Gemordetes Europa

Romain Rollands Anti-Kriegstagebücher

Von Bastian ReinertRSS-Newsfeed neuer Artikel von Bastian Reinert

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Als am 28. Juli 1914 mit der Kriegserklärung Österreich-Ungarns an Serbien der Erste Weltkrieg ausbrach, weilte Romain Rolland, damals durch seinen zehnbändigen Roman Jean-Christophe (1904-1912) schon weltberühmt, gerade zur Sommerfrische im Süden der Schweiz. Im idyllischen Vevey am Genfer See im frankophonen Kanton Waadt erreichte ihn die Nachricht, die sein Leben vollkommen verändern sollte, daher erst ein paar Tage später durch ein am Bahnhof ausgehängtes Telegramm, das „die allgemeine Mobilmachung in Russland und die Ausrufung des Kriegszustandes in Deutschland“ bekannt gab. Mit diesem Eintrag vom 31. Juli beginnt das Kriegstagebuch Rollands, das er von nun an über einen Zeitraum von fünf Jahren und noch bis weit über das Kriegsende (November 1918) hinaus bis zum Sommer 1919 akribisch, wenn auch immer resignativer, führen wird. Die Erklärung, dass sich Europa nun im Krieg befinde, bestürzt den Pazifisten Rolland zutiefst. Den nüchternen Ton der Bekanntgabe kontrastiert er mit schwelgerisch leichten Bildern einer frühromantisch harmonischen Naturüppigkeit: „Es ist einer der schönsten Tage des Jahres, ein wunderbarer Abend. Die Berge schweben in lichtem und bläulichem leichtem Nebel; das Mondlicht ergießt über den See einen Strom roten Goldes […]. Die Luft ist lieblich, der Duft der Glyzinien schwebt in der Nacht; und die Sterne funkeln in so reinem Glanz! In diesem göttlichen Frieden und in dieser zarten Schönheit beginnen die Völker Europas das große Morden.“

Dies ist mit seinem hohen, naturlyrischen Ton – man denke an die Hymnen an die Nacht von Novalis, der auch schon die (katholische) Einheit Europas forderte – zwar der erste, zugleich jedoch schon der letzte Eintrag, der noch so etwas wie einem ästhetischen Formwillen unterliegt. Fortan suspendiert Rolland allen literarischen Anspruch, wird zum Chronisten und stellt als solcher sein Schreiben vollkommen in den Dienst der Zeitzeugenschaft. Das poetologische Programm, formuliert nach annähernd zwei Jahren des Tagebuchschreibens, verrät, wie schwer ihm das rein Dokumentarische fiel und welchen Verzicht es für den gefeierten Schriftsteller darstellte, der sich in den Jahren des Krieges alle literarische Arbeit verbot: „In diesen unpersönlichen Notizen zwinge ich mich, möglichst das Amt eines einfachen Schreibers auszufüllen, dem die Zeit diktiert. Und ich versuche nicht einmal, einen genauen Eindruck von dieser vielschichtigen und undurchschaubaren Zeit zu vermitteln. Ich zeichne lediglich die Worte und Taten in einem sehr kleinen, beschränkten Winkel des Getümmels auf.“

Gleichwohl begnügt sich Rolland selbstverständlich nicht mit der Abfassung einer Chronik des europäischen und bald weltweiten Krieges, sondern wird selbst zum Aktivisten, der sich genauso wortstark wie wirkungslos in die Kriegsdebatten einmischte. Nicht von ungefähr erinnert der für diese Auswahl der Tagebücher gewählte Titel an Rollands berühmten, groß angelegten pazifistischen Essay Über den Schlachten (Au-dessus de la mêlée), der bereits im ersten Kriegsherbst im Journal de Genève erschien, dann 1915 als Buch publiziert wurde und seinem Autor schließlich 1916 (kriegsbedingt noch rückwirkend für 1915) „in Würdigung [seines] hohen Idealismus“ den Literaturnobelpreis einbrachte. Der deutschsprachigen Leserschaft liegt zudem sicher sofort Kurt Tucholskys Antikriegslied Der Graben von 1926 im Ohr, in dem die Gräben nicht nur zu Gräbern werden („Ihr wart gut genug zum Fraß für Raben, / für das Grab, Kameraden, für den Graben!“), sondern in dem Tucholsky alias Theobald Tiger neben der Sinnlosigkeit des Krieges – und hierin vermutlich recht explizit Rollands Beispiel folgend – auf Solidarität und Versöhnung drängt: „Reicht die Bruderhand als schönste aller Gaben / übern Graben, Leute, übern Graben!“ Insofern ist der Erste Weltkrieg zwar der Auslöser für das Tagebuchschreiben (Rolland schrieb weder davor noch danach eines), das Tagebuch selbst aber keineswegs ein Kriegstagebuch (wie es eine vorschnelle Rezeption oft will), sondern – darauf weist Julia Encke in ihrem sehr gelungenen Nachwort mit Recht hin – ein Anti-Kriegstagebuch.

