Doppelter Frieden

Helga Schützʼ Erzählung „Die Kirschendiebin“ entwirft ein schwermütiges Sehnsuchts-Porträt

Von Peter MohrRSS-Newsfeed neuer Artikel von Peter Mohr

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Helga Schütz, die Anfang Oktober ihren 80. Geburtstag feierte, hat sich seit Jahr und Tag als poetische Dokumentaristin des ostdeutschen Alltags einen Namen gemacht. Äußerst subtil hat sie in ihren Romanen (angefangen mit In Annas Namen, 1986) darüber hinaus ihre eigene Biografie eingeflochten. An dieser bewährten Konzeption hat die in Niederschlesien geborene und später in der DDR lebende Autorin auch in ihrem Erzählwerk Die Kirschendiebin festgehalten.

Helga Schütz erzählt von einer durch die politischen Wirren stark beeinflussten Dreierbeziehung, in deren Mittelpunkt der Schriftsteller Thomas Falkenhain steht. Jener Falkenhain (so heißt auch Helga Schützʼ niederschlesischer Geburtsort) geht auf die 80 zu und lebt – nach einer jahrelangen Beziehung mit Leni – wieder allein in seinem Haus in Alt-Glienicke vor den Toren Berlins. Sie sind Freunde geblieben, Leni kocht weiterhin für Thomas, und doch genießen beide die durch die Trennung wiedererlangte Freiheit.  „Es war gut, wenn der andere Ruhe fand. So entstand doppelter Frieden.“ Beide sind Angehörige einer Generation, bei der die Biografien – bedingt durch die politischen Wirrnisse des letzten Jahrhunderts – besonders starke Brüche aufweisen. „Sie schwammen mit ihrer Generation“, heißt es sinnträchtig an einer Stelle – und das mit allen Konsequenzen. Aus den ambitionierten und politisch interessierten Studenten der 1960er Jahre sind desillusionierte Senioren geworden. Nicht verbittert, aber über verpasste Lebenschancen sinnierend. „Hinter den alt gewordenen Kriegskindern lag nun ein graues verpöntes Stück ureigener Vergangenheit.“

Richtig Fahrt erhält die Handlung, als Thomas in seinen Stasi-Akten stöbert. Er erhält Gewissheit, dass Nachbarn alles protokolliert hatten: Tagesabläufe, Besuche, politische Bemerkungen und vieles mehr. Dabei stößt er auch auf abgefangene Briefe von der „Kirschendiebin“, einer längst vergessenen Liebe in jungen Jahren, die als Studentin in den Westen geflohen war und später ein viel beachtetes Buch über Bäume publiziert hat. Thomas hatte die Kommilitonin einst beim Kirschenpflücken im Universitätsgarten überrascht.

Schütz lässt in dieser Erzählung, die man durchaus als schlanken Roman bezeichnen kann, viele Stationen ihres eigenen Lebens kurz aufblitzen – ihre durch den erlernten Gärtnerberuf entstandene Liebe zur Natur, die gleichermaßen leid- wie freudvolle Existenz als Schriftsteller und ihre in Babelsberg gewonnenen Erfahrungen als Filmemacherin. Im zweiten Teil des Buches schickt sie ihren Protagonisten als Stipendiat in die Villa Massimo nach Rom, wo sie selbst 1997 für einige Monate weilte.

Unter südlicher Sonne kommt es – ähnlich wie in Ines Geipels neuem Roman Tochter des Diktators – zu einem versöhnlichen Finale. Thomas begegnet in einem römischen Garten seiner einstigen Jugendliebe Melina. Statt Kirschen werden Orangen gepflückt.

Die Kirschendiebin steckt voller Melancholie und Altersmilde, das Buch strahlt eine ungeheure Wärme und Herzlichkeit aus – gerade so, als hätte sich Helga Schütz schreibend ihrer wechselvollen Biografie entledigt und in zarten Pastelltönen noch einmal ein schwermütiges Sehnsuchtsporträt gemalt.

Titelbild

Helga Schütz: Die Kirschendiebin. Eine Erzählung.
Aufbau Verlag, Berlin 2017.
170 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783351036751

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