Vielfach sanktifizierter Autor mit Kultstatus

Über die Kleist-Sammelbände „Vom Schreiben in der Moderne“, „‚Im Freien?‘“ und „Artistic an Political Legacies“

Von Anton Philipp KnittelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Anton Philipp Knittel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Heinrich von Kleists Modernität widmet sich die Literaturwissenschaft seit mehreren Jahrzehnten unter den unterschiedlichsten Gesichtspunkten, nicht zuletzt befeuert durch die verschiedensten literaturtheoretischen Ansätze und unterstütz durch neue Kleist-Ausgaben – in erster Linie die (Berliner) Brandenburger Kleist-Ausgabe und diejenige im Deutschen Klassiker Verlag. Selbstverständlich hat auch das Kleist-Gedenkjahr zum 200. Todestag 2011 eine Reihe von Publikationen hervorgebracht, die einigen Aspekten der Kleistʼschen Modernität Rechnung trug. Darunter Monografien, Einführungen wie etwa die von Hans Joachim Kreutzer, größere Essays wie der von Barbara Vinken zu Kleist und die Deutschen, Sammel- und Tagungsbände und vieles mehr. Zudem erschienen rund um das Gedenkjahr auch gewichtige Biografien. Erwähnt sei hier nur die von Günter Blamberger. Der langjährige Präsident der Heinrich-von-Kleist-Gesellschaft betont darin: „Kleist ist der Experimentator im Laboratorium der Moderne“.

Wie immer in der Forschung Kleists vielbeschworene Modernität situiert wird – ob als vor-modern, als protomodern oder als postmodern – die Tatsache seiner Modernität, vielleicht gar seiner Modernitäten ist nicht neu, zumal sie „in vielfacher Hinsicht in der Tradition verwurzelt ist“, wie der Herausgeber Dieter Heimböckel in seinem Sammelband Kleist. Vom Schreiben in der Moderne einleitend betont. Häufig wird Kleists Modernität in der Forschung – meist mit hohem literaturtheoretischen Aufwand in einen „fortschreitenden Prozess der Sanktifizierung überführt“ – rund um Begriffe wie „Krise“, „Experiment“, „Risiko“, „Sprachskepsis“ und anderen festgemacht. Analoges gilt auch für den Begriff „Abgrund“, wie Hinrich C. Seeba in seinem gleichnamigen Beitrag Abgrund – ein Schlüsselwort der Moderne. Zu Kleists Begründung der Literatur formuliert. Ausgehend von einer Bemerkung Kleists – „Ich sitze, wie an einem Abgrund, mein edelmüthiger Freund, das Gemüth immer starr über die Tiefe gebeugt“ – in einem Brief an Karl von Stein zu Altenstein, liest Seeba die Fall-, Grund- und Abgrundmetaphern im Œuvre des Dichters: „Die wilde Entschlossenheit, in immer neuen Gerichtsszenen der Sache auf den Grund zu kommen, ist offenbar die literarisch aufgefangene, fiktional gewissermaßen rationalisierte Bemühung, nicht in den bodenlosen Abgrund zu versinken, sondern einen Grund zu finden, einen Halt am Boden der Existenz.“

Wie sehr Kleists „Modernität“ tatsächlich „in der Tradition verwurzelt“ ist, zeigt Heimböckel in seinem luziden Beitrag Wie vom Zufall geführt. Kleists Griffel, indem er auf die Brüchigkeit einer (linearen) „Dichotomie zwischen Tradition und Moderne“ verweist und insbesondere auf „Kontingenz als ein für die Moderne zentrales Phänomen“ abhebt. Das „Sowohl / Als auch“ – etwa manifest in Kleists Vorliebe für Anagramme –, der Komplexitätszuwachs durch das Kontingenzbewusstsein, lässt sich so als Signum des Kleistʼschen Schreibens, als Merkmal seiner Modernität lesen: „Denn im Gefüge des jeweiligen Textes fungiert das Anagramm nicht nur als Einfallsstelle deplatzierter Bedeutung: es steht dort auch für die Unwägbarkeiten und Aporien seiner Lektüren und Entzifferungen ein“.

