Von der Selbst(er)findung des Subjekts

Der von Christian Moser und Jürgen Nelles herausgegebenen Band "AutoBioFiktion" versammelt acht Beiträge zu Fragen der Konstruiertheit menschlicher Identität

Von Jens ZwernemannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jens Zwernemann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Werbung verkündet es schon lange: Die Vorstellung vom unveränderlichen, "authentischen" Selbst ist passé, man (respektive frau) kann und muss sich ständig neu erfinden, aus dem einengenden "Entweder-oder" traditioneller Rollenkonzepte ist ein lustvolles "Sowohl-als-auch" geworden, das zum Spiel mit Identitäten einlädt. Dass das Aufbrechen traditioneller Identitätsvorstellungen jedoch weitaus mehr ist als nur Teil einer gelungenen Werbekampagne, wird spätestens bei der Lektüre der Einleitung von Christian Moser und Jürgen Nelles deutlich: Sie verabschieden darin essentialistische Konzepte des Selbst als endgültig überkommen und vertreten stattdessen die Annahme, dass sich das "post-moderne" Individuum in der kulturellen Praxis des "(Auto-)Biographischen" nicht nur konstituiert, sondern vor allem selbst konstruiert. Doch, so wird argumentiert, während die einschlägigen Theorien Michel Foucaults und Jerome Bruners noch davon ausgingen, dass das Subjekt danach strebe, sich stets als einheitliches Wesen zu konstruieren, bedürfe es nun neuer, kulturwissenschaftlich orientierter Herangehensweisen, um dem collagehaften Charakter individueller Identität Rechnung zu tragen. An diese grundlegenden Vorüberlegungen schließen sich sieben Beiträge an, in denen die Identitätsproblematik aus philosophischer, kunsthistorischer, musik- sowie literaturwissenschaftlicher Perspektive betrachtet wird. Aus diesen seien drei besonders prägnante Artikel herausgegriffen.

In ihrem erhellenden Beitrag zu Dmitrij Schostakowitsch widmet sich Bettina Schlüter vor allem der Frage der Authentizität von Fremd- und Selbstbildern. Ausgehend von Schostakowitschs "Leningrader Sinfonie" untersucht sie zunächst autobiografische Deutungen, die sich aus der formalen Gestaltung des Werks sowie den Umständen seiner Verbreitung ergeben; nachfolgend weitet sie ihre Argumentation jedoch deutlich über das Feld der Musikwissenschaft hin aus. Vor dem Hintergrund von Shoshana Felmans und Dori Laubs Studie "Testimony" analysiert Schlüter unterschiedliche Lesarten der Autobiografie Schostakowitschs, die 1979 posthum - ebenfalls unter dem viel sagenden Titel "Testimony" (deutsch: Zeugenaussage) - erschien. Dabei steht bereits die "Authentizität" des Textes an sich in Frage: Hervorgegangen aus Gesprächen Schostakowitschs mit einem Journalisten, von diesem aufgezeichnet, zu einem Gesamttext arrangiert und schließlich durch den Komponisten abgesegnet, präsentiert sich die Auto-Biografie selbst als nur mittelbarer Ausdruck eines sich spät erinnernden Subjekts. Weiterhin ergänzt durch eine Reihe von Fotografien, die ein jeweils anderes Schostakowitsch-Bild kommunizieren, wird die eponyme "Vielstimmigkeit des Dmitrij Schostakowitsch" schließlich als transmediales Phänomen charakterisiert. Die Vielzahl von Einzelbildern lässt sich allerdings, wie Schlüter überzeugend aufzeigt, nicht zu einem einheitlichen, "wahren" Bild zusammensetzen, sondern bleibt ein Geflecht heterogener, im Falle Schostakowitschs vor allem politisch und ideologisch motivierter Interpretationen.

Auch für Volker C. Dörr ist die Rezeption von (vermeintlich) autobiografischen Zeugnissen von zentraler Bedeutung. Er untersucht die Reaktionen auf den 1998 erschienenen Roman "Die Brücke vom Goldenen Horn" von Emine Sevgi Özdamar, dem als Werk der so genannten "Migranten Literatur" bereits per se ein autobiografischer Charakter unterstellt wurde. Somit, so die dominante Meinung damaliger Rezensenten, brächte der Roman nicht nur die "authentischen" Erfahrungen einer Einzelperson zum Ausdruck, sondern könne gleichzeitig als Form einer Kollektivbiografie aller türkischen Migranten in Deutschland gelten -ein Trugschluss, wie Dörr darlegt. Die populäre Vorstellung, dass Migranten in einem ständigen Konflikt zwischen unterschiedlichen kulturellen Mustern leben, wird mit Blick auf Feridun Zaimoglus Buch "Kanak Sprak" widerlegt. Aus den 24, allein schon aufgrund der erzeugten Authentizitätsfiktion bemerkenswerten Interviews mit Deutsch-Türken wählt Dörr eine Aussage aus, anhand derer er das Konzept der Transkulturalität illustriert: Demnach sind Individuen (Migranten und Nicht-Migranten gleichermaßen) nicht mehr nur einer bestimmten Kultur verhaftet, sondern vereinigen verschiedene Elemente einer mehr oder minder großen Zahl unterschiedlicher Kulturen in sich.

Um das Verhältnis von Selbst und Anderem schließlich geht es auch Christian Moser. In seinem Beitrag - dem mit Abstand umfangreichsten des Bandes - setzt er sich mit Autoethnografien auseinander. Dabei handelt es sich allgemein gesprochen um Strategien des "Sich-selbst-Fremdwerdens" und der anschließenden Selbsterkundung bzw. -konstruktion. Besonders ausgeprägt sind die diesbezüglichen Schreibweisen, so Moser, an der Schnittstelle zwischen Subjekttheorien und Kulturkonzepten: im Werk von Ethnografen. Ausführliche Analysen von Bronislaw Malinowskis "A Diary in the Strict Sense of the Term" (1967) und Margaret Meads "Blackberry Winter" (1972) verdeutlichen die Unmöglichkeit, als schreibendes Subjekt die Betrachtung des Anderen scharf von einer Reflektion über das eigene Selbst zu trennen.

Ursprünglich als Vorträge im Rahmen einer Ringvorlesung an der Universität Bonn konzipiert, vermögen nicht alle Beiträge die Prämissen der Einleitung gleichermaßen zu erfüllen. Dennoch demonstrieren die unterschiedlichen Herangehensweisen sowohl die Möglichkeiten fachwissenschaftlicher Grenzüberschreitungen als auch die ungebrochene Aktualität der Identitätsproblematik. Allerdings wäre der Band sicherlich noch lesenswerter geworden, hätte man zumindest eine der durchaus existierenden Gegenpositionen zur Annahme von der völligen Konstruiertheit des Subjekts mit einbezogen.


Titelbild

Christian Moser / Jürgen Nelles (Hg.): AutoBioFiktion. Konstruierte Identitäten in Kunst, Literatur und Philosophie.
Aisthesis Verlag, Bielefeld 2006.
195 Seiten, 24,80 EUR.
ISBN-10: 3895285498

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