespräche, Begegnungen, Lebenszeugnisse. Ein kommentiertes Lese- und Studienwerk. Band 2.
Lessing Museum, Kamenz 2005.
814 Seiten, 57,00 EUR.
ISBN-10: 391004641X

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Lessing Yearbook/Jahrbuch XXXVI 2004/2005.
Herausgegeben i. A. der Lessing Society von Herbert Rowland und Richard E. Schade in Zusammenarbeit mit der Lessing-Akademie Wolfenbüttel.
Wallstein Verlag, Göttingen 2006.
285 Seiten, 24,00 EUR.
ISSN: 00758833

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