Ciao hippes Berliner Spießbürgertum

Eva Sichelschmidt erzählt in „Die Ruhe Weg“ humorvoll über eine Frau Ende vierzig mit Lebenskrise

Von Anna HennesRSS-Newsfeed neuer Artikel von Anna Hennes

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Ruhe Weg lautet der Titel des Debütromans von Eva Sichelschmidt, doch von Ruhe kann in diesem Roman keine Rede sein. Die aufbrausende Protagonistin Marlies will neu beginnen und mit Ende vierzig noch einmal etwas wagen, so wie früher vor zwanzig Jahren. Sie hat ihr Leben im angesagten Berliner Viertel Prenzlauer Berg, das sich mehr spießig als hipp herausstellt, gewaltig satt.

Ihre zwanzigjährige Ehe mit Till und das Familienleben mit zwei Kindern engen Marlies ein. Sie ist unzufrieden und lässt ihr Umfeld dies durch zahlreiche Wutausbrüche spüren. Außerdem fühlt sie sich nicht mehr zu den jungen „Hipster-Eltern“ – von denen es im Prenzlauer Berg wimmelt – zugehörig. Das klingt alles heftig nach Lebenskrise, und noch dazu hat ihr Mann Till nicht das geringste Verständnis für ihre Unzufriedenheit. Till ist wegen Depressionen in therapeutischer Behandlung. Er kümmert sich zwar um die Kinder und ist Auswechsel-Gitarrist in einem Musical, doch die meiste Zeit verbringt er auf dem Sofa und schaut Sportsendungen.

Marlies hat wenig Verständnis für ihn und deutet sein Verhalten als Lethargie und Selbstmitleid – das zieht Marlies zusätzlich runter. Doch anstatt etwas Grundlegendes an ihrem Leben zu ändern, flüchtet sie sich in sportliche Aktivitäten: Yoga, Laufen, das volle Programm. Eine weitere Flucht aus ihrer Ehe und dem Familienleben ist Ralf, ihr Yogalehrer, mit dem sie über mehrere Monate eine Affäre hat. Er stellt für sie eine Art Droge dar, die sie sich ab und zu verabreicht. Abhängig von Ralf zu sein, kommt allerdings nicht in Frage. Für Ralf möchte Marlies die Begehrenswerte sein. Sie erträgt ihren Ehemann bald nur noch, wenn sie weiß, wann sie Ralf wieder sieht. Bis zum nächsten Treffen heitern sie schmeichelnde SMS ihres Liebhabers auf.

Bald stellt sie fest, dass ihr Ablenkungsprogramm durch Sport, Ralf und Alkohol nur temporär hilft und sie sich trotzdem wünscht, einfach abzuhauen oder unterzutauchen. Da ergibt sich unverhofft eine Chance. Sie lernt Gaby kennen, die ihr ein Vorstellungsgespräch bei „Artificial Artbay“ ermöglicht. „AA“ ist ein hippes Start-Up Unternehmen, bei dem fast ausschließlich sehr junge Menschen arbeiten. Ausgerechnet Marlies, die von Italien träumt, soll eine Außenstelle für „AA“ in Italien gründen. Rom erscheint Marlies plötzlich wie die Lösung all ihrer Probleme. Sie schlägt, ohne großartig nachzudenken, einen neuen Lebensweg ein.

Welch ein Zufall, dass jetzt auch noch ihre Affäre mit Ralf auffliegt, obwohl ihr Mann schon länger einen Verdacht gehegt hat. Ihre Ehe ist zerstört und auch die Kinder sind wütend; der perfekte Zeitpunkt also für einen Neuanfang in Rom. Doch ein Satz wie: „Marlies fiel beim besten Willen keine mögliche Schattenseite ihres neuen Lebens im Süden ein“, lässt den routinierten Leser stutzig werden und ihr unüberlegtes Handeln ein aufkommendes Chaos befürchten. Dennoch bringt diese Wendung der Handlung Spannung, Unterhaltung und Schwung in den Roman.

Der Aufbruch nach Rom mit Tochter Anni, die als einzige mitkommen wollte, ist wie zu erwarten unorganisiert und turbulent. Sie fährt die Strecke von Berlin nach Rom mit einer „klapprigen, hellgrünen Mühle“. Das Auto übergibt ihr Mirko, ein dubioser Kerl, der angeblich Ausländer nicht leiden kann und deshalb das Auto nicht selbst exportiert. Naiv wie Marlies manchmal ist, denkt sie sich nichts dabei und willigt in den Handel ein. Dass es mit dem Auto noch Probleme geben wird, ist dem Leser von Anfang an klar.

Diese tragische Komik zieht sich durch den gesamten Roman, so auch das Thema: das Altern. Marlies steckt so tief in ihrer Lebenskrise, dass sogar Toiletten auf Tankstellen nostalgische Gefühle bei ihr auslösen. „Leider waren die Stehklos inzwischen von den italienischen Tankstellen verschwunden, und die labbrigen und stinkigen Lirescheine gab es auch nicht mehr. Dass ihr solche Unappetitlichkeiten fehlten, war ein untrügliches Indiz fürs Altern und dafür, dass sie langsam sentimental wurde – coming-of-a-certain-Age.“

Mit ihrem Alter hat es Marlies nicht leicht. Gerade in ihrem neuen Job merkt sie, dass sie nicht mehr die Jüngste ist. Sie wollte sich mit diesem Job beweisen, mit der Jugend noch mithalten zu können; genauso spontan und flippig zu sein. Doch wirkt sie neben ihren jungen Kollegen lächerlich und fehl am Platz. Weder besitzt sie deren Kleidungsstil, noch beherrscht sie ihre Jugendsprache, in der innerhalb des Unternehmens kommuniziert wird.