Jennifer Pavliks Aufsatz Normierung durch (Pro)Thesen. Die Macht der Sprache und das ‚Trotzdem‘ der Kunst stärkt die Kleistʼsche „Vorstellung, Sprache als eine Substanz zu begreifen, die parallel zum menschlichen Geist existiert“, insbesondere durchexerziert im Essay Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden. Die ästhetische Dimension von Sprache und Kunst eröffne den Protagonisten einen „Handlungsraum, der Hoffnung auf eine Zukunft gewährt, in der nicht Normierung, sondern Freiheit das vorherrschende Prinzip ist“, wobei sich die Protagonisten ihrer Don-Quijote-artigen Sisyphosarbeit durchaus bewusst seien.

Hieran anschließend beleuchtet Bart Philipsen in seinem Aufsatz Kleist oder Das Theater des Unvermögens das Guiskard-Fragment mit seiner „paradoxen affirmativen Performanz“ mit dem sprachtheoretischen Essay Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden.

Während Achim Geisenhanslücke sich den „Übertragungsrechte(n)“ im Findling widmet und die Erzählung als „ein Drama der ökonomischen Stellvertretungen und der rechtlichen und erotischen Übertragungen“ liest, gilt Alexander Honolds genauer Blick Kleists dramatische(m) Dezisionismus in ‚Der Zweikampf‘: „In Kleists Erzählung erschließen sich Wirkung und Bedeutung der Zeichen nur im Modus des Indirekten, in der Vervielfältigung von Aufführungssituationen und schriftlichen Dokumenten.“ Nicht zuletzt entspreche der „Medienästhetik indirekter Urheberschaft“ die „bemerkenswerte Kooperation des Publikums in der Urteilsfindung.“

Agens, Körper und Selbst ist Anthonya Vissers Beitrag zu Kleists Die heilige Cäcilie oder die Gewalt der Musik überschrieben. Visser hält neben der „zunehmenden Performativität“ des Textes als Signum seiner Modernität fest: „Und gerade diese Sachlage, eine komplexe Erzählsituation kombiniert mit Figuren, die zwar handeln, aber ohne die Charakteristiken, die aus ihnen Personen mit einer nachvollziehbaren Identität machen würden, ermöglicht die Rätselhaftigkeit des Textes, obwohl viele Details zum Geschehen gegeben werden.“ Demgegenüber betont Georg Mein in seinem Kleist mit Theodor W. Adorno lesenden Aufsatz „das Erhabene als das Bewusstwerden der eigenen Naturhaftigkeit“ in der Cäcilien-Erzählung.

Den Band rundet ein Kleist-Alphabet von „Abälard & Achilles“ bis „Xaviera Tartini & Zachäus“ ab. Zudem werden die Beiträge durch Zeichnungen von Klaus Maßem flankiert. Der Sammelband macht deutlich, was Heimböckel einleitend konstatiert: Kleist ist längst zu „einem Klassiker der Literatur und Autor mit Kultstatus“ geworden.

Das wird beispielsweise auch durch den von Jeffrey L. High und Sophia Clark herausgegebenen Sammelband Heinrich von Kleist. Artistic and Political Legacies unterstrichen. Er spannt einen weiten Bogen der Kleist-Bezüglichkeiten: Er reicht von Joseph von Eichendorffs Das Schloß Dürande, über Franz Kafka, Robert Walser, Thomas Mann, Nelly Sachsʼ Elli. Ein Mysterienspiel vom Leiden Israels zu Heiner Müller und Christa Wolf, zur Rezeption in der RAF, zu E.L. Doctorow und Christoph Hein, zu Judith Hermanns Sommerhaus, später, zu Ian McEwan und zu David Foster Wallace – um nur einige der im Sammelband ausgeführten Referenz- und Rezeptionspunkte zu erwähnen. Steht Kleists Einfluss und Rezeption auf die europäische Kultur in der Gegenwart außer Frage, so ist dies doch erst ein Phänomen des 20. Jahrhunderts, wie Seán Allan in seinem Vorwort betont. Kleists Werk war zu Beginn des vorigen Jahrhunderts, 100 Jahre nach seinem Tod, erst noch zu entdecken – trotz seiner Zeitgenossen wie E.T.A. Hoffmann, Achim von Arnim und Ludwig Tieck, „who held his work in great esteem“.

