Benjamins Befreiungstheologie im 21. Jahrhundert

Helmuth Thielens politische Lektüre des Benjamin'schen Messianismus

Von Johan Frederik HartleRSS-Newsfeed neuer Artikel von Johan Frederik Hartle

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Hauptachsen der Benjamin-Rezeption haben sich seit einiger Zeit auseinander entwickelt. Eine eher sentimentale Lektüre der theologischen Spuren im Denken Benjamins steht der technisch-politischen gegenüber, die sich am Kritischen Theoretiker und Medienphilosophen orientiert. Helmuth Thielen bemüht sich anhand des Gleichnisses von der theologischen Puppe im materialistischen Zwerg, den theologischen Benjamin an den Kritischen Theoretiker zurückzubinden. Messianismus und Ökonomiekritik finden dabei zu einer Einheit, die die Rezeption nachhaltig bereichern könnte. Dies vor allem, da Benjamin auf die Gegenwart der politischen Kämpfe bezogen und in den Kontext der südamerikanischen Befreiungstheologie gerückt wird.

Aber die Theologie ist, Benjamins berühmtem Gleichnis zufolge, zu einem hässlichen Zwerg geworden. Sie hat sich in der Schach spielenden Puppe des Materialismus zu verstecken, der seinerseits Gefahr läuft, leblos und mechanisch zu werden. Angesichts der drückenden Plausibilität der Religionskritik sei es der Theologie seit Benjamins Zeit nicht mehr möglich, offen in Erscheinung zu treten, während der positivistisch und technokratisch gewordene Materialismus (Benjamin schreibt vor dem Hintergrund des Hitler-Stalin-Paktes) für seine entscheidenden Schachzüge doch eine theologische Kraft bemühen müsse.

So entfaltet Helmut Thielen die Dialektik von Materialismus und Theologie, wie sie für die Denker des frühen westlichen Marxismus - von Lukàcs bis Adorno, von Bloch bis Horkheimer und eben Benjamin - zentral war, als einen Dialog. Die theologische Distanz zum Betrieb motiviert erst die entscheidenden Schachzüge des Materialismus: den Erlösungsgedanken. Umgekehrt schützt der Marxismus die Theologie vor reinem Kirchenglauben, vor einer praxisvergessenen "Theologie ohne Gott", der die Einrichtung der Welt als Tagesordnungspunkt abhanden gekommen ist.

Eingedenken und Erlösung sind dabei die Schlüsselbegriffe. Sie strukturieren die Verantwortung für die Verstummten sowohl vergangener Generationen als auch für diejenigen, die im politischen Feld keine Stimme haben - die Armen als philosophische Kategorie, wie sie Jacques Rancière, aber auch Michael Hardt und Antonio Negri vorgestellt haben. Somit suggeriert bereits der Titel das theologische Projekt, das Thielen vor Augen steht.

Untermalt durch Strategien und Intentionen der südamerikanischen Befreiungstheologie und in den Kontext der neuen sozialen Basisbewegungen gerückt, verbindet Thielen Benjamin mit der jüngeren politischen Erfahrung Lateinamerikas, in der die politische Hoffnung auch als theologische Kategorie zentral wurde. Insbesondere Benjamins Fragment über "Kapitalismus als Religion" zeigt für Thielen eine Affinität zwischen dessen Kritischer Theorie und südamerikanischer Befreiungstheologie an. Es erscheint zu jeder Zeit als plausibel, dass Benjamins Gesellschaftskritik in doppelter Hinsicht auch Theologiekritik war.

Luzide arbeitet Thielen den theologischen Kontext nicht nur Benjamins heraus. Wenn er die Kritische Theorie um Benjamin, Adorno, Marcuse und Horkheimer auch manchmal etwas vereinheitlicht, so gelangt er dennoch an ihren theologischen Kern, wie das bis dato vermutlich nur Christoph Türcke gelungen ist. Sehr erhellend ist in diesem Kontext unter anderem die Darstellung der Benjamin'schen Kritik der Theokratie - ein Konzept, das von Lukàcs und Bloch bei voller Sympathie für Stalin affirmativ Verwendung fand. Benjamin ist in seiner Auseinandersetzung mit der Theokratie Anarchist und zwar dahingehend, dass er (nach der Terminologie seiner "Kritik der Gewalt") eine Recht setzende Gewalt, die messianische Kraft einer unermüdlichen Umwälzung ins Zentrum seines theologischen Interesses rückt.

