Aus dem Novemberland

Der aufwändige Band "Fünf Jahrzehnte" gewährt Einblicke in Günter Grass' künstlerisches Schaffen als Maler und bildender Künstler

Von Konstanze JungRSS-Newsfeed neuer Artikel von Konstanze Jung

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der von Grass verfasste Werkstattbericht zeigt den Autor von einer Seite, die neben seinem literarischen Werk meist untergeht: als Maler und bildenden Künstler. Hierbei handelt es sich - wie auf der letzten Seite des Buches festgehalten - um die Fortsetzung eines bereits 1991 publizierten ersten Teils, der den Titel "Vier Jahrzehnte" trägt und sein Schaffen bis kurze Zeit nach der Wiedervereinigung dokumentiert. Das nachfolgende Buch, das zahlreiches Bildmaterial enthält, ist mit der Überschrift "Fünf Jahrzehnte" versehen und umfasst den Zeitraum von Ende der 1940er Jahre, als der Schriftsteller in Düsseldorf sein Studium der Bildhauerei begann, bis 2004.

Es wird speziell das Auge des Lesers angesprochen: Seien es Skizzen, Aquarelle, Radierungen oder Abbildungen von Skulpturen - es wird deutlich, dass Grass' Schaffen auf dem Gebiet der Malerei und der bildenden Kunst ebenso vielseitig ist wie sein literarisches. Unter den Zeichnungen sind viele zu finden, die als Illustrationen zu berühmten Texten des Schriftstellers - wie z. B. "Der Butt", "Katz und Maus" oder "Die Rättin" - entstanden sind. Auffällig sind in diesem Zusammenhang eine Reihe von Tiermotiven, die meist in verschiedenen Fassungen vorkommen, beispielsweise Hühner, Ratten, Kröten oder Fischmotive. Der Bezug zu den literarischen Werken ist häufig unverkennbar. Zudem kommentiert der Autor seine Texte, berichtet über deren Entstehung und schildert entsprechende berufliche oder private Hintergründe.

Ergänzt werden diese Informationen durch verschiedene Fotos von öffentlichen Auftritten, mit Schriftstellerkollegen oder aus dem Familienleben. So zeigt dieses Buch auch eine ganz private Seite des Literaturnobelpreisträgers. Hier sei u. a. auf das 1996 entstandene Aquarell verwiesen, das Grass seinen drei Töchtern gewidmet hat.

Neben den Zeichnungen, Fotos und Faksimiles handschriftlicher Entwürfe enthält das Buch verschiedene, bislang kaum bekannte Gedichte; sie werden vom Verfasser ebenfalls kommentiert und im Blick auf ihren Entstehungskontext erläutert. Dabei wird in vielen Fällen deutlich, welche Gedanken ihn gerade zu diesen - von der Kritik zum Teil vernachlässigten - lyrischen Texten bewegten. So bemerkt Günter Grass beispielsweise zu Gedichten, die in den frühen 1990er Jahren aus aktuellem Anlass entstanden sind: "Zwischendurch und angestoßen von Mord- und Brandanschlägen, die in Ost und West gezielt ihren Ort fanden und deren Opfer Ausländer waren [...], schrieb ich unter dem Titel "Novemberland" dreizehn Sonette [...]. Warum Sonette? Die breit gestreut unterschwellige Abwehr gegen alles, was fremd ist, so aussieht [...], zudem die regierungsamtliche Härte Asylsuchenden gegenüber, diese diffuse Gemengelage verlangt nach einer strengen Form."

Allerdings werden Erklärungen wie diese meist nur knapp und kurz skizziert. So bietet der Werkstattbericht zwar allen, die am künstlerischen Œuvre von Grass interessiert sind, etliche neue Informationen und besitzt durchaus einen gewissen Unterhaltungswert. Für Literaturwissenschaftler hingegen ist das Potential neuer Einsichten eher begrenzt. Wer auf der Suche nach ergiebigen Erläuterungen zu den literarischen Texten ist, wird hier nur selten fündig werden. Die Zeichnungen und Illustrationen nehmen in diesem opulenten Bildband weitaus größeren Raum ein als die weiterführenden Kommentare. Kurz und gut - es handelt sich um ein Grass-Werk der anderen Art.


Titelbild

Günter Grass: Fünf Jahrzehnte. Ein Werkstattbericht.
Steidl Verlag, Göttingen 2004.
471 Seiten, 49,50 EUR.
ISBN-10: 3865210511

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