Und das Knäuel der Rezeptionsfäden, die sich seither zu einem gigantischen Netz (immer wieder neu?) verbinden lassen, ist kaum zu überblicken. Ob in Literatur, Bildender Kunst oder Musik – die Wirkungs- und Einflusslinien, die Motivgeflechte wachsen weiter. Entsprechend breitgefächert ist der Zugang zu seinem Leben und Werk im vorliegenden Band, wie Jeffrey L. High in der Einleitung ausführt:

The Legacies of Kleist’s works and personal life (and death) discussed in this volume regard the most matters of fatal urgency – anthropological, soci-logical, political, legal, philosophical, psychological matters of life and (almost always) death – delivered in an elevated but relentless style that fuses content, form, and function.

So beleuchtet Karl J. Fink einige Kohlaasian Manifestos after Kleist. Ausgehend von den Selbstbestimmungsdiskursen der Zeit spannt er den Bogen der Mandatadaptionen und -analogien von Johann Gottfried Herders „vision for the advancement of humanity“, Moses Mendelsohn und Friedrich Schiller über Franz Rosenzweig und Kafka bis Dietrich Bonhoeffer und zu Inge Scholls Weißer Rose. Überhaupt gerät immer wieder Kleists Michael Kohlhaas zum Referenzpunkt der Beiträger. Jeffrey Champlin sieht Kohlhaas als Subtext in Eichendorffs Schloß Dürande. Renalds Geschichte sei die Geschichte einer Warnung, eine Lektüre, die auf Eichendorff selbst rekurrieren kann, da dieser in seiner späteren Literaturgeschichte mit ähnlichen Worten wie im Schloß Dürande auf Kleist einging.

Auch Tim Mehigan hebt in seinem Beitrag The Process of Inferential Contexts auf Kleists Michael Kohlhaas ab, indem er als Modell für Kafkas Der Proceß diente, während Bernd Fischers vergleichender Blick auf E.L. Doctorows Ragtime (1975) und Christoph Heins Der neue (glücklichere) Werther jene Momente identifiziert, die konstitutiv sind für die erzählerische Konstruktion des gewalttätigen Terrors wie des politischen Widerstands „as well as the accompanying terrorist mind“. In Nelly Sachsʼ Eli. Ein Mysterienspiel vom Leiden Israels aus dem Jahr 1951 sieht Jennifer M. Hoyer im Protagonisten Michael einen Nachfahren Kohlhaasʼ, an dem Sachs Mysterienspiel in der „Post-Holocaust-Era“ Versöhnung und Rache gleichermaßen vorführt.

Während Kohlhaas und Penthesilea in erster Linie die Referenztexte sind, die Carrie Collenberg-Gonzales in ihrem Parforceritt Kleist in the Reception oft he Red Army Faction und deren künstlerische Auseinandersetzung bis beinahe in die Gegenwart heranzieht, etwa wenn sie auf den fiktiven Dialog zwischen Kleist und Mohamed Atta in Frank Lentricchias und Jody Mc Auliffes Crime of Art and Terror verweist, untersucht Friederike von Schwerin-High Kausalität und Kontingenz in Kleists Das Bettelweib von Locarno und der Erzählung Sommerhaus, später der Kleistpreisträgerin im Jahr 2001, Judith Hermann.

Curtis Maughan und Jeffrey L. High arbeiten Thomas Manns selbstbewusste und (selbst)kritische Kleist-Referenzen heraus, Heiner Müllers Kleist-Lektüren werden im Beitrag von Markus Wilczek diskutiert, Marie Isabel Schlinzig zeigt, dass der Doppelselbstmord am Wannsee als mehrfach kodierter Prätext im späten 20. Jahrhundert fungiert, etwa bei Henning Boetius, Reto Finger und Monika Radl. Der Aufsatz von Hans Wedler fokussiert den Selbstmord bei Kleist und David Foster Wallace, Mary Helen Dupree vergleicht Motive von Kleists Krug und Ian McEwans Atonement, von Daniel Cuonz werden analoge Text- und Lebensstrategien bei Robert Walser und Christa Wolf in den Blick genommen. Dass Kleists Werke als Vorlagen für Komponisten wie Hans Werner Henze, Othmar Schoeck oder Hugo Wolf dienten, untersucht Amy Emm. Kurz: Die Modernität Kleists bietet schier endlose Anknüpfungsmöglichkeiten, was der vorliegende Band eindrucksvoll unter Beweis stellt.

