Sprache des Mythos oder Mythos der Sprache

Stephanie Waldow entwickelt eine Theorie der allegorischen Intertextualität und liest damit die Moderne neu

Von Romy MarschallRSS-Newsfeed neuer Artikel von Romy Marschall

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Zerstörung und Erneuerung sind zwei Schlagworte, denen man in jüngster Vergangenheit wieder erstaunlich oft begegnet. An allen Enden wird plötzlich Produktivkraft nötig, die sich aus einer Zerstörung heraus motiviert. Stephanie Waldow widmet sich diesem Zusammenspiel von Destruktion und Montage im historischen Kontext und versucht eine Re-Lektüre der Moderne.

In einer Zusammenschau philosophischer Überlegungen von Benjamin, Cassirer und Blumenberg entwickelt sie dafür eine Theorie der allegorischen Intertextualität und zeigt, wie Splitter der Zerstörung etwas revitalisieren können, das sich als utopischer Fluchtpunkt der Gegenwart entzieht. Ein Produktionsmodus, der als "Lektüre in Konfigurationen" den Ur-Mythos kulturell wiederholt, das heißt ihm eine zweite Gegenwart verschafft.

Den Blick richtet Waldow dazu auf das Spannungsverhältnis von Sprache und Mythos. Sie wählt drei kulturphilosophische Konzepte, deren Kernaussagen sie als "Philosopheme" in ihre Theorie münden lässt. In ihrer Lesart stellen Allegorie, Symbol und Metapher deshalb einen gemeinsamen Modus dar, der durch Prozesshaftigkeit gekennzeichnet ist. Umgemünzt wird das Wechselspiel vom auseinander brechendem Zitat und zusammenfügendem Intertext in ein die Moderne prägendes poetologisches Konzept.

Ausgangspunkt der Überlegungen ist Benjamins Idee der reinen Sprache, deren Verlust sich als Melancholie der Moderne auswirkt. Waldow interpretiert die verlorengegangene Namensprache als "utopischen Fluchtpunkt", der gleichsam Quelle ist für die Arbeit am "Mythos der reinen Sprache". Die allegorische Intertextualität beschreibt dabei einen Modus von Produktivität, der durch den Prozess der Vergegenwärtigung und gegenseitigen Korrespondenz sich der reinen Sprache wieder annähert. Durch ihre Funktionsweise wird die Arbeit selbst mythisch und mit Blumenberg zu einer absoluten Metapher, weil sie benennt, ohne zu benennen.

Waldow bringt damit "Sprache an die Schwelle zwischen Unsagbarem und Sagbarem" und benutzt Benjamins Konzepte des Eingedenkens und der Mimesis, um eben nicht durch einen Medienwechsel zum Bild, sondern gleichsam innersprachlich einen Weg aus der Sprachkrise zu finden. Vielleicht könnte man sagen, das allegorische Stöbern zerplittert die Sprache, bis nur noch sich selbst reflektierende Monaden übrigbleiben. Jene erfahren, gelesen als Schrift, ihre bloße Materialität und dann über die Intertextualität eine Verdichtung zum Bild und verdeutlichen somit die "immanente Bildlichkeit der poetischen Sprache".

Indem Vergegenwärtigung im Zitat als Voraussetzung für Nach-leben und Tradierung apostrophiert wird, gewinnt sie der Zerstörung eine "konstruktive Humanität" ab. Durch ihre Bildhaftigkeit erinnert eben auch die Sprache selbst an die reine Sprache. In der poetischen Klage über ihren Verlust wird sie wiedergeholt mit Hilfe zitierter Fragmente, die durch ihr Erinnern und Verweisen auf die ursprüngliche Namensprache ein Nachleben überhaupt erst möglich machen.

Die "Praxis des Zitierens stellt also einen kreativen Umgang mit dem Absolutismus dar", die eine Lust am Text erzeugt und spiegelt. So ist denn auch diese Arbeit ein wirklich schönes Kompendium an einschlägigen Zitaten, die an vielen Stellen - auch und besonders aufgrund der Losgelöstheit von nur paraphrasierter Forschungsliteratur - zum Weiterdenken und Träumen einladen und auffordern.

Immer wieder geht es nicht um die "Auflösung des Zwischenraums", sondern um seine "produktive Nutzung". Genau dies scheint gelungen, wenn der Zwischenraum nicht aufgelöst wird durch ausufernde Forschungsinterpretation, sondern jene produktiv genutzt aus den Fußnoten mit den eigentlichen Texten korrespondiert und sie somit erhellt und ausleuchtet. Es ließe sich auch sagen, die Arbeit ist getrennt nach Text und Übersetzung: Finden sich Benjamin, Cassirer und Blumenberg im Fluss, stehen die am Mythos Arbeitenden auf tönernen Füßen. So wird gleichsam eine interlineare Lektüre vom Leser dieses Buchs verlangt, der sich der teils sehr amüsanten Gegenrede verschiedener Pole hingibt, die eben hier vielmehr eine Gegenrede ist als Destruktion. Einfach eine Arbeit am Material.

Waldow beschreibt, wie "überbordender Textfluß" und "unendlicher Verweisungszusammenhang" den Mythos depotenzieren im Schreiben der Moderne. Sie selbst betreibt in diesem Sinne auch eine Arbeit am Mythos der Moderne, weil sie dieselben Gestaltungsstrategien verwendet. Und so ist es manchmal eine echte Herausforderung, wenn die wissenschaftliche mit einer eher schon poetischen Sprache changiert oder die vorgreifenden Verweise lange nachklingen und in wiederkehrenden Wellen das Buch begleiten.

Hin und wieder wirkt aber leider die Theorie wie "vor das Bild [des Mythos] gezerrt", wenn am Ende gerade das utopische Moment wieder ausgelöscht scheint. Schließlich werden alle entscheidenden Begriffe daraufhin abgeklopft, ob sie ihr entsprechen, und es schwebt der Versuch im Raume, alle Konzepte als scheinbar identische Modi zu entlarven, sozusagen als Gangart der Bewegung zwischen Destruktion und Montage.

Etwas offen bleibt die Frage, ob die allegorische Intertextualität die Sprache des Mythos ist oder der Mythos der Sprache. So wie sich Text und Übersetzung begegnen, ohne sich zu treffen, so "stört die absolute Metapher den Textfluß" und die der Rezensentin begegnenden Ideen, wegen derer sie am Ende gleich wieder von vorne anfangen möchte mit ihrer Arbeit am "Mythos der reinen Sprache".

Anmerkung der Redaktion: Romy Marschall ist Mitarbeiterin am Zentrum für Literatur- und Kulturforschung.


Titelbild

Stephanie Waldow: Der Mythos der reinen Sprache. Walter Benjamin, Ernst Cassirer, Hans Blumenberg. Allegorische Intertextualität als Erinnerungsschreiben der Moderne.
Wilhelm Fink Verlag, Paderborn 2006.
297 Seiten, 39,90 EUR.
ISBN-10: 3770542401

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