Scheherazade im Gerichtssaal

Saphia Azzeddines Roman „Bilqiss“ ist das literarische Tribunal einer muslimischen Frau gegen Patriarchat und Orientalismus

Von Sarah MurrenhoffRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sarah Murrenhoff

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Jemand muss Bilqiss verleumdet haben, denn ohne dass sie etwas Böses getan hätte, findet sie sich eines Morgens als Angeklagte in einer Gerichtsverhandlung wieder. Es wird der Prozess einer unangepassten Frau in einem islamischen Land, das im Roman Bilqiss von Saphia Azzeddine nicht näher benannt ist. Tag für Tag drängen die Dorfbewohner in den kafkaesken Gerichtssaal. Dort steckt Bilqiss in einem Käfig, um von dem Zuschauermob nicht vorab gelyncht zu werden. Im Grunde wäre eine Verhandlung überflüssig, denn die schöne Bilqiss ist längst verurteilt, und als Witwe ohne Kinder steht sie ohnehin außerhalb des Gesetzes. Doch die „Hochstapler des Göttlichen“, wie die Angeklagte die selbstverliebten Gesetzeshüter nennt, brauchen eine Bühne. Und es geht um nichts Geringeres als die Todesstrafe durch Steinigung.

Strafe wofür eigentlich? Die Liste von Bilqiss‘ Vergehen wird jeden Tag länger: Sie hat die Anstandslosigkeit besessen, anstelle des betrunkenen Muezzins zum Adhan, dem Morgengebet, zu rufen – und dabei das Unsagbare verkündet: eine zeitgemäße Interpretation des Koran. Zudem ist sie im Besitz von Schminke, Zeitungen und Pinzette und hat ihre Lyrikbände neben phallischem Obst im Garten vergraben. Mit zynischer Schlagkraft und rhetorischer Raffinesse übernimmt sie nun ihre Verteidigung höchstpersönlich, disputiert und entschleiert Argument für Argument die obszöne Moral der Sittenwächter. Während die Schreie des Mobs nach ihrer Hinrichtung immer unaufhaltsamer werden, erfährt am anderen Ende der Welt eine amerikanische Journalistin via YouTube von dieser außergewöhnlichen Frau.

So folgt der plötzliche Wechsel ins mondäne New York, wo sich die Probleme einer Frau um Selbstbestimmung, berufliche Verwirklichung und sexuelle Belästigungen am Arbeitsplatz drehen. Wo Solidarität sich darin ausdrückt, bio und vegan zu essen, Spenden für den Amazonas und Unterschriften für Sakineh Mohammadi Ashtiani zu sammeln sowie die Samstagabende auf Wohltätigkeitsgalas für Frauenrechte zu verbringen. Die selbstbewusste Feministin Leandra ist empört von dem ungeheuren Fall und fasziniert von Bilqiss, der „tragischen Schönheit mit dem durchdringenden Blick“. Mit Notizblock, Touristen-Burka und besten Absichten gewappnet macht sich die Journalistin kurzerhand auf die Reise in ein islamisches Land, das sie einzig von ein paar YouTube-Videos kennt.

Diese gegensätzlichen Welten stellt die 1979 in Marokko geborene und mit neun Jahren nach Frankreich gezogene Autorin Saphia Azzeddine in Bilqiss mit viel Witz nebeneinander. Sie lässt Figuren aufeinandertreffen, die das Milieu des Gegenübers erwartungsvoll mit orientalischen Märchen und Hollywood-Filmen verwechseln. Doch dieser Roman ist alles andere als Kitsch und Klischee: Er wird zu einem Kampfplatz für bitterböse Schlagabtausche und ernüchternde Begegnungen, auf dem triviale Katharsis keinen Platz hat und Sentimentalität, Exotismus und Betroffenheit in die letzte Zuschauerreihe verwiesen werden. Mitleid wird zum unanständigen Privileg und Solidartourismus dahin zurückverwiesen, wo er entspringt: im eigenen Selbstbild. Denn „hierzulande sind noble Gedanken schöne Schlampen, die aufreizen, aber nicht küssen“.

