Das jahrhundertelange Ende des Mittelalters

Thomas Kühtreiber und Gabriele Schichta präsentieren in ihrem Sammelband „Kontinuitäten, Umbrüche, Zäsuren“ verschiedene Sichtweisen auf eine historische Frage

Von Charlotte KempfRSS-Newsfeed neuer Artikel von Charlotte Kempf

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wer sich Epochen und Epochenübergängen widmet, steht vor dem unlösbaren Widerspruch, dass die Behauptungen von Epochengrenzen auf der einen Seite heuristisch notwendig sind, um historische Verläufe zu strukturieren, sich auf der anderen Seite eben diese Epochengrenzen stets auch als Konstrukte zu erkennen geben. Diese Herausforderung ist unvermeidlich und trifft für alle Epochenbezeichnungen zu, mögen sie nun Mittelalter, Vormoderne oder Renaissance heißen.

Im Unterschied zu anderen Epochen erweist sich die Abgrenzung des Mittelalters zur nachfolgenden Epoche allerdings möglicherweise als trennschärfer und hartnäckiger. Der Frage, wann, wo und warum sich Wendepunkte oder im Gegenteil eher Persistenzen vom Mittelalter zur Frühen Neuzeit feststellen lassen, widmet sich ein jüngst erschienener Sammelband mit dem Titel Kontinuitäten, Umbrüche, Zäsuren. Die Konstruktion von Epochen in Mittelalter und früher Neuzeit in interdisziplinärer Sichtung. Er ging aus einer gleichnamigen Tagung hervor, die das Institut für Realienkunde des Mittelalters und der frühen Neuzeit (IMAREAL) und das Interdisziplinäre Zentrum für Mittelalter und Frühneuzeit (IZMF) der Universität Salzburg in Krems an der Donau am 14. und 17. März 2014 veranstalteten. Beide Einrichtungen hatten mit Umbenennungen und der Ausweitung des Untersuchungsraumes eine wechselhafte Geschichte hinter sich. Ein entscheidendes Kapitel ihrer beider Institutionengeschichte ereignete sich 2012, als das IMAREAL, das zuvor 45 Jahre lang in der Österreichischen Akademie der Wissenschaften verankert war, dem IZMF zugeordnet wurde. Die gemeinsame Tagung markiert daher den Beginn einer neuen institutionellen Partnerschaft. Der Sammelband selbst bildet den sechsten Band der gemeinsam vom IMAREAL und IZMF betreuten Publikationsreihe Interdisziplinäre Beiträge zu Mittelalter und Früher Neuzeit. Herausgeber des Sammelbandes sind der Geschäftsführer des IMAREAL Thomas Kühtreiber und seine wissenschaftliche Mitarbeiterin Gabriele Schichta. Doch präsentiert sich der Sammelband nicht als ein IMAREAL-und-IZMF-Hausprodukt, sondern stellt überwiegend die Ergebnisse externer Wissenschaftler vor. Zusätzlich fanden zwei weitere Beiträge in den Sammelband Eingang, die 2012 auf einer sprach- und literaturwissenschaftlichen Tagung des IZMF präsentiert wurden.

