Wie Freiheit sich anfühlt

Cornelia Schmalz-Jacobsen erinnert an den „Russensommer“ 1945

Von Lutz HagestedtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lutz Hagestedt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Cornelia hatte Glück. Als der Bombenkrieg Berlin erreichte, nahm ihr Onkel Friedel die damals Achtjährige auf – die Bunkernächte in der Reichshauptstadt fanden damit ein Ende, und ein nahezu unbeschwertes Landleben auf dem Darß begann. Die private „Kinderlandverschickung“ zu Verwandten an der Ostsee glich dabei einem Lebenswechsel.

Die Dorfschule von Müggenburg hatte nur ein einziges Klassenzimmer: „Es gab auch nur einen einzigen Lehrer, den Lehrer Gertz, der alle Kinder, von der ersten bis zur achten Volksschulklasse, gleichzeitig unterrichtete. Ich gehörte – mit zwei anderen Kindern – genau genommen zur dritten Klasse, aber es machte mir Spaß zuzuhören, was er den älteren Kindern beibrachte.“ Cornelia Schmalz-Jacobsen ist erst im Nachhinein klar geworden, welch ein tüchtiger Mann ihr Lehrer gewesen sein muss – auch war er glücklicherweise kein Gefolgsmann des „Führers“: „Er nutzte seinen persönlichen Spielraum, um sich – und uns – dem Naziregime ein wenig zu verweigern. So gab es keinen morgendlichen Fahnenappell, obwohl neben dem kleinen Schulgebäude ein Fahnenmast stand. Auch kein Sirenengeheul und keinen Luftschutzdrill. Wir sangen keine Nazilieder, und wir sagten auch nicht ‚Heil Hitler‘, sondern ‚Guten Morgen‘.“ Dieser Lehrer wurde von einem völkisch gesinnten Bauern aus dem Dorf denunziert, blieb aber ansonsten weitgehend unbehelligt.

Auch der Hof des Onkels markierte eine Gegenwelt: „Ich würde Müggenburg gern als das unbeschwerte Kinderparadies in Erinnerung behalten, das es oft genug war.“ Ein zusammengewürfelter Haufen von Deutschen und Polen, Landwirten und Landarbeitern, Vertriebenen und Fahnenflüchtigen, die zusammen auf dem Hof arbeiteten oder spielten, gemeinsam aßen und miteinander lachten: „Friedels Hof stand jedem offen, der kein Nazi war.“

Die Region gehörte zum Machtbereich des SS-Standartenführers Müller-Darß, ein Günstling Hermann Görings, der eine Jagd im Darßer Wald besaß. Onkel Friedel, einem studierten (und promovierten) Volkswirt, gelang es jedoch, sich diesen Mann und seine Meute vom Leib zu halten. Im Herbst 1944 war ihm bereits klar, dass der Darß über kurz oder lang von der Sowjetischen Armee erobert werden würde: „Was sollte man gegen die Russen tun?“ Oder vielmehr für sie? Es ging damals eine tiefe Angst vor den Russen um: „Die Kriegspropaganda heizte sich gegenseitig auf. Auf der einen Seite Propagandaminister Goebbels, auf der anderen der Schriftsteller und Chefpropagandist Stalins, Ilja Ehrenburg.“ Was also sollte geschehen, wenn die Russen im Ort standen? Wie konnte man ihnen entgegentreten? Onkel Friedel – Doktor Friedrich Greiff – verordnete Russischunterricht für alle. Und ein bekanntes Lehrbuch – „Tausend Worte Russisch“ – hatte er auch schon organisiert.

Als im April 1945 die 65. Armee von Barth aus auch das Fischland und den Darß abriegelte, war die Wehrmacht bereits weiter gen Westen abgezogen oder befand sich in Auflösung. Auch der sogenannte „Volkssturm“ bestand schon nicht mehr, und von den Kirchtürmen wehten weiße Fahnen als Zeichen kampfloser Kapitulation. Panjewagen hielten Einzug, und der russische Kommandant, der leidlich Deutsch sprach, war auf Verständigung aus.

Während die Russen systematisch die Dörfer durchkämmten, um NS-Täter und Kriegsverbrecher aufzuspüren, befreundete sich Cornelia mit drei jungen Kosaken – und lernte reiten. Morgens durfte sie mit Nikolai, einem etwa 18-jährigen Rekruten, die Pferde zur Tränke führen, nachmittags durfte sie mit ihm ausreiten. Ein langer, warmer Sommer lag vor ihnen: Sie sangen deutsche und russische Lieder.

Cornelia Schmalz-Jacobsen verhehlt die negativen Begleiterscheinungen jener Jahre nicht. Die Menschen, die alles verloren hatten oder auf der Flucht ihr Leben ließen. Die Verzweifelten, die sich in ihrer Angst vor dem Kommenden umbrachten. Das berüchtigte „Frau, komm“, das zum geflügelten Wort wurde, ebenso wie das zynische „vergewohltätigt“. Sodann die eingeschleppten oder aufkeimenden Krankheiten – Beulenkrätze, Typhus, Kopfläuse und Furunkulose. Der nagende Hunger als ständiger Lebensbegleiter (von dem sie selbst freilich verschont blieb). Doch nicht die bösen Schatten der Erinnerung beherrschen ihr Buch, sondern die versöhnlichen Gesten der Verständigung. Die Hochstimmung des „Russensommers“, das Gefühl der Befreiung, die Freude über das Ende des Krieges strahlen bis heute aus und bestimmen auch ihr Verhältnis zu den Sowjets. Die vierte Besatzungsmacht, so ihr Urteil, erhielt 1994 einen Abschied zweiter Klasse. Und das sei falsch gewesen, und unwürdig: „Am Ende, dachte ich, hatten uns die Russen sicher nicht die Freiheit gebracht. Doch in jenem Sommer auf dem Darß und mit den drei Kosaken hatte ich zum ersten Mal in meinem Leben gespürt, wie Freiheit sich wirklich anfühlt.“

Titelbild

Cornelia Schmalz-Jacobsen: Russensommer. meine Erinnerungen an die Befreiung vom NS-Regime.
C. Bertelsmann Verlag, München 2016.
216 Seiten, 19,99 EUR.
ISBN-13: 9783570103111

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