Eine Figur wie Bilqiss braucht keine Fürsprache, erst recht nicht von einer weißen, westlichen Frau. Sie versteht es selbst zu sprechen. Wie Scheherazade weiß Bilqiss ihre Hinrichtung mit Geschicklichkeit jeden Tag um einen weiteren hinauszuzögern – und damit ihren Auftritt zu verlängern. Denn sie möchte sich eine Rolle erkämpfen in dieser Welt, in der eine Muslima stets als Unterdrückte gilt. Es geht ihr um Protagonismus, nicht um die bloße Verlängerung ihres Lebens als Marionette stumpfsinniger Ordnungshüter: „Und wenn es im Leben Schlimmeres als den Tod gäbe, Herr Richter? Wenn Bleiben qualvoller wäre als Gehen?“

Dank der szenischen Dialoge des Romans entsteht beim Lesen vor dem inneren Auge regelrecht eine Bühne, auf der sich die Figuren bewegen. Voyeurismus wird zum treibenden Element – von Figuren, Handlung und Leserin. Während die Dorfbewohner nach der Hinrichtung lechzen und die Journalistin Bilqiss‘ intimsten Ängste sehen möchte, ertappt sich die Leserin dabei, wie sie bereitwillig falschen Fährten folgt und letztendlich die ureigenen Erwartungen gespiegelt sieht. Der Leser wird zum Zuschauer. Daher verwundert es nicht, dass Zorngebete, Azzeddines Debütroman aus dem Jahr 2008, bereits auf Theaterbühnen umgesetzt wurde. Bei der Verfilmung ihres zweiten Romans, Mein Vater ist Putzfrau, in Frankreich bereits 2009 erschienen, führte die Autorin selbst Regie.

Schnelle Schlagabtausche wechseln sich in Bilqiss mit intelligenten Reflexionen ab, die mit der Welt, aber auch der jeweiligen Figur, hart ins Gericht gehen. Geschrieben ist der Roman in der ersten Person. Doch das „Ich“ hat unterschiedliche Ursprünge: Mal ist es Bilqiss, die spricht, mal die amerikanische Journalistin, dann der hin- und hergerissene Richter. Dicht an den Figuren werden Irrtümer aufgedeckt: Ist Kommunikation überhaupt möglich, wenn man nicht dieselbe Sprache spricht? Letztendlich ermöglicht die Erzählkomposition den Spagat, trotz der Perspektivwechsel zwischen Frau und Mann, ‚Orient‘ und Westen bleibt es eine einzige Stimme, die spricht: herauszulesen ist stets derselbe lakonische, selbstironische, bissige und schonungslos ehrliche Ton, was den Zufall des Geburtsorts in seiner ganzen Absurdität hervortreten lässt.

Wahrheit und Wahrscheinlichkeit allerdings werden zweitrangig. Beim Lesen inhaliert man die treffsicheren Reden in der Hoffnung, die tragikomische Geschichte möge niemals zu ihrem bitteren Ende kommen. Allerlei etwas unwahrscheinliche Kunstsprünge können dabei übergangen werden (etwa, dass die Amerikanerin dem Gerichtsprozess ohne Dolmetscher folgt) – schließlich wird das Erzählen selbst zum Widerstand und ist das Einzige, was bleibt.

Bilqiss ist die provokative und gleichzeitig sensible Geschichte einer unerbittlichen Abrechnung mit jeglichen Zuschreibungen von außen. Als individualistische Frau in einer kollektivistischen und von Männern dominierten Gesellschaft erobert sich die Protagonistin die Bühne des Gerichtsaals. Ihr Spott ist grenzenlos, der Galgenhumor niemals plump. Der Roman wird zum literarischen PR-Prozess, in dem die Angeklagte das Patriarchat am Phallus packt und durch den Gerichtssaal schleift. Es ist das dritte bei Wagenbach erschienene Buch von Azzeddine und vielleicht die Fortsetzung einer Themenreihe, die mit Der letzte Patriarch von Najat El Hachmi 2011 begann.

Titelbild

Saphia Azzeddine: Bilqiss. Roman.
Übersetzt aus dem Französischen von Birgit Leib.
Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2016.
176 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783803132819

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