Die Ambivalenz der Kritik

Harro Zimmermanns Chronik zu Günter Grass' Deutschlandbeziehung

Von Konstanze JungRSS-Newsfeed neuer Artikel von Konstanze Jung

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wieder einmal sorgt Deutschlands wohl berühmtester lebender Schriftsteller in diesem Jahr für Aufsehen, da sich die späte Bekanntgabe seiner kurzweiligen SS-Mitgliedschaft während der Jugendzeit nicht mit dem Bild verträgt, das Harro Zimmermann, Kulturredakteur und Privatdozent aus Bremen, als Fazit seiner Günter Grass-Chronik festhält: "In der Tat, es gab bei ihm kaum jemals eine Neigung zum national Eigentümlichen, die frei gewesen wäre von pädagogischer Reinigungsabsicht. Womöglich hält man Günter Grass deshalb seit Jahrzehnten in aller Welt für den Repräsentanten eines besseren Deutschlands." An diesem Ruf wird derzeit durch heftige Angriffe in diversen Medien gewaltig gekratzt. Schon daher ist es interessant, dem oft kontroversen Verhältnis des Literaturnobelpreisträgers zu seinen Landsleuten genauer auf den Grund zu gehen, denn nicht zum ersten Mal steht er in der deutschen wie ausländischen Öffentlichkeit im Kreuzfeuer der Kritik. Günter Grass, die Öffentlichkeit und die Medien - gerade dieses Spannungsverhältnis wird von Zimmermann auf beeindruckende, differenzierte Weise beleuchtet und kommentiert. Dabei beschränkt er sich auf die Jahre 1955-2005, in denen jene Verbindung an zentraler Bedeutung gewann.

Zweifellos liefert Zimmermanns knapp 700 Seiten umfassende Chronik vielseitige und umfangreiche Einblicke in die nicht immer konfliktlose Beziehung des Autors zu den Deutschen, aber auch die weltweite Stellung des geschätzten wie umstrittenen Schriftstellers wird ausgiebig dargestellt. So gelangen viele Details ans Tageslicht, wie die öffentliche Person Günter Grass sich zu verschiedenen politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Geschehnissen äußerte und wie seine Auftritte und die zahlreichen literarischen Werke im In- und Ausland aufgenommen wurden. Seien es "Die Blechtrommel", "Noch zehn Minuten bis Buffalo", "Katz und Maus", "Der Butt", "Die Rättin", "Im Krebsgang" oder diverse Gedichte - um nur einige Resultate seines den Zeitraum von 1955 bis 2005 umfassenden erfolgreichen literarischen Schaffens anzuführen: Die Arbeiten werden sowohl interpretiert als auch in ihrem historisch-politischen Kontext näher betrachtet, wobei gerade der Rezeption in den Medien eine besondere Bedeutung zukommt. Anhand der Wirkungsgeschichte des Autors erhält der Leser gleichzeitig einen Abriss über 50 Jahre deutscher Geschichte und die mit ihr verbundenen Besonderheiten und Konflikte.

Die Aspekte, die der Verfasser des Buches aufgreift, sind facettenreich: In insgesamt dreizehn Kapiteln werden z. B. neben der Rezeption zahlreicher bekannter und weniger bekannter Werke das Verhältnis des Schriftstellers zu SPD und CDU, Positionen zur DDR-Regierung, die er speziell wegen dort vorherrschenden unterdrückten Meinungsfreiheit mehrmals scharf kritisierte, zu den Kriegen in Jugoslawien und im Irak, zur deutschen Ausländerpolitik oder die Beziehung zu vielen bekannten Kollegen und Journalisten aus dem In- und Ausland und deren Reaktionen auf Äußerungen oder Werke des Autors thematisiert - und dies ist nur ein winziger Ausschnitt aus dem öffentlichen Leben des Günter Grass, der hier stellvertretend angeführt wurde.

Von den vielen Namen berühmter Autoren und anderer Intellektueller, mit denen Grass zusammenarbeitete, die sich entweder öffentlich zu ihm oder zu denen er sich öffentlich äußerte - und deren Verhältnis zu dem Schriftsteller in Zimmermanns Chronik Berücksichtigung findet - kann hier stellvertretend wiederum nur ein Bruchteil angeführt werden: Hans Werner Richter, Walter Höllerer, Hans Magnus Enzensberger, Johannes Bobrowski, Siegfried Lenz, mit dem er gemeinsam Wahlkampf für die SPD betrieb, Heinrich Böll, der ihm schon Jahrzehnte früher den Literaturnobelpreis wünschte - oder Theodor W. Adorno, dem er sogar ein Gedicht ("Adornos Zunge") widmete, mit dessen Interpretation und Rezeption sich ebenfalls ein ganzer Abschnitt des Buchs beschäftigt.

