Im Netz des Paradigmas

Julia Richters „Spiegelungen“ als ambitionierter Versuch, dem Erzählen im „Parzival“ auf die Spur zu kommen

Von Miriam StriederRSS-Newsfeed neuer Artikel von Miriam Strieder

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Dass der „Parzival“ einer der komplexesten mittelhochdeutschen Romane ist, ist inzwischen ein Gemeinplatz. Über ihn wurden viele Regalmeter an Sekundärliteratur produziert und dies wird wohl auch in Zukunft weiter gehen. Eine definitive Interpretation ist nicht möglich und muss auch gar nicht möglich sein, was einer der Gründe sein dürfte, warum der Text bis heute nichts von seiner Faszination eingebüßt hat.

Julia Richter hat sich in ihrer Dissertation „Spiegelungen: Paradigmatisches Erzählen in Wolframs ‚Parzival‘“ ebenfalls diesem Jahrhundert-Text angenommen und sich auf die Spur der intra- (und teilweise auch inter-)textuellen Verflechtungen begeben. Niemand wird bestreiten wollen, dass diese en masse im „Parzival“ zu finden sind: Allein mehr als 200 namentlich erwähnte Figuren, Verwandtschaftsbeziehungen über Kontinente und Generationen hinweg sowie repetitive Erzählmuster beweisen dies bereits bei einem kursorischen Blick – dafür muss also keine Lanze gebrochen werden.

Richter versucht dieses Phänomen zu fassen, indem sie es mit dem Spiegelmotiv beschreibt, das einerseits im Prolog auftaucht und andererseits aber auch eine Erzähltechnik Wolframs zu sein scheint, die immer wieder Episoden konstruiert, die einander spiegeln und damit eine starke Verweisstruktur entfalten, wodurch sie zeigen, dass alles mit allem zusammenhängt. Auf diese Weise wird ein dichtes Netz innerhalb der Erzählung aufgebaut, in dem man sich als Interpret ganz gerne verfängt. Zu Grunde legt Richter ihren Überlegungen das Raummodell Jurij M. Lotmanns, das allerdings in Bezug auf den „Parzival“ nicht ganz unproblematisch ist. Das liegt schon daran, dass es echte Grenzen im „Parzival“ kaum zu geben scheint, die irgendeine Figur, besonders aber Parzival selbst, überschreiten könnte, wenn doch in der erzählten Welt alles mit allem, meist genealogisch, verknüpft ist. In Sinne eines den Text überspannenden Paradigmas liest Richter auch den Prolog, wodurch sie zumindest einige dunkle Stellen erhellen kann, zugleich aber auch die Textbasis bis an die Grenzen ihrer Interpretierbarkeit dehnt und auch in einer teils erfrischenden, teils aber auch störenden Detailverliebtheit auf Merkmale im Prolog und an anderen Stellen aufmerksam macht.

Darüber hinaus widmet sich Richter den geographischen Verflechtungen, den Wegen der Protagonisten Gawan und Parzival (und teilweise auch Gahmuret, den sie durchaus zu Recht als dritten Protagonisten ansieht) sowohl durch den erzählten Raum als auch durch die zeitliche Dimension der Familiengeschichten. Hier findet sich die Autorin eindeutig auf der Makroebene des Textes wieder und zeigt größere Zusammenhänge innerhalb der Erzählung auf. Sowohl diese als auch die Mikroebene gehen in ihrer Lesart oftmals neue Verbindung ein. Insgesamt macht Richter als das einflussreichste Paradigma die Verbindung von Minne (sowohl die zwischen Liebespaaren als auch die zwischen Söhnen und Müttern) und Gewalt im Turnier- oder Ritterkampf stark, das den ganzen Roman, mehrere Generationen und alle erwähnten Länder durchzieht. Im Anhang zeigt sie dies eindrucksvoll an fast 30 Paaren auf, die entweder die Protagonisten selbst betreffen, zum Beispiel Parzival-Liaze oder Gawan-Antikonie, oder durch Figuren- oder Erzählerrede in den Fokus rücken.

