Dreißig Jahre Unterricht

Frank McCourts Erinnerungen "Tag und Nacht und auch im Sommer"

Von Anette StührmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Anette Stührmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Bereits in "Die Asche meiner Mutter" ("Angela's Ashes") und "Ein rundherum tolles Land" ("'Tis") rekapituliert Frank McCourt seine "miserable Irish Catholic childhood". Nun ist der dritte Band seiner Autobiografie mit dem Titel "Tag und Nacht und auch im Sommer" ("Teacher Man") erschienen. Diesmal dient McCourt die unglückliche Kindheit als Hintergrund für einen Rückblick auf seine dreißigjährige Lehrerkarriere an verschiedenen New Yorker Highschools.

Ironisch und selbstkritisch eröffnet McCourt den Prolog mit einem Hinweis auf Sigmund Freud, die Psychoanalyse und darauf, dass er der Theorie entsprechend eigentlich alle Schwierigkeiten, die er in seinem Leben jemals hatte, auf seine missratene irische Kindheit zurückführen könne. Und dementsprechend verlangt er eine Auszeichnung für Leute wie ihn, die trotzdem Lehrer werden: "Es sollte einen Orden für Menschen geben, die eine unglückliche Kindheit überlebt haben und Lehrer geworden sind, und ich sollte ganz oben stehen auf der Liste der Anwärter auf diesen Orden".

Symbolische Medaillen bekommt McCourt immer wieder in Form von erinnerungswürdigen Begebenheiten, die sich im Unterricht zutragen. Solch eine Episode bildet die Schlussszene, in der ihm am Tag seiner Pensionierung einer seiner Schüler eine Moral mit auf den Weg gibt. Der Junge, der aufgrund eines spielerischen Regenschirmduells ein Auge verloren hat, akzeptiert sein Schicksal trotz zweijähriger Behandlungs- und Krankenhausodyssee, denn es hat ihn wichtige Erfahrungen machen lassen, ihm den Sinn des Lebens eröffnet.

Diese Geschichte rührt den Lehrer. Sie lässt ihn am letzten Tag seines Schuldienstes mit seinem eigenen Schicksal Frieden schließen und es als sinnvoll begreifen. Seine von Armut gekennzeichnete Kindheit in Irland, die Befreiungsbestrebungen in Form der Auswanderung nach Amerika und dort nachgeholter Bildung sowie die dreißigjährige Lehrerkarriere, die er zuweilen als Zeitverschwendung empfindet, bilden den Grundstein für seine Autorenkarriere, die der Lehrerlaufbahn folgt. Was sein Schüler ihm, dem Lehrer, mit auf den Weg gibt, ist die Einsicht, dass Erfahrungen, auch schmerzhafte, allemal zu etwas nutze sind. Dem Rat eines anderen Schülers, ein Buch zu schreiben, folgt im 18. und letzten Kapitel dann auch das Versprechen "Ich probier's." Und nun ist "Tag und Nacht und auch im Sommer" bereits das dritte autobiografische Werk, in dem McCourt seinem jahrelangen Traum und dem Rat seines Schülers Folge leistet.

Wenn auch der Ausblick des Buchs ein positiver ist, so durchziehen doch eigene Zweifel an der Eignung als Pädagoge die Memoirenhandlung, untermalt durch Rückblicke auf die entbehrungsreiche Kindheit und verpasste Chancen. Schon zu Beginn des ersten Kapitels schreibt er über seine dreißigjährige Lehrerlaufbahn, "Mir kamen oft Zweifel, ob ich überhaupt am richtigen Platz war. Und am Ende fragte ich mich, wie ich mich so lange halten konnte." Unterbrochen werden die manchmal selbstmitleidigen Passagen durch wiederkehrende Lichtblicke im Schulleben, die amüsieren oder auch nachdenklich machen. So die Eröffnungsszene, in der er an seinem ersten Tag als Lehrer ein Sandwich isst, das jemand durch das Klassenzimmer geworfen hat. McCourt besteht die Antrittsprobe, indem er das reichbelegte Pausenbrot aufhebt und vor den Augen der Klasse verspeist. Seine spontane Reaktion verschafft ihm Respekt bei den Schülern.

In "Tag und Nacht und auch im Sommer" lässt McCourt seine Erinnerungen an die dreißigjährige Lehrerlaufbahn parallel zu seiner persönlichen und familiären Entwicklung ablaufen. Wenn Schüler unaufmerksam oder aufsässig werden, erzählt er Geschichten, von der traurigen Kindheit in Limerick, der katholischen Kirche, der Zeit als Hafenarbeiter, seiner ersten Liebe, dem Lehrerexamen, Vorbildern, Eheproblemen, Hin- und Hergerissensein zwischen irischer und amerikanischer Herkunft. Seine Schüler fragen immer wieder: "Wie war das, in Irland aufzuwachsen?" Er berichtet von dem alkoholsüchtigen Vater, der leidenden Mutter, sterbenden Geschwistern, Hunger und Armut.

McCourt hat Erfahrungen gemacht, die auch seinen Schülern nicht fremd sind. Eine akzentuierte Sprache zu haben, als junger Einwanderer auf sich allein in einer fremden Welt gestellt zu sein, sich seinen Platz erkämpfen zu müssen, das können die Jugendlichen nachvollziehen, entstammen sie doch selber oft Immigrantenfamilien. "Tag und Nacht und auch im Sommer" gibt wider, was er seinen Klassen über sich erzählt, aber auch, was er im Schulalltag erlebt hat: prügelnde Väter, Liebestragödien, nationale Rivalitäten, lernbehinderte Jugendliche. Oft leidet er mit seinen Schülern, empfindet sich als so klein, unwissend und unbedeutend wie sie: "Trotz all meiner Erfahrungen in Amerika fühlte ich mich immer noch wie frisch vom Schiff." Seine Erfahrungen und sein Schicksal vermischen sich mit den Schulbegebenheiten und Schülerpersönlichkeiten zu einem Schmelztiegel von Bestrebungen des Erwachsenwerdens und der Suche nach Zugehörigkeit.