Mitte der sechziger Jahre verfasste Günter Grass ein - wie Zimmermann es formuliert - "mahnendes Gedicht über und an den Intellektuellen und Künstler Adorno. Offenbar nimmt der Text bewußt einige Momente von Adornos Philosophie und Ästhetik in seine Form und assoziative Gedankenbewegung auf. Und durchaus ist dem renommierten Autor Grass auch an Provokation gelegen". Wie so oft: Der Autor als Provokateur und linkspolitisch orientierter, engagierter Intellektueller steht im Zentrum der Chronik, deren Form sich anbietet und den Leser einzelne Schaffensstationen gut nachvollziehen lässt. Doch nicht nur auf gesellschaftliche, politische und kulturelle Faktoren wird rekurriert. Zimmermann bezieht u. a. auch geistesgeschichtliche bzw. philosophische Hintergründe in seine Analysen mit ein, was wiederum die Vielseitigkeit des Buches und die umfangreichen Kenntnisse seines Verfassers widerspiegelt, der sich viele Jahre als Wissenschaftler wie Journalist mit den entsprechenden Kontexten von Leben und Werk des Schriftstellers beschäftigt hat.

Aufgrund der zahlreichen authentischen Quellen treten in seinem Buch etliche Details über in- und ausländische Reaktionen auf den Autor ans Tageslicht. So ist es u. a. bemerkenswert, die Kritiken der polnischen Presse nachzulesen, da gerade Danzig als Grass' Geburtsstadt und das deutsch-polnische Verhältnis in seiner Lebens- und Werkbiografie (hier sei nur auf die "Danziger Trilogie" verwiesen) eine zentrale Stellung einnehmen. "Die Blechtrommel" durfte zunächst in Polen nicht einmal erscheinen, und auch auf die "Danziger Trilogie" hagelte es bisweilen negative Kritik; beispielsweise behauptete die Wochenzeitung "Kultura", dass Grass die Polen als "komplette Schurken" erscheinen lasse: "bedauernswerte Dummköpfe, unfähig, irgendetwas Sinnvolles zu unternehmen, geistesgestörte Brandstifter [...]" - und das, obwohl sich gerade Grass stets um die deutsch-polnische Aussöhnung bemühte und häufig versuchte, in seinen Werken antipolnische Stereotype zu entkräften.

Auf der anderen Seite wird dem gebürtigen Danziger mit kaschubischen Wurzeln anlässlich der Vergabe des Literaturnobelpreises auch von polnischer Seite große Anerkennung gezollt, was von den deutschen CDU-Politikern nicht behauptet werden kann: So wurde er von Deutschlands Nachbarn jenseits der Oder auch als "Freund Polens" oder "unser Danziger Kaschube" gefeiert. Dies und die unzähligen anderen Kommentare aus verschiedenen Medien zeigen zugleich, wie schnell eine öffentliche Persönlichkeit hochgejubelt und zerrissen werden kann - was gerade bei den aktuellen, z. T. sehr unsachlichen und polemischen Pressekampagnen wieder einmal deutlich geworden ist.

Auffällig bei der Lektüre des Buchs ist allerdings die Verwendung überaus vieler Zitate, wobei es sich häufig um Kritiken und Stellungnahmen aus diversen Tageszeitungen handelt, die zwar einerseits - wie Zimmermann im Vorwort bemerkt - Authentizität vermitteln, streckenweise jedoch auch eine gewisse Zähigkeit des Leseflusses hervorrufen. Demgegenüber stehen die in lebhaftem, manchmal journalistischem Stil geschriebenen Anmerkungen und Interpretationen des Verfassers, welche der Vermittlung der Fülle von Informationen oft Spannung verleihen. Dass allerdings die Vorgeschichte um Grass nahezu unerwähnt bleibt und der Leser, dem man gerade am Anfang der Chronik ein umfangreiches Vorwissen über dessen Leben und Werk abverlangt, gleich mit einem schaffenden Autor der 1950er-Jahre konfrontiert wird, lässt den Beginn etwas abrupt erscheinen.

Dies ändert sich jedoch nach den ersten Seiten, und gerade die Mischung aus - häufig provokant wirkenden - Zitaten und dem streckenweise feuilletonistischen Stil des Autors macht das Buch einem breiteren Leserkreis zugänglich. Zudem stellt es für die Grass-Forschung, gerade aufgrund der zahlreichen Dokumente und der Widerspiegelung eines Stückes Zeitgeschichte, eine unerlässliche Quelle dar.


Titelbild

Harro Zimmermann: Günter Grass unter den Deutschen. Chronik eines Verhältnisses.
Steidl Verlag, Göttingen 2006.
688 Seiten, 28,00 EUR.
ISBN-10: 3865212492

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