Aufklärung, Selbstvergewisserung und Gegenpropaganda

Ein Sammelband liefert Beiträge zur Rolle des deutschsprachigen Exils im Zweiten Weltkrieg

Von Jens FlemmingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jens Flemming

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Sie hätten spät eine grausame Lektion lernen müssen. So wie Patriotismus sei auch Pazifismus allein als Haltung und Gesinnung nicht (mehr) ausreichend. Das ist die Quintessenz eines um 1940 verfassten, jedoch nicht veröffentlichten Aufsatzes. Die Autorin war Alice Salomon. 1872 als Tochter einer jüdischen Kaufmannsfamilie in Berlin geboren, war sie eine der profilierten Frauenrechtlerinnen. Sie hatte 1925 die „Deutsche Akademie für soziale und pädagogische Frauenarbeit“ gegründet und war 1937 in die Vereinigten Staaten emigriert. Konfrontiert mit dem von der NS-Regierung entfesselten Krieg, der sich bald darauf zum Weltkrieg ausweitete, fragte sie nach den Möglichkeiten, die einer genuinen Frauenpolitik noch geblieben waren. Die Antwort, die sie gab, war in gewisser Weise traditionell und hatte bereits um 1900 die Gemüter bewegt: Unter Berufung auf Lysistrata, das Theaterstück des Aristophanes, propagierte sie den Gebärstreik als Akt des Widerstands gegen die europäischen Diktaturen und gegen militärische Gewalt. In Erwägungen wie diesen spiegelt sich zum einen Resignation und Verzweiflung über den Verlust älterer Gewissheiten, die den Frauen eine besondere ethische Verantwortung im Feld des Sozialen zugewiesen hatten, zum andern der Versuch, unter radikal veränderten Gegebenheiten wieder Handlungsräume zu gewinnen, abermals einen bereits früher geprägten Satz beschwörend: Wahlrecht als Mittel, eine Welt des Friedens als Ziel.

Das ist der Befund von Adriane Feustel, der Herausgeberin der Schriften Salomons, präsentiert in einem Beitrag zu einem von Hiltrud Häntzschel und anderen verantworteten Sammelband, der verschiedene Aspekte des Exils unter den Bedingungen des Krieges von 1939 bis 1945 beleuchtet. Er findet sich im ersten Abschnitt, in dem vier Aufsätze um die Pole Pazifismus und Kriegsdiskurs kreisen. Reinhold Lütgemeier-Davin lenkt die Aufmerksamkeit auf Ikonen der bürgerlichen Frauenbewegung wie Anita Augspurg und Lida Gustava Heymann, die in die Schweiz geflüchtet waren, wo sie alle Hände voll zu tun hatten, ihren Alltag zu organisieren und das ihnen auferlegte Betätigungsverbot zu umgehen. Die gesundheitlich angeschlagene Helene Stöcker, die 1938 von Zürich nach London und schließlich nach Stockholm wechselte, büßte freilich an Radius ein und blieb dem Ideal der Friedfertigkeit verhaftet, aber 1941 bekannte selbst sie, dass die „Gewaltmethoden des Faschismus durch pazifistische Mittel nicht mehr zu überwinden“ seien. Dem „Denken Ernst Blochs“ ist der Artikel des Literaturwissenschaftlers Johannes F. Evelein gewidmet. Wie andere Marxisten war Bloch überzeugt, dass Kapitalismus und Friede unvereinbare Gegensätze seien, der Kampf daher der Überwindung des Faschismus und der Errichtung des Sozialismus zu gelten habe. Dass damit 1937 eine rabiate, militante Rechtfertigung der Moskauer Schauprozesse gegen die alte bolschewistische Elite einherging, lässt Evelein allerdings unerwähnt. Swen Steinberg richtet den Blick auf einen heute weithin Unbekannten, den Ingenieur und Publizisten Kurt Doberer, der 1936 zusammen mit dem linken Sozialdemokraten und KP-Sympathisanten Max Seydewitz ein Buch über moderne Waffen- und Kriegstechnik auf den Markt brachte. Charmian Brinson nimmt sich des Schicksals der deutschen und österreichischen Frauen an, die im Vereinigten Königreich als „enemy alien“ interniert wurden; Elisabeth Lebensaft und Christine Kanzler rekonstruieren die unter unwürdigen Begleiterscheinungen vollzogene Deportation deutschsprachiger Flüchtlinge von England nach Australien.