Das Thema der Tagung selbst ist nicht neu. So würde wohl niemand von einer klaren Zäsur sprechen, die das Mittelalter auf das Jahr genau von der Frühen Neuzeit, oder ganz allgemein zwei Epochen voneinander abgrenzt. Ebenso denke man nur an die allein in den letzten zehn Jahren erschienenen Sammelbände mit Titeln wie Die Aktualität der Vormoderne oder Aufbruch im Mittelalter oder den bereits 1987 von Reinhart Herzog und Reinhart Koselleck herausgegeben Sammelband Epochenschwelle und Epochenbewußtsein, der das Konstrukt von Epochen nicht nur hinsichtlich des Mittelalters und der Frühen Neuzeit betrachtet. Alle genannten – und hier aus der Fülle der entsprechenden Literatur nur exemplarisch hervorgehobenen – Arbeiten unterstreichen einerseits, dass Epochenübergänge vielmehr von komplexen Transformationsprozessen als von klaren Zäsuren charakterisiert sind. Andererseits wird darauf hingewiesen, dass und in welcher Weise die in der historischen Rückschau als ‚Epoche machend‘ charakterisierten Ereignisse heuristisch vielfach Konstrukte der Forschung sind. Auch Kühtreiber und Schichta gehen von diesem Problembewusstsein aus. Sie möchten mit ihrem Sammelband, wie sie in der Einleitung erläutern, den Blickwinkel aber verschieben und gängige Vorstellungen von Epocheneinteilungen diskutieren und zugleich mit Perioden der Innovation, des Umbruchs und der Zäsur abgleichen. Ihrem Ziel nähern sie sich aus kulturwissenschaftlicher Perspektive und machen für die nachfolgenden Beiträge zwei leider nicht im Inhaltsverzeichnis gekennzeichnete Themenblöcke aus: Sie befassen sich entweder mit Prozessen und Dynamiken von Epochenkonstruktionen oder mit Traditionsbildung, Kontinuität und Wandel.

Neben der Einleitung von Kühtreiber und Schichta sowie einem allgemeineren Beitrag von Thomas Kohl und Steffen Patzold umfasst der Sammelband 13 Einzelstudien. Das Besondere ist, dass weniger traditionelle oder klassische Phänomene des Epochenumbruchs von Mittelalter und Früher Neuzeit, wie die Entdeckung Amerikas, die Reformation oder die Erfindung des Buchdrucks thematisiert werden, wobei der Buchdruck im Beitrag von Anja Voeste zur orthographischen Entwicklung im Übergang vom Mittelalter zur Frühen Neuzeit durchaus zur Sprache kommt. Statt der klassischen und in ihren Grundentwicklungen bekannten Phänomene der Umbruchszeit stehen Aspekte im Vordergrund, die ansonsten bei der Frage nach Epochenumbrüchen, dem Epochenverständnis und Kontinuitäten wohl nicht im Zentrum stehen würden, wie der Umgang mit Leichen (Romedio Schmitz-Esser), die Frage nach dem Ursprung von Wappen (Torsten Hiltmann) oder Fortschritte in der Anatomie (Ortrun Riha). Dem Sammelband gelingt es damit, die Signaturen des Fortbestandes oder der Zäsur auch in eher randständigen Bereichen aufzuzeigen. Gerade diese thematische Vielfalt ist eine Stärke des Sammelbandes. Eine zweite Stärke ist seine interdisziplinäre und raum- und zeitübergreifende Ausrichtung. Insgesamt finden sich in dem Band nicht nur Beiträge aus der Geschichtswissenschaft und der Germanistik, sondern ebenso beispielsweise aus der Musikwissenschaft, der Kunstgeschichte und der Archäologie. Diese disziplinäre Breite bedingt abwechslungsreiche Schwerpunktsetzungen, denn so stehen etwa Aufsätze zum Meta-Diskurs (Anja Rathmann-Lutz) neben kunsthistorischen Analysen zur Etternitas-Allegorie (Katrin Kärcher/Matthias Heinz) oder literaturwissenschaftlichen Ausführungen zur Incidentia (Manfred Kern). Dem Untersuchungsraum und der Untersuchungszeit sind ebenfalls keine Grenzen gesetzt, sie reichen von Grönland (Ulrich Müller) bis nach (Süd-)Osteuropa (Harald Heppner; Jan Klápštĕ) bzw. vom Frühmittelalter (Gregor Schoeler; Lukas J. Dorfbauer) bis zum 17. Jahrhundert (Torsten Hiltmann), wobei gleichwohl der Schwerpunkt auf Mitteleuropa und dem Spätmittelalter liegt. Diese räumliche, zeitliche und disziplinäre Breite hat dem Band gut getan – er weitet den Blick, ohne das Zentralthema aus dem Auge zu verlieren.