Denn von der ersten bis zur letzten Seite vergeht kein Tag, an dem Rolland, dessen politische Voraussicht beinahe unheimlich erscheint, nicht all seine Energie darauf verwendet, auf die Sinn- und Ausweglosigkeit dieses Krieges hinzuweisen, der nur mehr und mehr zu verhärteten Fronten führt, die jedes Vorankommen – sowohl seitens der Deutschen als auch der Franzosen – verhindert und in einen Stellungskrieg mündet, dessen Materialschlacht bisher nie geahnte Ausmaße annehmen wird. Mit keiner Silbe teilte er die patriotische Kriegsbegeisterung, die unter Europas Intellektuellen von Robert Musil bis zu Guillaume Apollinaire und von Ernst Toller bis zu Hugo von Hofmannsthal wie ein Virus um sich griff und selbst den späteren Vorbilddemokraten Thomas Mann infizierte, der in seinem Essay Gedanken im Kriege allen Ernstes glaubte, dass „nur Deutschlands Sieg den Frieden Europas verbürgt“, Rolland jedoch explizit zu den schlimmsten Feinden Europas zählte. Dieser zeigte sich wiederum tief verstört von Manns nationalistischem und militaristischem Aufsatz (der – nebenbei – in seiner Attestierung von „französische[r] Damennaivität“ auch recht frauenfeindlich daherkommt) und hielt ihn für „das Schrecklichste, was ich bis jetzt von einem deutschen Intellektuellen gelesen habe“. Von Anfang an nimmt er kein Blatt vor den Mund und bezeichnet den Krieg (und die Kriegstreiber) als das, was sie waren: „Verbrechen an Europa und an der Zivilisation, zu dem die Völker gebracht worden waren durch die Politik ihrer Regierungen.“

Bereits im ersten Tagebucheintrag (und bis zum letzten) ist die Überwältigung spürbar, mit der der Krieg über den Pazifisten Rolland hereinbricht, der sich seit Jahrzehnten für die Völkerverständigung eingesetzt hatte und dessen ganze Hoffnung auf ein Überwinden der deutsch-französischen ‚Erbfeindschaft’ ausgerichtet war. Nun musste er, „ausgeschlossen“, „abgesondert von den Menschen“ und immer wieder heimgesucht von depressiven Schüben und Todessehnsucht (einmal heißt es: „Ich möchte tot sein“, ein anderes Mal: „Ich möchte einschlafen und nicht mehr die Augen öffnen“), nun musste also dieser unermüdliche Kämpfer für den „Internationalismus“, der auch Lenins Schlachtruf von der proletarischen Revolution Europas als beginnende Weltrevolution (gegen den Kapitalismus) begrüßte, plötzlich feststellen, dass nicht nur seine schlimmsten Befürchtungen Realität geworden waren, sondern um ihn herum auch noch alle Welt begeistert von dem war, was er selbst als „Abgrund von Hass“, als „Bankrott der Zivilisation“ und als „Selbstmord der Kultur des Abendlandes“ empfand: „Das gemordete Europa macht sich auf den Weg zum Ideal des Grabes.“ Immer wieder empfindet er sich als „allein“, er, der immerhin von Stefan Zweig und Hermann Hesse viel und auch öffentlichen Zuspruch erhält, der mit Auguste Rodin, Karl Wolfskehl und Maxim Gorki in freundschaftlichem Briefkontakt steht, dem Yvan Goll sein vielleicht berühmtestes Gedicht gewidmet hat und der namhaften Besuch von René Schickele bis Albert Einstein erhält. Immer wieder kämpft er mit dem Gefühl der Einsamkeit, der Isolation und der ganz realen Bedrohung. Wer gegen den Hass anschreibt, macht sich verdächtig – für alle Seiten. Tatsächlich registriert er schon früh das Aufkommen eines effizienten Geheimdienstes, der Intellektuelle überwacht und sehr genau Bescheid weiß über ihre Veröffentlichungen, Reisen und Bekanntschaften. Auch deshalb und weil er fest davon ausgeht, einem Anschlag zum Opfer zu fallen, ist das Tagebuch von Anfang an auch zur Lektüre für andere bestimmt, als historisches Dokument, als Zeugenschaft: „Weil man weiß, dass ich viel mehr weiß, als ich gesagt habe, und weil man in mir einen Zeugen für die Zukunft fürchtet. Diesem Zeugen möchte man für immer den Mund schließen.“ Der Nobelpreis und dessen internationale Wirkung dürfte Schlimmeres verhindert haben, auch wenn er, das schrieb er seinem Freund Henri Guilbeaux (und in sein Tagebuch), einigermaßen ungelegen kam: „Ich gestehe Ihnen, dass ich mich über den Preis ärgere. Ich brauche vor allem, dass meine Unabhängigkeit und meine Unbestechlichkeit über jeden Verdacht erhaben bleiben.“