Die folgenden Abschnitte sind der von Emigranten betriebenen Aufklärung und Gegenpropaganda gewidmet, ferner der „subversiven Arbeit“ für die Geheimdienste der beiden westlichen Alliierten sowie verschiedenen Diskussionsangeboten für eine tragfähige Nachkriegsordnung. Dabei handelt es sich um prominente und weniger prominente Akteure. Zu ersteren gehörten Thomas und Erika Mann: Hans R. Vaget analysiert Thomas Manns Kriegsschriften, die, anders als die antidemokratischen Betrachtungen eines Unpolitischen“ von 1915/1918, ohne Wenn und Aber für einen Regimewechsel, für die bedingungslose Kapitulation, die Bestrafung der Täter und radikale Entnazifizierung als Voraussetzung für den Wiedereintritt Deutschlands in den Kreis der zivilisierten Nationen plädieren. Irmela von der Lühe nimmt sich die Kriegsreportagen Erika Manns vor, die ihrem Vater im antifaschistischen Kampf stets an Entschiedenheit und Leidenschaft voraus war. Multimedial vernetzt, berichtete sie vom Geschehen an den Fronten, in einer „männerdominierten“ Sphäre ihre „eigene Präsenz als Frau“ behauptend und zugleich für die Zeit nach dem Ende des Nationalsozialismus über Perspektiven nachdenkend, die nicht allein auf Deutschland und Europa beschränkt waren. In der Palästina-Frage zum Beispiel sympathisierte sie mit einer bi-nationalen, jüdische und arabische Interessen gleichermaßen berücksichtigenden Lösung. Dass man sie in der McCarthy-Ära prokommunistischer Neigungen verdächtigte, hat sie tief getroffen. Die darin zum Ausdruck kommende Politik empfand sie als Verrat an amerikanischen Traditionen und Werten: Ihre bereits 1943 umrissene Vision lief dagegen auf eine „von Dummheit und Diktatur befreite Welt“ hinaus.

Zu denjenigen, die sich nicht in das breitere Gedächtnis eingeschrieben haben, zählt der 1938 aus München geflüchtete Journalist und Bühnenautor Egon Larsen, der 1943 die Praxis der britischen Propaganda einer kritischen Betrachtung unterzog (Hiltrud Häntzschel). Das deutschsprachige, vom Londoner Informationsministerium geförderte Organ Die Zeitung, für die auch Sebastian Haffner arbeitete, wurde von Richard Ziegler und Walter Trier mit Zeichnungen beliefert, die zwischen bissig „sezierendem Portrait“ und „humorvoller Karikatur“ oszillierten. Burcu Dogramati interpretiert dies zum einen als „widerständige Handlung“, zum andern als Form „künstlerischer Selbstbehauptung im Exil“. Florian Traussnig porträtiert die österreichische Schauspielerin Vilma Kuerer, die dem „Soldatensender Calais“ (später „Soldatensender West“) ihre Stimme lieh. Ob dieser tatsächlich die deutschen Landser nachhaltig faszinierte, lässt sich allerdings ebenso wenig zweifelsfrei belegen wie die These, dass er „in gewisser Weise die massenkulturelle Hegemonie der USA im Mitteleuropa der Nachkriegszeit“ antizipierte.

Der relativ spät emigrierte Heinrich Hauser, der zunächst mit dem NS-Regime geflirtet hatte, versuchte dem amerikanischen Lesepublikum seine Sicht auf das nationalsozialistische Deutschland nahezubringen, dabei, wie Matthias Uecker hervorhebt, einen Widerspruch zwischen dem „idealistischen“ Programm der Nazis und der damit nicht übereinstimmenden Realität konstruierend. Ernst G. Preuß, der älteste Sohn des Staatsrechtlers Hugo Preuß, profilierte sich ebenfalls als Diagnostiker des NS, den er, so Thomas Irmer, unter Verweis auf Preußen, das Kaiserreich und den Militarismus als fest verankertes Glied in einer „Kette historischer Fehlentwicklungen“ begriff, weshalb Deutschland nach dem Krieg strikter Kontrolle unterworfen werden müsse. Am Schluss des Bandes wirft Katja Schubert einen Blick auf Hedda Zinner und deren Sohn John Erpenbeck. Es ist dies der einzige Beitrag, der über das Exil in der Sowjetunion und die Fallstricke der Erinnerung oder besser: der Nichterinnerung an die Schreckenszeit des Stalinismus informiert. Indem die Autorin auch zwei Romane der Enkelin Jenny Erpenbeck einbezieht, wird ein Verfahren „intergenerationellen Erzählens“ sichtbar, das eine Ahnung davon vermittelt, wie fruchtbar ein Ineinanderwirken von „Literatur und Fiktion“ für die Geschichte des Exils sein kann.

Titelbild

Hiltrud Häntzschel / Inge Hansen-Schaberg / Claudia Glunz / Thomas F. Schneider (Hg.): Exil im Krieg 1939-1945.
Krieg und Literatur, Vol. XXII. Hrsg. v. Claudia Glunz und Thomas F. Schneider.
V&R unipress, Göttingen 2016.
224 Seiten, 45,00 EUR.
ISBN-13: 9783847106319

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