Einswerden mit dem Berg

Nan Shepherd schreibt poetisch und päzise über die Cairngorms in Schottland, ein Wunder des Nature Writing

Von Georg PatzerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Georg Patzer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wie Bäche gefrieren: „Das Eis kann kristallklar sein, wahrscheinlicher aber ist, dass es durchscheinend ist, runzlig, geborsten oder blasig […]. Wo das Wasser sich über Steine windet, ist das Eis opak, von gebrochener, kreisförmiger Struktur.“ Es kann „zu gefältelten, grünen Eiskaskaden“ gefrieren oder zu „Seilen, mit sichtbarer Zwirnung“. Und „zerstäubtes, von einem Stein spritzendes Wasser schneidet in den langsam gefrierenden Schnee am Ufer ein und riffelt ihn mit Kristallen oder durchtränkt einen Heidekrautzweig, der zu einem Bäumchen aus purem Glas erstarrt“.

Wer so etwas schreiben will, muss ganz langsam sein, muss offen und aufmerksam für die vielfältigen Nuancen der Natur sein, muss in der Natur aufgehen können – und schreiben muss er auch noch können. Beides gelingt Nan Sherpherd grandios. In England ist sie eine der Säulenheiligen des Nature Writing, in Deutschland noch unbekannt. Das wird sich jetzt schnell ändern, denn in der wunderbaren Reihe „Naturkunden“ des Verlags Matthes & Seitz, die sich der Naturbeschreibung verschrieben hat, ist ihr kleines Buch Der lebende Berg erschienen.

Virtuos, poetisch und dabei doch ganz sachlich und präzise beschreibt sie, was sie auf ihren Ausflügen in die Cairngorms-Berge in Schottland erlebt und gesehen hat. Es ist eine fast mystische Hingabe, die Shepherd betreibt, und doch gerät sie nie ins Schwärmerische: Ihre Poesie ist eine der Genauigkeit, der Beachtung der Einzelheiten, der stetigen Veränderungen. Ihre Aufzählung von Fakten wirkt nie belehrend, sondern ruft immer größeres Staunen hervor. Vielleicht spielt dabei auch eine Rolle, dass sie nur von einem relativ kleinen Fleck erzählt, von einigen Bergspitzen, einem Hochplateau und Seen in den Bergen, den Lochs. Denn so lernt sie jeden Grashalm kennen, jede Birke, die bei Regen einen „gehaltvollen Geruch hat, fruchtig wie alter Brandy, und an einem feuchten, warmen Tag kann man davon nahezu betrunken werden.“ Jede Jahreszeit hat ihre eigenen Vorzüge, jede Wolke ist anders, manche sind sogar trocken, jeder Nebel hat einen anderen Ton. Wenn sie stundenlang unterwegs ist, sehen „die Augen, was sie vorher nicht sahen, oder sehen, was sie bereits sahen, auf eine neue Weise.“

Ganz wortwörtlich tritt sie in das Gebirge ein, taucht ihre Finger in den Schnee oder in Mäuselöcher, geht nackt in die Lochs oder Flüsse, lässt sich auf wackligen Brücken vom eiskalten Wasser umspülen, wühlt in der morastigen Erde. Schläft auf Berghängen, wo sie das Kneifen von Rotkehlchenkrallen auf ihrem nackten Arm oder das Schnuppern äsender Rehe wecken. Sie schreibt auf, wie der Frost ihre Kinnmuskeln steif werden lässt oder lässt sich die Regentropfen von einem Wacholderbusch über die Handfläche rieseln, aus reiner Freude. Wenn sie in die Berge geht, ist das auch so gemeint: Sie sucht nach Innenräumen, nicht nach großen, bombastischen Panoramen, Senken und „spektakulären Klüften“. Wenn Sie über die Augen der Tiere im Dämmerlicht schreibt, fragt sie sich, ob deren Grün das „Grün einer seltsamen Leerstelle“ ist, „das Aufscheinen eines reflektierten äußeren Lichts oder das eines enthüllten inneren“. Selbst wenn sie sich optischen Täuschungen – Fata Morganas – hingibt, die es in den Bergen ebenso wie in den Wüsten gibt, begrüßt sie diese, denn sie

veranschaulichen die Tatsache, dass unser gewöhnlicher Blick auf die Dinge nicht notwendigerweise richtig ist: er ist nur eine Möglichkeit von unendlich vielen, und einen unvertrauten Blick zu erhaschen, und sei es nur für einen Moment, stellt uns von Grund auf in Frage, aber gibt uns auch neue Sicherheit.

Shepherd will mit allen Sinnen die Natur erfahren und das Wunder dieses Buchs ist, dass sie eine Sprache hat, die uns diese Erfahrungen weitergibt. Im Krieg und kurz danach geschrieben, ist Der lebende Berg ein kleines Wunder an Naturbetrachtung und ein kristallklares, niemals verträumtes oder entrücktes Einswerden mit dem Berg.

Titelbild

Nan Shepherd: Der lebende Berg.
Mit einem Vorwort von Robert Macfarlande.
Übersetzt aus dem Englischen von Judith Zander.
Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2017.
160 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783957574190

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