Die Fülle der Bezüglichkeiten und Anschlussmöglichkeiten bei und an Kleist mag unter anderem daran liegen, dass er keiner wie immer expliziten Poetologie folgt, sondern die „Kritik instrumentellen Sprachgebrauchs“ in seinem Œuvre selbst zum Thema macht, wie Roland Reuß im Vorwort seiner Kleist-Aufsätze unter dem Titel „Im Freien?“ bemerkt. Reuß, der unter anderem mit Peter Staengle seit 1988 die Berliner, später Brandenburger Kleist-Ausgabe (BKA) ediert hat, versammelt darin die die BKA begleitenden Essays aus „fünfundzwanzig Jahren“ und greift mit dem Band-Titel einen Aufsatztitel zum Erdbeben in Chili aus dem Jahr 1993 wieder auf. In ihrer Summe machen sie über ihre Entstehungszeit hinweg eindrucksvoll deutlich, wie sehr sich die Kleist-Forschung in diesem Zeitraum verändert hat. Begleitet waren die Edition wie auch die Publikation der Beihefte von teilweise heftigen und polemischen Auseinandersetzungen, eine Tatsache, die sich auch im vorliegenden Band widerspiegelt. Wenngleich Reuß auf der „Eigensinnigkeit der editorischen Tätigkeit“ und seinem „Sich-Einlassen auch auf die kleinsten scheinbaren Nebensächlichkeiten“ beharrt, was „ein ideales Korrektiv gegenüber den Verlockungen der jeweils durchs Dorf gejagten Alphadiskurse“ sei, so ist doch nicht zu übersehen, wie schon Roland Koch seinerzeit in der Neue Züricher Zeitung bemerkt hat, dass die Mehrzahl der Reußʼschen Textanalysen eben doch dekonstruktivistisch argumentiere und somit am Ende Kleists Texte deren eigene Sinnverweigerung ausstellten. Etwa in Sätzen wie

Kleists ‚Das Erdbeben in Chili‘ entfaltet seine Poetik nicht allein, ja nicht einmal vorwiegend, anhand expliziter Referenzen auf die Kunst […]. Mindestens ebensogroße Aufmerksamkeit verdienen die, teilweise weit ins 20. Jahrhundert vorausgreifenden, technischen Verfahren, mit denen dieser Text auf je verschiedene Weise und auf unterschiedlichsten Ebenen das Problematische seines eigenen Status, Gemachtes zu sein und doch den Anschein eines Lebendigen zu haben, hervorkehrt.

Reußʼ Anliegen jedenfalls ist es, Kleists Sprache als einer „nicht-instrumentellen, mächtig-ohnmächtig quer zu den damals und heute erst recht herrschenden weitgehend automatisierten Verständigungsverhältnissen“ selbst Raum zu geben.

Wie sehr die Edition der BKA, das „Sich-Einlassen auf die kleinsten scheinbaren Nebensächlichkeiten“ und die Publikation der sie begleitenden Beihefte die Modernitätsdiskussionen um Kleist begleitet, ja befeuert hat, zeigt ein Blick auch in den von Heimböckel herausgegebenen Band Kleist. Vom Schreiben in der Moderne, während die Autoren, Filmemacher und Künstler vor allem im 20. Jahrhundert ihre je eigenen Referenzwege einschlagen, wie der Band Heinrich von Kleist. Artistic and Political Legacies vor Augen führt. Nach wie vor also gilt über einen vielfach sanktifizierten Autor mit Kultstatus: Kleist und kein Ende!

Titelbild

Roland Reuß: „Im Freien?“. Kleist-Versuche.
Stroemfeld Verlag, Frankfurt a. M. 2010.
400 Seiten, 48,00 EUR.
ISBN-13: 9783866000728

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Titelbild

Sophia Clark / Jeffrey L High (Hg.): Heinrich von Kleist. Artistic and Political Legacies.
Rodopi Verlag, Amsterdam 2013.
289 Seiten, 62,00 EUR.
ISBN-13: 9789042037816

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Dieter Heimböckel (Hg.): Kleist. Vom Schreiben in der Moderne.
Aisthesis Verlag, Bielefeld 2013.
188 Seiten, 29,80 EUR.
ISBN-13: 9783895289781

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