Diese Unbestechlichkeit, die Rolland für sich reklamierte, während sich die Welt in ein „Irrenhaus“ verwandelte, wurde – und das ist im Grunde die ganze Tragik seiner Rezeption – hüben wie drüben bestenfalls als Neutralität, schlimmstenfalls aber jeweils als Feindschaft missverstanden. So konnte er gleichzeitig von Franzosen als „Antipatriot“ und von Deutschen – wie auch von Thomas Mann – als ihr schlimmster Feind empfunden werden. Keinesfalls versteht sich Rolland als neutraler Beobachter und selbstverständlich nimmt er Gewichtungen vor („Auf einen französischen Narren kommen anderthalb deutsche“). Aber ihm wird – hundert Jahre vor Christopher Clark in seinem vieldiskutierten Buch Schlafwandler – auch klar, dass Deutschland zwar die größte Schuld am Krieg hat („Die ungeheure Dämlichkeit der preußischen Kriegspolitik übersteigt alle Grenzen“), der Krieg aber das Ergebnis einer gesamteuropäischen, nationalistischen Verblendung ohne jede politische Weitsicht ist: „Alle Nationen tragen ihren Teil Schuld.“ Gerade weil es sich also um eine europaweite „Krankheit“ handele, fühle er sich „der Geistesverfassung der heutigen Europäer genauso fern wie der der Europäer des 16. Jahrhunderts. Es ist die gleiche geistige Trunkenheit, die gleiche heldenhafte und beschränkte Überspanntheit, die bewirkt, dass sich die Völker um eines Götzen willen abschlachten, den sie Ehre nennen und der dem Verstand ebenso wie der Menschlichkeit widerspricht.“

Dass er diese „geistige Trunkenheit“ so gut kannte, verdankte er seinem Engagement in der Internationalen Zentralstelle für Kriegsgefangene (IPWA) in Genf, die eine Zweigstelle des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK) war, wo Rolland, nachdem er dafür extra nach Genf gezogen war, täglich bis zu acht Stunden und über anderthalb Jahre hinweg Tausende von Briefen von Kriegsgefangenen, Flüchtlingen und deren Angehörigen las und beantwortete, um während der Kriegswirren die verlorenen Kontakte wiederherzustellen. Immer wieder ist er getroffen von den Schicksalen, deren Zeuge er wird, erkennt aber in zunehmendem Maße in den Briefen, die er zum Teil ausführlich in sein Tagebuch überträgt, die herrschende Ideologie seiner Zeit. So äußert sich in den Briefen ein „verzückter heldischer und krankhafter Wahn“, der schon bald dazu führt, dass er nicht mehr für die Menschen an sich zu kämpfen bereit ist, sondern lediglich noch für das Ideal, nämlich „die Ehre des menschlichen Geistes“. Rolland fragt sich, schnell erschöpft von der immensen Arbeit in der IPWA und der Arbeit an seinen Notizen, die er in insgesamt 29 Bücher eingetragen hat: „Wird sich derjenige, der später vielleicht diese endlosen Aufzeichnungen liest, klar werden über die endlosen Tage, Monate, Jahre, die wir in einer seelischen Wüste gelebt haben, inmitten einer vor Fanatismus und Hass irreredenden Menschheit…?“ Natürlich lassen sich diese zermürbende Arbeit und die Erschöpfung angesichts der schieren Masse an Aufzeichnungen in dieser Auswahl nur annähernd ermessen, ganz spüren lassen sie sich angesichts der radikalen Kürzung des gesamten Konvoluts auf weniger als zehn Prozent nicht. Auch bleiben Rollands Beobachtungen und Analysen so gelegentlich recht unverbunden nebeneinander stehen. Aber der Band lädt dazu ein, sich einen ersten Eindruck von diesem Autor zu verschaffen, sodass sich bei genügend Nachfrage vielleicht auf eine Neuauflage der vollständigen dreibändigen Ausgabe hoffen lässt. Zudem muss man es dem Herausgeber danken, dass er bei allem, was Rolland für den Friedensprozess geleistet hat, die dunkleren Stellen seines Denkens in dieser Auswahl nicht ausgeblendet und damit ein vielschichtiges Rolland-Bild zugelassen hat. Denn so sehr sich selbst noch der Kriegsgegner seines Mitgefühls versichert sein kann, so rassistisch äußert er sich beispielsweise über das chinesische Militär als „gelbe Soldaten“, befürchtet gar, das „gelbe Asien“ stehe „an der Schwelle Europas“, und so antisemitisch beschreibt er selbst den Freund Stefan Zweig, über dessen „Geradheit“ und „Adel seines Charakters“ kein Zweifel bestehe, „mit der langen Nase“, die „zunächst den Eindruck von semitischer Schläue“ erwecke, vor der man natürlich „auf der Hut“ sein müsse. Verzeiht man dies und auch den gelegentlichen Antiamerikanismus einem, der Großes geleistet hat für den Frieden und die Idee eines geeinten Europas, die heute, das zeigt die intellektuelle Debatte von Peter Sloterdijk bis Botho Strauß, schon wieder in Verruf geraten ist?

