Ein Leben in Brüchen

Christoph Meyer legt eine umfangreiche Biografie Herbert Wehners vor

Von H.-Georg LützenkirchenRSS-Newsfeed neuer Artikel von H.-Georg Lützenkirchen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wer seine entscheidenden Fernseherfahrungen im Verlauf der 60er-Jahre im damals noch überschaubaren Dreiprogrammfernsehen mit der 'Kinderstunde' machen musste, erinnert sich an solche Tage, als die erwartete Nachmittagssendung ausfiel, weil Bundestagsdebatte war. Groß war die Enttäuschung, wenn statt "Sport-Spiel-Spannung" das ehrwürdig schwarzweiße Bild eines Rednerpults vor einer düster aufragenden Holzvertäfelung, über welchem hochwürdig das Präsidium tagte, zu sehen war. Aber das Bild prägte sich ein. Und allmählich ließen sich Figuren erkennen im Männergrau des Plenums. Vom Rednerpult aus dröhnte es. Herbert Wehner sprach.

Und wie er sprach! Wehners Reden waren auf eine heute 'altmodische' anmutende Art kraftvoll. Sie waren das Ergebnis einer mit stolzer Anstrengung ausgeführten Arbeit. Sie wurden gehalten im Bewusstsein der Verantwortung für diesen zentralen Ort der Demokratie, das Parlament. Wehner bei "Sabine Christiansen" oder einer der TV-Pseudodebattierklubs? Schwer vorstellbar...

"Herbert Wehner gehört zu den bedeutendsten Persönlichkeiten der deutschen Nachkriegsgeschichte. Ebenso ist der aus Dresden stammende Sozialdemokrat einer der umstrittensten Politiker der alten Bundesrepublik." So leitet Christoph Meyer seine mehr als 500 Seiten starke Biografie Wehners ein. Der Autor nutzt dabei "auch eine gewisse Nähe zu den Quellen". Das meint insbesondere Greta Wehner. Die Witwe des Politikers, die seit 1996 in Dresden lebt, stand dem Autor, selbst Leiter des Herbert-Wehner-Bildungswerks in Dresden, "für zahlreiche Gespräche zur Verfügung", vermittelte Zugang zu in Bonn und Dresden liegenden Akten und Unterlagen und gab vor allem "Informationen zum Privat- und Familienleben der Wehners". Aus dieser Konstellation ergibt sich auch eine gewisse Nähe zum Objekt der Darstellung. Sympathie für das Leben und Werk Wehners durchzieht das Buch und wird vom Autor auch nicht in Abrede gestellt: "Ich meine, daß aus den politischen Erfahrungen, den Schlußfolgerungen, Leistungen und Vorstellungen von Herbert Wehner im 20. Jahrhundert für politisches Handeln im 21. Jahrhundert viel zu lernen ist."

Gegen diese aus dem Geist der politischen Bildung gewachsene Meinung steht die Wahrnehmung Wehners in der Öffentlichkeit. Das Leben des 1906 in Dresden geborenen Politikers ist von markanten Brüchen geprägt. Bis zu seinem Tod 1990 blieben seine Wandlungen vom anarchistischen Revolutionär zum kommunistischen Funktionär und schließlich zum (sozial)demokratischen Gestalter Anlass zu Misstrauen und Diffamierung. "Die werden mir doch die Haut vom lebendigen Leibe abziehen" hatte er einstmals im Gespräch mit Kurt Schumacher, dem ersten Vorsitzenden der SPD nach 1945, gesagt, worauf dieser erwidert habe: "Und du bist einer, der das aushält." Nach Wehners Tod intensivierten sich die oft selbstgerecht vorgetragenen Angriffe. Vor allem die Rolle, die Wehner 1937 während der stalinistischen "Säuberungen" in Moskau gespielt hatte, geriet ins Blickfeld. Wehner, der Täter, der seine Genossen dem stalinistischen Mordapparat auslieferte? So einem wäre auch ein finsteres Intrigenspiel zuzutrauen, dem Willy Brandt nach der Guillaume-Affaire 1974 zum Opfer fiel...

Sachlich und unaufgeregt begegnet der Biograf diesen Vorwürfen. Beide Episoden sind eingebettet in in einen langen Erzählfluss, dessen Schwerpunkt eindeutig auf Wehners politische Aktivitäten seit 1945 liegt. Wehners anarchistische und kommunistische Jahre werden nur auf wenigen Seiten abgehandelt. Sichtbar wird ein Funktionär, der sich vor allem dem Aufbau eines funktionierenden Widerstands in Deutschland gegen das Naziregime verpflichtet sieht. Als dieses Anliegen aber in den Strudel der Irrungen und Wirrungen der kommunistischen Strategie gerät, ist auch der Genosse Wehner desorientiert. Er wird verhaftet und ist Verhören ausgesetzt. "Herbert Wehner [...] in die Kategorie 'Täter' oder 'Opfer' einordnen zu wollen," so resümiert der Autor, "führt nicht weiter. In Moskau herrschte eine Ausnahmesituation der totalen Überwachung und Unterdrückung." In dieser Situation wollte Wehner weiterhin politisch handeln. Als er erkannte, dass die "Säuberungen" die Vernichtung von Menschen bedeutete, ging es auch bereits um seinen Kopf. In dieser Situation "verwickelte er sich schuldhaft in die Machenschaften der stalinistischen Diktatur."