Andererseits rechnet der Autor dem Leser die dreißigjährige Statistik vor. "Dreiunddreißigtausend Unterrichtsstunden: Tag und Nacht und auch im Sommer" hat er gelehrt. Er lamentiert darüber, wie es sich anfühlt, jeden Tag nur mit Jugendlichen zu tun zu haben, immer auf der Hut vor ihren Tricks. "Am Ende eines Schultages hat man den Kopf voll mit lärmenden Teenagern, ihren Sorgen, ihren Träumen. Sie verfolgen einen bis zum Abendessen, ins Kino, ins Bad, ins Bett." Eltern beschimpfen ihn als Betrüger, weil er seine persönliche Lebensgeschichte erzählt, anstatt zu unterrichten. "Halten Sie sich an die Rechtschreibliste und an die Wörter", raten sie ihm. Über die Ernsthaftigkeit seines Unterrichtsstils ist er selber im Zweifel. Er fragt sich, ob er nicht eigentlich Grammatik unterrichten sollte, anstatt die Klasse mit Geschichten ruhig zu stellen, und redet sich ins Gewissen: "Du erzählst Geschichten, dabei solltest Du unterrichten". Andererseits meint er, "Geschichtenerzählen ist auch Unterricht." Dann fällt ihm aber der mahnende Rat des Rektors ein: "Versuchen Sie's mit Unterrichten", der erneut verunsichert. Aber bei aller Kritik gibt es auch immer wieder Leute, die erkennen: "Sie haben das Zeug zu einem guten Lehrer."

Seine Suche nach der richtigen Unterrichtsmethode begleitet McCourts Suche nach seiner Identität als Mensch, Amerikaner und Lehrer. "Ich mußte selbst herausfinden, wie ich als Mann und als Lehrer sein wollte, und damit habe ich mich dreißig Jahre lang abgemüht, innerhalb und außerhalb der Klassenzimmer von New York." McCourt entdeckt Parallelen zu seinem Vater, der den Kindern Geschichten am Feuer erzählt hat, und findet über diese Verbindung zum eigenen Selbstverständnis. Er erinnert sich, dass es immer Iren gab, die durchs Land zogen und sich mit ihren Geschichten Kost und Logis verdienten. Anekdoten und Weisheiten bilden die Verbindung zu seinen Vorfahren, sind Teil der irischen Tradition, bestimmen aber auch sein Leben in New York als Lehrer und später dann als Schriftsteller. Sie geben ihm ein Zuhause in der neuen Welt.

Der irisch-amerikanische Schriftsteller teilt seine 332-seitige Lebens- und Lehrgeschichte in drei Teile. "Der lange Weg zur Pädagogik" beschäftigt sich mit dem Lehren des Lernens und dem Lernen des Lehrens an der McKee Vocational and Technical High School, einen Zeitraum von acht Jahren umspannend. Im zweiten Teil, "Nur ein Esel frißt Disteln", eröffnen sich 1966 mit dem neuerworbenen Magistergrad bessere Chancen. McCourt unterrichtet für ein Jahr an einem College, daraufhin ein halbes Jahr an einer Berufsschule. Seine Ehe kriselt, er schlägt einen Schüler und geht an eine andere High School. Er versucht, in Dublin zu promovieren, kehrt nach zwei Jahren nach New York zurück - ohne Doktortitel - und verdingt sich dann als Aushilfslehrer an verschiedenen Schulen. Der letzte Teil ist überschrieben mit "Neues Leben in Raum 205". 1971 wird seine Tochter geboren, 1972 bekommt er eine unbefristete Stelle an der angesehenen Stuyvesant High School, unterrichtet Kreatives Schreiben, steht zu seinen Wissenslücken und erlangt so etwas wie Weisheit in seinem Metier: "Allmählich fand ich meine Stimme und meinen eigenen Unterrichtsstil. Ich lernte, mich im Klassenzimmer wohl zu fühlen."

Während das bereits Ende vergangenen Jahres in Amerika erschienene Original so heißt, wie die Schüler den Lehrer rufen, nämlich "Teacher Man", unterstreicht der Titel der von Rudolf Hermstein ins Deutsche übertragenen Ausgabe "Tag und Nacht und auch immer Sommer" die Tatsache, dass McCourt sich dreißig Jahre lang mit Leib und Seele als Lehrer einsetzt. Er plant, bereitet vor, führt und setzt durch, bereitet nach. Er grübelt über Schüler, Schülerverhalten, eigenes Versagen und Zusammenspiel von Schülern und Lehrer. Es gibt gute Tage, an denen er die nächste Unterrichtsstunde "kaum erwarten" kann und andere weniger gute, in denen er seine Schüler "nicht sehen und nicht hören" will und findet, dass er seine "besten Jahre in der Gesellschaft quäkender Halbwüchsiger vergeudet" hat. Insgesamt rechnet McCourt mit seinen dreißig Jahren Lehrertätigkeit bemerkenswert offen ab. Er lässt den Leser teilhaben an seinen Hoffnungen, Wünschen, Erfolgen und auch Eitelkeiten.


Titelbild

Frank McCourt: Tag und Nacht und auch im Sommer. Erinnerungen.
Übersetzt aus dem Englischen von Rudolf Hermstein.
Luchterhand Literaturverlag, München 2006.
331 Seiten, 19,95 EUR.
ISBN-10: 3630872395

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