"Verdammte Nachtkritik!"

Theodor Lessings Ausflüge in die Theaterkritik in der Göttinger Wintersaison 1906/1907

Von Oliver PfohlmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Oliver Pfohlmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Im Winter 1906 wurde die Redaktionsstube der "Göttinger Zeitung" von einer Welle der Empörung getroffen. Es hagelte anonyme Protestbriefe und Drohungen, das Abonnement zu kündigen. Was war geschehen? Ein neuer Theaterkritiker hatte sein Amt angetreten. Und hatte mit spitzer Feder die Inszenierungen des Stadttheaters so ernst genommen, als wäre Göttingen nicht Göttingen, sondern Berlin. Nun sollte er sich mäßigen. "Nein, zum Teufel, ich tu es nicht. Menschen, vor denen ich Ehrfurcht habe, muß ich scharf und streng beurteilen dürfen. Ich bin nicht 'wohlwollend'. Schon das Wort ist ein unverschämter geistiger Hochmut. Ich bin nicht 'tolerant'. Ach, wenn ihr Menschen liebtet, ihr brauchtet sie nicht zu 'dulden'. Ich bin nicht 'positiv'. Es gibt nichts Positiveres als Häusereinreißen und Bombenwerfen. Das tätet ihr ja doch niemals, sanft lebende Fleische von Wittenberg. Also behaltet diese Tugenden. Hinter jeder steckt eine kleine Feigheit und eine große Eitelkeit."

Dabei war Theodor Lessing alles andere als ein Anarchist. Heute ist von dem deutsch-jüdischen Kulturphilosophen nur noch sein Buch über den "Werwolf" Fritz Haarmann bekannt. Seinerzeit war dieser brillante Feuilletonist eine der prominentesten Stimmen der Weimarer Republik. Den Nazis war er so verhasst, dass sie ihn in seinem Marienbader Exil bereits 1933 ermorden ließen.

1906 stand Lessing mit 34 Jahren noch am Beginn seiner Karriere. Eigentlich war er in die Stadt an der Leine gekommen, um sich bei dem Philosophen Edmund Husserl zu habilitieren. Daraus wurde freilich nichts. Lessing saß abends lieber bis weit nach Mitternacht im Café Hapke, dem Künstlertreff der Stadt. Dort schrieb er eine Saison lang unmittelbar nach den Vorstellungen seine "Nachtkritiken". Sein Biograf Rainer Marwedel hat sie jetzt wieder ausgegraben und umfassend kommentiert: Lehrstücke für Rezensenten und Bühnenmenschen, Pretiosen für Theaterliebhaber. Seinerzeit waren sie Stadtgespräch.

Denn für die Generationen um 1900 besaß das Theater eine Bedeutung, die man sich heute nur noch schwer vorstellen kann. Als der Film noch in den Kinderschuhen steckte, versammelte sich das Bildungsbürgertum vor den Brettern, die damals noch die Welt bedeuteten, nicht nur im theaterverrückten Berlin, auch in der Provinz. Theodor Lessing war da ganz Kind seiner Zeit: In seiner zeitgleich entstandenen "Göttinger Dramaturgie", die ebenfalls in diesem Band enthalten ist, rühmt er das Theater nicht nur als die wichtigste Quelle für Kulturwissenschaftler. Beeinflusst von Schopenhauer, Nietzsche und der Lebensreformbewegung der Jahrhundertwende, erhebt er das Theater gar zum Sinngeber der menschlichen Existenz. In seinen Skizzen der inszenierten Stücke präsentiert sich ein ebenso origineller wie respektloser Vertreter der Moderne, stets auf der Suche nach Werken, die "nach neuen Welten der Seele" segeln. Entsprechend hoch war sein Anspruch: "Unser Menschenleben ist symbolisch. Es ist im Grunde gleichgültig, ob man die erste Rolle an der Wiener Hofburg oder die kleinste am Göttinger Stadttheater zu spielen hat. Man muß hier wie dort ganz sein. Und keiner kann in einen größeren Kreis treten, der nicht den kleinsten vollkommen erfüllte."