Im Überblick über die Beiträge wird deutlich, dass die Antwort auf die Frage, wann das Ende des Mittelalters und der Beginn der Frühen Neuzeit zu veranschlagen sind, keineswegs einheitlich „um 1500“ lautet, sondern in den einzelnen Disziplinen deutlich differiert. Auch was als „mittelalterlich“ oder „neuzeitlich“ gilt, wird je nach Disziplin und Untersuchungsgegenstand unterschiedlich gesehen. So wird nach Ortrun Riha in der Medizingeschichte für gewöhnlich das 19. Jahrhundert als die entscheidende Phase des Wandels (und nicht schon das 15. oder 16. Jahrhundert) betrachtet, ebenso werden, wie Andrea Lindmayr-Brandl erläutert, in der Musikgeschichte vielmehr „um 1600“ oder „um 1900“ als Grenzkategorien aufgefasst. Nach Harald Heppner ist der Mittelalterbegriff für die Geschichte Süd-Ost-Europas sogar vollends inkompatibel. So kann das, was als Epoche machend (hier im Sinne von stilbildend) bereits zwischen den 7. und 8. Jahrhundert erfolgen (Gregor Schoeler) oder umgekehrt das, was gemeinhin als innovativ gilt, wie die Scholastik des 16. Jahrhunderts, vielmehr seine Vorbilder schon im 12. Jahrhundert haben (Rolf Darge) oder wieder anders können Diskurse erst im 17. Jahrhundert eine grundlegende Transformation erfahren, wie es bei der Diskussion um die Herkunft der Wappen der Fall war (Torsten Hiltmann). Vermutlich kann in diesen unterschiedlichen herausgearbeiteten Schnittpunkten auch der Grund gesehen werden, weshalb sich kein Beitrag für eine radikale Zäsur ausspricht, sondern stattdessen mehrfach nicht nur der titelgebende Begriff der Kontinuität, sondern auch der Begriff der Transformation stark gemacht wird (beispielsweise bei Ullrich Müller, Rolf Darge und Romedio Schmitz-Esser).

Als Synthese des Bandes kann daher gelten, dass erst die konkreten Fallanalysen einsehbar machen, vor welchem Hintergrund und auf welcher Grundlage die Grenze zwischen Mittelalter und Früher Neuzeit beschrieben und auf welcher Basis Konstruktionen von Mittelalter und Früher Neuzeit formuliert werden. Spricht man im Hinblick auf diese beiden Epochen von Kontinuität, Umbruch, Zäsur oder Konstruktion so wird man die disziplinenspezifischen Beweggründe einer solchen Darstellung berücksichtigen müssen, weshalb ein differenziertes Verständnis der Epochenbegriffe Mittelalter und Früher Neuzeit notwendig ist.

Die nächste Kooperationstagung zwischen IMAREAL und IZMS ist bereits in Planung. Sie trägt den Titel Medialität und Materialität ‚großer Narrative‘: Religiöse (Re-)Formationen und wird von 27. bis zum 29. September 2017 erneut in Krems an der Donau stattfinden. Sollten die Organisatoren eine Publikation der Vorträge planen, so ließen sich vielsprechende Ergebnisse erwarten.

Ein Beitrag aus der Mittelalter-Redaktion der Universität Marburg

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Thomas Kühtreiber / Gabriele Schichta (Hg.): Kontinuitäten, Umbrüche, Zäsuren. Die Konstruktion von Epochen in Mittelalter und früher Neuzeit in interdisziplinärer Sichtung.
Interdisziplinäre Beiträge zu Mittelalter und Früher Neuzeit Band 6.
Universitätsverlag Winter, Heidelberg 2016.
355 Seiten, 52,00 EUR.
ISBN-13: 9783825366452

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