Auch um die verwandtschaftlichen Verflechtungen kommt Richter nicht herum und so betrachtet sie die Herkunft sowohl der Grals- als auch der Artussippe; hier macht sie überaus interessante Beobachtungen zu fast schon genetisch vererbten Eigenschaften der Mitglieder dieser Familien. Auch den Gral hat Richter im Blick. Mit Blumenberg geht sie davon aus, dass die Erzählung vom Ursprung diesen im Sinne des Mythos zugleich verschleiert und der Gral selbst als changierend zwischen Leben und Tod überaus ambivalent dargestellt ist.

In ihrem abschließenden Kapitel wendet sich Richter dem Erzähler zu, der von der Forschung allgemein mit viel Aufmerksamkeit bedacht wurde und teilweise sogar als eine der Figuren innerhalb der Erzählung verstanden wurde. Im Sinne der Spiegelungen, die unter anderem im Prolog, auf Schastel marveille und beim Kampf zwischen spiegelnden Baumstämmen kurz vor der finalen Versöhnung auftauchen, liest Richter den gesamten Roman vom Prolog aus. Sie gewinnt aus dieser Interpretation des Prologs in einem letzten Schritt die vis imaginativa, die, wie sie darlegt, für Wolfram ein zentrales Anliegen sei und mit der er eine Absage an etablierte Erzähl- und Rechtfertigungsmodelle wie Quellen und Quellenfiktionen erteile.

Im Anhang zu ihren Ausführungen stellt Richter kurz die paradigmatischen Minnebeziehungen innerhalb des „Parzival“ dar und erläuterte deren Relevanz für die Handlung überblicksartig. Damit untermauert sie ihren Ansatz des Minne-Gewalt-Paradigmas als dominante Struktur und zeigt die destruktive Kraft des Frauendienstes, der im „Parzival“ das Leid innerhalb der erzählten Welt hervorbringt.

Insgesamt ist Richters Arbeit ein überaus ambitioniertes Projekt, das versucht, narrative und inhaltliche Strukturen im „Parzival“ offenzulegen. Dies scheitert aber zum einen an der Komplexität des Textes und zum anderen an der zum Teil unklaren Ausdrucksweise der Verfasserin, die oftmals auf Belegstellen für Thesen und deren Herleitung verzichtet, so dass der Leser hier einiges selbst leisten muss oder über wirklich ausgezeichnete Textkenntnisse verfügen sollte, um Richters Argumentation überhaupt folgen zu können. Als weiteres Problem lässt sich feststellen, dass es kein zusammenfassendes Abschluss-Kapitel gibt, was dem Leser noch einmal die wichtigsten Befunde vor Augen führen würde; auch Zwischenfazits oder eine generelle Leserleitung fehlen, was weder der Übersichtlichkeit noch der Verständlichkeit dienlich ist. Generell wäre zu überlegen, ob sich manche Ergebnisse Richters nicht durch Grafiken, Tabellen oder ähnliche Abbildungen visualisieren ließen, was ihre Resultate in einem angemessenen Format aufbereiten würde und zugleich sicherstellen könnte, das zentrale Punkte ihrer Argumentation so hervorgehoben und aufbereitet werden, dass sie für weitere Überlegungen zu Paradigmen und paradigmatischem Erzählen im „Parzival“ verwertbar sind. Allgemein erscheinen Richters Überlegungen sich auch auf andere höfische Romane wie Gottfrieds „Tristan“ übertragen zu lassen, der ebenfalls eine Wiederholungsstruktur auf Mikro- und Makroebene Sinn generiert.

Richters Arbeit eröffnet durchaus neue Perspektiven auf den „Parzival“, zugleich aber stellt sie mit ihrer Arbeit hohe Ansprüche an ihre Leserschaft, die sich zum Kreis der „Parzival“-Experten zählen sollte; für andere Leserkreise wie interessierte Studierende höherer Fachsemester, Literaturwissenschaftler, die sich mit anderen höfischen Romanen beschäftigen, oder anderen, die vom Thema noch weiter entfernt sind, ist die Arbeit nicht zu empfehlen, was überaus schade ist, da der Ansatz des paradigmatischen Erzählens doch einiges an interessanten Erkenntnissen verspricht.

Ein Beitrag aus der Mittelalter-Redaktion der Universität Marburg

Titelbild

Julia Richter: Spiegelungen. Paradigmatisches Erzählen in Wolframs Parzival.
De Gruyter, Berlin 2015.
280 Seiten, 79,95 EUR.
ISBN-13: 9783110308938

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