Die Göttinger Wintersaison 1906/1907 war jedoch nicht nur wegen des ambitionierten Kritikers eine besondere. Das Theater hatte mit Willy Martini auch einen neuen Leiter. Der aus Berlin kommende Veteran des Naturalismus brachte die Avantgarde nach Göttingen. Deshalb bot die Provinzbühne eine kuriose, ja explosive Mischung: Neben den bewährten Klassikern und der gängigen Lustspielware wagte sich das junge Ensemble mit Begeisterung an die Moderne. Es spielte, mitunter vor leeren Rängen, Hauptmann, Ibsen, Beer-Hofmann, selbst den umstrittenen George Bernhard Shaw. Mit dessen Komödie "Helden", die in Göttingen erstmals auf einer deutschen Bühne gespielt wurde, scheint sich das Theater jedoch übernommen zu haben. "Liebe Freunde, nach der letzten Aufführung von Shaws 'Helden' lastet mir die Unnatur der heutigen Bühne und die Unfähigkeit unserer Schauspieler bleiern auf der Seele! Wenn solch eine Blague nicht raffiniert gespielt wird, dann bleibt nichts übrig, als ödeste Langeweile! Und die Göttinger haben sich gelangweilt, und in ihrer Unvernunft steckt Vernunft. Weder unser Publikum noch die Schauspieler sind auf solch ungewohnte Aufgaben eingestellt. Sie sind beide wieder einmal durchgefallen!"

Man sieht: Von der Goldenen Regel des Lokaljournalismus, es sich mit niemandem zu verderben, hielt Lessing wenig. Er war ein Liebhaber des offenen Worts und teilte nach allen Seiten aus. Am meisten auszuhalten hatten natürlich die Schauspieler. Unter ihnen übrigens zwei bekannte Namen: Carla Mann, die unglückliche Schwester von Thomas Mann, und Harry Liedtke, der wenige Jahre später zum bestbezahlten Schauspieler der Stummfilmära aufsteigen sollte. Auf die gewohnten "täglichen Pralinées" der Kritik mussten die Göttinger Akteure diesen Winter verzichten. Lessing, der das genaue Sehen bei seinem Lehrer Husserl gelernt hatte, entging nichts. "Merkwürdig ist dies, daß Herr Wittmann an manchem Abend fast ohne Armbewegungen spielt und heute, wo der Arm gelähmt sein mußte, macht er ganz unmotivierte, bei einem Apoplektiker unmögliche Armbewegungen. [...] Und noch dies: ihr kleinen Pagen, die ihr in Windsor-Castle herumsteht wie bunte Ölgötzchen: Wenn der Graf die Mütze und Majestäts Hofdame das Taschentuch fallen läßt (es war nicht einmal Spitze), dann habt ihr den großen Moment eures Lebens, dann seht das und zeigt nach der Szene den Göttingern, wie ein edler Page Taschentücher aufhebt. Aber glaubt doch nicht, der britische Hof zahle euch Gage, damit ihr immer liebdumm ins Parkett glotzt...".

Zwar konnte Lessing auch wortgewaltig schwärmen - aber nichts ließ diesen Theaterfanatiker mehr leiden als Dilettantismus. Von der Professionalität unserer Tage war man in Göttingen damals weit entfernt, selbst ein regelmäßiger Probenbetrieb war nicht selbstverständlich. Alles, was die Illusion unfreiwillig zerstören konnte, Stilbrüche und Anachronismen, fand sich anderntags am Zeitungspranger: ein schildrasselnder Ritter in Wollsocken ebenso wie eine Beerdigung im alten Rom, zu der Beethovens Trauermusik gespielt wurde.

"Verdammte Nachtkritik!", schimpft Lessing einmal, als ihm, der Redaktionsschluss im Nacken, das rechte Wort nicht einfällt. So spontan und unbekümmert ist auch sein Stil, voller Witz, Ironie und Esprit, geschult an seinen Vorbildern, Maximilian Harden und Alfred Kerr. Von ihnen hatte Lessing auch den Subjektivismus der modernen Kritik gelernt: Der Rezensent war sein eigener Seismograf und erging sich ungeniert in Erinnerungen und Assoziationen. Typisch für Lessing war freilich, dass sich seine Kritik vorrangig an das Ensemble direkt richtete. Seine Beobachtungen sollten die folgenden Aufführungen verbessern helfen - auch dies wohl ein Grund, warum viele Leser irritiert reagierten.

Heute muss man freilich sagen: Als Theaterkritiker erwies sich Theodor Lessing nicht nur als würdiger Träger dieses Namens, er schrieb auch auf Augenhöhe mit seinen Berliner Kollegen. Alfred Kerr verkündete damals selbstbewusst, dass man eine gute Rezension nicht um des Rezensierten, sondern wie Literatur um ihrer selbst willen liest - Lessings Nachtkritiken sind dafür ein schönes Beispiel.


Titelbild

Theodor Lessing: Nachtkritiken. Kleine Schriften 1906-1907.
Herausgegeben und kommentiert von Rainer Marwedel.
Wallstein Verlag, Göttingen 2005.
620 Seiten, 49,00 EUR.
ISBN-10: 3892446148

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