Marlies‘ Leben im Süden verläuft also ganz und gar nicht locker leicht. Sie wohnt an der Peripherie Roms, in einer „Bruchbude“ und muss tagsüber in einem dunklen Büro sitzen anstatt in der Sonne zu liegen. Flucht scheint – egal ob durch Sport, Ralf oder Rom – keine gute Strategie zu sein. Vor dem Alter kann man nicht fliehen.

Marlies’ Ausriss nach Rom, samt Job in einem Start-Up Unternehmen wirkt konstruiert. Doch findet sich wieder, dass Frauen durch den gesellschaftlichen Druck ersehnen, mit Ende vierzig noch genauso jugendlich frisch und spontan zu sein wie mit Ende zwanzig.

Auch weitere Themen spielen eine Rolle: Alltagsrassismus, Verarmung der Mittelschicht, Vegetarismus, Flüchtlinge. So behandelt etwa Tills Mutter seine asiatische Untermieterin geringschätzig; Marlies beobachtet einen Pfandflaschen sammelnden Mann und denkt sich dabei, dass dieser in den 80er Jahren noch zur Mittelschicht gehörte; ihr Sohn ist Vegetarier und freundet sich mit einem Flüchtling an. Ohne diese zusätzlichen Themen wäre es ein reiner Unterhaltungsroman, der die Problematik des Alterns und das Berliner Szene-Viertel aufs Korn nimmt. Sichelschmidt will jedoch mehr als das. Mithilfe polarisierender Themen soll eine tiefergehende Gesellschaftskritik geleistet werden. Funktionieren tut dies nicht.

Um den Anspruch einer Satire zu erfüllen, müssten die gewählten Beispiele überspitzter und weniger naheliegend sein. Außerdem bleibt der Zusammenhang offen, was diese Themen mit dem Hauptmotiv, dem Altern, zu tun haben. Die Vielfalt an Themen stiftet Verwirrung und lässt Unruhe entstehen, da sie aus dem Kontext gerissen wirken. Der Roman hat Unterhaltungspotential, was die Problematisierung des Alterns betrifft, doch wirkt jedes weitere Thema in Richtung Gesellschaftskritik zu dick aufgetragen.

Einen ernsten oder anprangernden Ton enthält der Roman glücklicherweise nicht, was der umgangssprachlichen, provokanten, mit Witz angereicherten Sprache zu verdanken ist. Gezeigt wird ungeschönt das Innenleben einer 49-Jährigen. Mitleid empfindet man mit der Protagonistin deshalb nicht. Zu oft wirkt sie egoistisch und empathielos gegenüber ihrem Mann und ihren Kindern. Ihr „Körperwahn“ trägt das Übrige dazu bei, dass man Marlies als unsympathisch empfindet. Sie wertet andere Frauen ab, die nicht ihrem schlanken Schönheitsideal entsprechen und definiert sich gleichzeitig über ihren trainierten Körper. Ein Indiz für ihr mangelndes Selbstwertgefühl.

Ihr chaotisches, sprunghaftes Handeln, birgt eine tragische Komik, deren Unterhaltungswert nicht zu bestreiten ist. Es lässt sie zudem menschlich erscheinen, denn es führt zum Scheitern ihres Ego-Trips. Einen Eindruck, wie Till seine Ehefrau wahrnimmt, entsteht durch wechselnde Perspektiven der Erzählung. Erzählt wird hauptsächlich aus Marlies‘ Sicht, aber gelegentlich auch aus der Tills. Er charakterisiert seine Frau als vorwurfsvoll und abweisend; er wünscht sich die „alte Marlies“ zurück.

Insgesamt bietet der Roman eine spannende Lektüre, die den Anspruch hat, den gesellschaftlichen Druck des Alterns aufzuzeigen – mitsamt Affären, Körperwahn, leichtsinnigen Aktionen wie Spontan-Umzügen und Jobwechsel – letztlich aber vor allem unterhaltsam ist. Ihre Flucht nach Rom lässt Marlies erkennen, dass ihr Leben samt gesunder Kinder, liebevollem Ehemann und Maisonettewohnung im Prenzlauer Berg nicht so schlecht ist, wie sie denkt. Trotz seiner Konstruiertheit und der Thematik des Alterns, die vor allem ein weibliches Publikum fern der Zwanzig anspricht, ist der Roman kurzweilig zu lesen und lässt den Leser hier und da schmunzeln.

Anmerkung der Redaktion: Die Rezension gehört zu den studentischen Beiträgen, die im Rahmen eines Lehrprojekts im Sommersemester 2017 entstanden sind und gesammelt in der Oktoberausgabe 2017 erscheinen.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

Eva Sichelschmidt: Die Ruhe weg. Roman.
Knaus Verlag, München 2017.
320 Seiten, 19,99 EUR.
ISBN-13: 9783813507423

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