Jeder sein eigener Held

Heinrich Breloers Sammlung deutscher Tagebücher aus den Jahren 1939 - 1947

Von Katharina IskandarRSS-Newsfeed neuer Artikel von Katharina Iskandar

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Langsam nur kann man das Gelesene verarbeiten. Eingetaucht ist man in fremde Geschichten und Gedanken, die von so unterschiedlichem Charakter zeugen, aber dennoch alle eines gemeinsam haben: Es sind Geschichten, die vom Leben im Zweiten Weltkrieg erzählen. "Geheime Welten" hat Heinrich Breloer sein neues Werk genannt: eine Auswahl an Tagebuchnotizen, die er in langjähriger Arbeit und mühsamer Suche zusammengetragen hat.

Breloer, der bereits etliche Preise für seine Dokumentationen erhielt, lässt mit diesem Werk ein Stück schreckliche Weltgeschichte auf intensivste Weise lebendig werden. In vier Kapiteln hat er Gedanken und Gefühle von Menschen zusammengefasst, die auf ganz unterschiedliche Weise Freude und Glück, aber auch Schmerz und Trauer erfahren haben. "Tagebuchschreiber erleben das Abenteuer, selber der Held einer Geschichte zu sein: der Geschichte ihres Lebens", schreibt er im Vorwort. Und wahrlich, in den zwölf Tagebucheintragungen ist jeder sein eigener Held.

Der in Gelsenkirchen geborene Autor und Regisseur konfrontiert den Leser mit persönlichen Eindrücken, die zu der Zeit des Nationalsozialismus vor allem in den dreißiger und vierziger Jahren entstanden sind. Dabei hat er sowohl Tagebuchnotizen von Befürwortern des Nazi-Regimes als auch von vehementen Gegnern ausgewählt. Die Berichte sind vielseitig: Einige halten überwiegend politische Ereignisse fest, andere geben einen tiefen Einblick in die Gefühlswelt des Verfassers. Eines dieser Schicksale ist das der Lisa S. aus Hamburg, die zuerst ihr Haus und ihre Familie verloren hat, später eine unglückliche Liebesbeziehung zu einem Kriegsgefangenen durchlitt. "All dies Grauen konnte man auch erst allmählich und heute noch nicht ganz begreifen. So etwas Ungeheuerliches, nie Dagewesenes ist es. Nach und nach fallen einem erst die Dinge alle ein, die mit verlorengegangen sind, und dann kommt erst die Trauer um all die Sachen, die man geliebt hat und die auf ewig verloren sind", schreibt sie.

Gleichzeitig wird der Leser aber auch Zeuge von politischen Ereignissen, die zwar längst Vergangenheit sind, jedoch in Breloers "Geheimen Welten" wieder präsent werden. Mit Erstaunen lesen sich die Tagebucheintragungen des damaligen Schülers Ulli S. Unter dem Titel "Hier spricht der Feind" schreibt er seinen Hass und seinen Unglauben an den Geschehnissen in den Konzentrationslagern nieder, die ihn Tag für Tag begleiten. In stillem Widerstand befreit er sich mit seinen Notizen von seinen Ängsten und einer abgrundtiefen Verachtung gegenüber dem Feind.

Heinrich Breloers Auswahl an Tagebüchern ist nicht bloß eine Mischung aus persönlichen Gefühlen und politischem Desaster. Sie ist weitaus mehr. Der Autor, der sich stets für eine andere Sichtweise kritischer Themen interessiert hat, konfrontiert den Leser mit Gedanken und Gefühlen von einfachen Leuten, die zu dem entscheidenden Thema, das ihr ganzes Leben beherrscht hat, nie zu Wort gekommen sind - außer in ihren Tagebüchern. Breloer zeigt, wie es ist, im Krieg zu leben: immer in der Angst des nächsten Bombenangriffs, immer in der Angst vor noch mehr Greueltaten. Schließlich spricht er mit seiner Auswahl auch die Frage an, die heute ein Tabuthema ist: Warum haben die Menschen mitgemacht? Wussten sie nicht, was sich hinter der Propaganda der Nazis verbirgt? "Geheime Welten" gibt Antworten: In Berichten, die von traumatischer Ohnmacht und mangelnder Verantwortungsbereitschaft zeugen. "Was haben die NS für Verbrechen an Juden, Polen usw. begangen! Wer verantwortet das heute? Wer soll dafür büßen? Vielleicht der kleine Mann, der Soldat, der gegen den Befehl der Machthaber nichts machen konnte, sondern einfach hingehen und seine Pflicht tun musste???!", heißt es in einem Bericht.

Nach Walter Kempowskis "Echolot" wird der Leser erneut konfrontiert mit ganz persönlichen Geschehnissen von Menschen, die den Nationalsozialismus auf ganz unterschiedliche Weise erlebt haben. Breloer hat damit eine Sammlung von zwölf Berichten geliefert, mit denen man sich zwangsläufig auseinandersetzen muss. Man ist eingetaucht in "Geheime Welten" - was bleibt, ist Melancholie.

Titelbild

Heinrich Breloer: Geheime Welten. Deutsche Taschenbücher aus den Jahren 1939 bis 1947.
Eichborn Verlag, Frankfurt 1999.
340 Seiten, 25,30 EUR.
ISBN-10: 3821841818

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