Über Schweden gelangte Wehner 1946 nach Deutschland. Er tritt der SPD bei und wird 1949 bei den ersten Wahlen in den Bundestag gewählt, dem er bis 1983 ununterbrochen angehört. Hier entfaltet sich sein politisches Potential. Maßgebend ist zunächst ein noch von Kurt Schumacher entwickeltes Oppositionsverständnis: "[...] der permanente Versuch, an konkreten Tatbeständen mit konkreten Vorschlägen der Regierung und ihren Parteien den positiven Gestaltungswillen der Opposition aufzuzwingen." Wehner entwickelt daraus als Fraktionsvorsitzender schließlich die "Gemeinsamkeitsstrategie", die 1966 zunächst die Große Koalition mit der CDU möglich macht und 1969 die Kanzlerschaft Willy Brandts.

Der Autor schildert ausführlich, wie Herbert Wehner die "Gemeinsamkeitsstrategie" Schritt für Schritt umsetzt. So beleuchtet er beispielsweise die entscheidende Rolle, die Wehner während der seit den frühen 50er-Jahren laufenden internationalen Verhandlungen spielte, die die Freilassung der letzten Kriegsgefangenen aus der Sowjetunion vorbereiteten. Mit dem CDU-Politiker Jakob Kaiser gründete er das "Kuratorium Unteilbares Deutschland", eine überparteiliche Organisation, in der die SPD erstmals kooperative Nähe mit der CDU einübte. Ebenso markant war die außenpolitische Grundsatzrede, mit der Wehner am 30. Juni 1960 ein innenpolitisches Signal der Verständigung aussandte. Der CDU-Fraktionschef Krone notierte in sein Tagebuch: "Große Debatte im Bundestag. Eine Meisterleistung Wehners. Wehner hat die Macht in seiner Partei. Er würde regieren, wenn Brandt Kanzler würde."

Wehners eigentliches Ziel war die Große Koalition, weil er in ihr die entscheidende Voraussetzung für eine konstruktive, auch die Wiedervereinigung ins Auge fassende Deutschlandpolitik sah. Wehner und Kanzler Kiesinger waren die Klammer dieses Bündnisses der maßgeblichen demokratischen Kräfte. Vor diesem Hintergrund bedeutete die sozialliberale Koalition das Ende der "Gemeinsamkeitsstrategie". Nun musste sich der loyale "Zuchtmeister" bewähren. Als SPD-Fraktionschef hielt er die Fraktion auf Kurs, mit Brandt und Schmidt bildete er die berühmte "Troika" der SPD. Doch zunehmend fühlte Wehner sich ausgegrenzt. Skeptisch betrachtete er seinerseits die Führungsqualitäten Brandts. Der Autor kolportiert die Klischees von der "Whisky-Runde" im Kanzleramt oder Brandts vagen programmatischen Äußerungen geschuldeter Spitzname "Willy Wolke". Zur Erläuterung der zwischen dem Kanzler und seinem Gefolgsmann wachsenden Entfremdung schildert der Autor eine Erinnerung Greta Wehners: Bei einer Sitzung im Kanzleramt missfielen Wehner die eleganten Stühle, der tiefe Tisch, ungeeignet Notizen zu machen. Diese auch im Ästhetischen sich äußernde Modernität blieb Wehner fremd.

Dennoch blieb er loyal, während in der Öffentlichkeit das Bild des Dunkelmanns gefiel, der den Sturz der Lichtgestalt Willy Brandt vorbereite. Wie sehr dieses Bild das Ergebnis mutwillig verzerrter Berichterstattungen war, belegt die Schilderung der Moskaureise 1973. Die während dieser Reise gegen Brandt gerichteten Aussagen waren allesamt so nicht getätigt worden. Doch sind sie bis heute geläufig.

Erkenntnisreich zu lesen sind in dieser Biografie auch die Teile, die den Privatmann Wehner vorstellen. Sichtbar wird ein Mensch, der schwer an den Brüchen seines Lebens trägt. Auszuhalten war dies sowie die zunehmend schweren gesundheitlichen Beeinträchtigungen nur, weil Wehner mit seiner Frau Lotte und deren Tochter Greta, die er nach Lottes Tod heiratete, eine außergewöhnliche Familienkonstellation glückte. In diesem Miteinander war gegenseitige Hilfe und Unterstützung selbstverständlich. Vielleicht liegt in dieser Konsequenz des Miteinanders die wahre Lebensleistung Wehners begründet.


Titelbild

Christoph Meyer: Herbert Wehner. Biographie.
dtv Verlag, München 2006.
579 Seiten, 16,00 EUR.
ISBN-10: 3423245514

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