Der Zeitpunkt für das Erscheinen dieser Auswahl aus den Tagebüchern Rollands, die auf der dreibändigen, immerhin 2.000 Seiten umfassenden Ausgabe basiert, die in vollständiger deutscher Übersetzung zuerst 1963-1974 und dann in einer zweiten Auflage 1983 im inzwischen aufgelösten Berliner Verlag Rütten & Loening erschien, ist nicht nur anlässlich wichtiger Jahrestage gut gewählt (100 Jahre Erster Weltkrieg, 150. Geburtstag Romain Rollands 2016, Herausgabe des Briefwechsels Romain Rolland – Stefan Zweig 2014). Viel dringender und drängender als die beliebigen Jubiläen sind angesichts unserer gegenwärtigen politischen und gesellschaftlichen Situation, die der Verlag in diesen Dimensionen natürlich noch nicht absehen konnte, die Warnungen und Befürchtungen des großen Pazifisten und Europäers Romain Rolland. Dass sich, mit Marx, die Geschichte als Farce wiederholt, zeigt sich aktuell nicht nur in den USA, wo ein Präsident wie ein übellauniges Kind per Twitter regiert, sondern auch im rechten, nationalistischen Populismus Europas, der von Viktor Orbán über Marine Le Pen und von Geert Wilders bis zu Frauke Petry und von dort über die sozialen Medien bis in die kleinsten Winkel bürgerlicher Selbstgefälligkeit hinein wieder um sich greift. Sicherlich lässt sich bis zu einem gewissen Grad behaupten, diese oder jene Nation habe aus ihrer Geschichte gelernt, der Kontinent Europa jedoch bleibt den Beweis vorerst noch schuldig. Wenn diese schön gestaltete Auswahl aus den Anti-Kriegstagebüchern Rollands weder neue Kriege verhindert noch auch nur die Wiederentdeckung beispielsweise seines Jean-Christophe befördert, von dem Stefan Zweig meinte, es sei ein „ethisches Ereignis“, so dient sie im Hinblick auf den politischen Weitblick des Autors und übertragen auf die gegenwärtige Auflösung Europas für ein unbestimmtes Danach allenfalls als ‚hab’s dir ja gesagt’. Denn das Problem ist doch, dass unsere heutigen postfaktischen Populisten keine Clark’schen „Schlafwandler“ mehr sind, sondern ganz im Gegenteil sehenden Auges auf die Katastrophe zusteuern. Aber schon Rolland schrieb angesichts des „europäische[n] Kampfgetümmel[s]“, das in einer „Art Krankheit des Planeten“ gipfelte: „Da ist nichts weiter zu machen, als zu beobachten.“ Wer dies angesichts einer abermals bedrohten Menschheit bereits als Panikmache empfindet, der oder die greife doch zu diesem wunderbar ausgewählten Band (der Pflichtlektüre in der Schule sein sollte) – denn vielleicht bleibt beim Weltuntergang wenigstens noch Zeit für ein gutes Buch.

Titelbild

Romain Rolland: Über den Gräben. Aus den Tagebüchern 1914-1919.
Mit einem Nachwort von Julia Encke, herausgegeben von Hans Peter Buohler.
Verlag C.H.Beck, München 2015.
175 Seiten, 16,95 EUR.
ISBN-13: 9783406683473

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