Die besondere Bedeutung von Thielens Buch besteht nun vermutlich aber nicht so sehr darin, Benjamin konsistenter zur rekonstruieren, als es die disparaten Hauptlinien seiner Rezeption sonst so oft getan haben. Das ist höchstens ein weiteres Verdienst. Aber es geht Thielen nicht um Benjamin allein. Hervorragend ist Thielens Buch vor allem aufgrund des Versuchs, die Tradition der Kritischen Theorie, wie er sie tatsächlich als einen Gesamtkontext rekonstruiert, an die Gegenwart des politischen Widerstands und die utopische Erfindung neuer Lebensformen heranzuführen. Benjamin wird durch die Feder Thielens zu einem Denker der Sozialforen, der Landlosen und Neozapatisten, und man darf annehmen, dass diese Aktualisierung deutlich mehr im Geiste Kritischer Theorie liegt als ihre zwar institutionell autorisierte, politisch jedoch grünliberale und rechtssozialdemokratische Reformulierung im Anschluss an Jürgen Habermas.

Doch genug des Lobes. Denn außer dem Recht der Sache wird auch dem Recht des Lesers einmal das Wort geredet werden müssen. Denn Thielens Buch ist zwar zweifellos reich an produktiven Ideen, an polemischen Spitzen und fundierten Einschätzungen, nicht zuletzt an solchen zur Entwicklung des gegenwärtigen Weltkapitalismus. Seine systematisch-politischen Intentionen sind nicht nur edel, sondern vor allem wirklich an der Zeit. Sie stehen im aktuellen Geschehen. Allerdings ist Thielens Buch nicht gerade klar gegliedert und durch die zahlreichen Verweise und Bezüge mitunter denkbar diffus. Die sehr allgemein und manchmal etwas zu essayistisch gehaltenen Zwischenüberschriften (die schon vom Layout her nicht klar hierarchisiert sind) helfen hier schwerlich weiter. Und auch die Befreiungsrhetorik lässt manchmal vermuten, dass sie beschwören soll, was - mangels Praxis - schon an Selbstverständlichkeit verloren hat.

Dass Thielen in jeder Stufe seiner Argumentation den Benjamin aus allen Phasen vor Augen hat und ihn mit dem westlichen Marxismus überhaupt sowie mit zahlreichen höchst unterschiedlichen Theologien (von Barth bis Buber und von Bonhoeffer bis Boff) überblendet, macht seine Grundintention nicht gerade eingängiger. Süffisante und polemische Seitenhiebe (mit Vorliebe gegen Habermas) schießen inmitten dieser Bedeutungswolken dann auch manchmal übers Ziel hinaus.

Im Zuge seiner Benjamin-Rekonstruktion macht Thielen zwar einige linke Theoreme plausibel, indem er sie reformuliert. Für mindestens ebenso viele (und selten unproblematische) gilt, dass er sie lediglich in Anspruch nimmt. Entfremdete Arbeit und Warenfetischismus sind ihm gängige Vokabeln. Man möchte ihn solidarisch darum bitten, auch solche Konzepte einmal systematisch zu rekonstruieren und an aktuelle Standards der Theoriedebatten heranzuführen. Andernfalls wird der Ertrag, den sein Buch bringt, durch zahllose Hypotheken schnell in den Abgrund gerissen.

Vielleicht wäre es insofern in Thielens und auch Benjamins Sinn, wenn man das Buch als ein kleines Archiv begreift, in dem man, gewissermaßen wie ein Lumpensammler, so allerhand brauchbare Texturen findet. Man findet sie allemal, und es bleibt der Kreativität des Lesers überlassen, aus ihnen einen eigenen theoretisch-politischen Flickenteppich zu nähen.


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Helmut Thielen: Eingedenken und Erlösung. Walter Benjamin.
Verlag Königshausen & Neumann, Würzburg 2005.
375 Seiten, 39,80 EUR.
ISBN-10: 3826029925

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