Transnationale Einschreibungen

Zu Wiebke Sievers „Grenzüberschreitungen. Ein literatursoziologischer Blick auf die lange Geschichte von Literatur und Migration“

Von Barbara MariacherRSS-Newsfeed neuer Artikel von Barbara Mariacher

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Verbindung von Literatur und Migration ist ein ebenso aktuelles wie altes Thema und als solches der Untersuchungsgegenstand von Wiebke Sievers 2016 im Böhlau Verlag herausgegebener Studie Grenzüberschreitungen. Ein literatursoziologischer Blick auf die lange Geschichte von Literatur und Migration. Sievers ist als Mitarbeiterin an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften in einer Arbeitsgruppe für urbane Transformationsprozesse tätig. In der vorliegenden Publikation konzentriert sie sich auf das Beispiel der österreichischen Migrationsliteratur des 20. und 21. Jahrhunderts, eine Literatur, die sich vor einem äußerst wechselvollen, vielschichtigen historischen und gesellschaftspolitischen Hintergrund entwickelt hat.  Es geht dabei um Texte von Schriftstellern, die nicht in ihrer Erstsprache schreiben, und die dadurch eine kulturelle „Position des Dazwischen“ einnehmen.  In dieser Position erfüllen diese Autoren und Autorinnen eine wichtige Aufgabe: Sie „kosmopolitisieren“ die Literatur, indem sie „ethnische und religiöse“,aber auch nationale „Fixierungen“ unterwandern.

Aus unterschiedlichen Blickwinkeln gehen in dem vorliegenden Band drei Wissenschaftler – nämlich Holger Englerth, Silke Schwaiger und die Herausgeberin Wiebke Sievers – der Frage nach, wie sich Schriftsteller mit Migrationshintergrund im Literaturbetrieb der Österreichisch-Ungarischen Monarchie und in ihren Nachfolgestaaten etabliert haben. Genauer gesagt, wie sie sich selbst verorten und wie sie umgekehrt von Verlagen, Presse und Kritik positioniert werden.

Die wissenschaftliche Herangehensweise ist literatursoziologisch fundiert und fußt auf der Theorie Pierre Bourdieus, der den Begriff des „literarischen Feldes“ geprägt hat. Darunter ist die „Gesamtheit aller Akteure“ zu verstehen, „die im Prozess der Anerkennung von Texten als Literatur relevant sind.“

Die in dem Band enthaltenen Studien zeigen ganz deutlich, dass der Blick auf die Zusammenhänge von Literatur und Migration nicht nur eine Frage der Perspektive ist und vor allem mit der Selbst- und Fremdpositionierung der Autoren zu tun hat, sondern auch eine Frage der Beschaffenheit des jeweiligen literarischen Feldes, in das diese Literatur gerät. So entwickelte sich beispielsweise „in der Habsburgermonarchie eine transnationale deutschsprachige Kulturnation, die nicht nur alle deutschsprachigen Menschen und Länder einbezog, sondern auch für jene offenstand, deren Muttersprache nicht Deutsch war, solange sie sich der Hegemonie der deutschen Sprache und der deutschsprachigen literarischen Tradition unterordneten.“

Nach der Lektüre des Buches lässt sich das Folgende erkennen: „Je transnationaler das literarische Feld ausgerichtet ist, desto leichter schreiben sich Autoren in einen kulturellen Kontext ein, auch wenn sie diesem hinsichtlich ihrer Muttersprache gar nicht angehören.“ Ein Beispiel hierfür ist der mehrsprachig aufgewachsene Schriftsteller und Nobelpreisträger Elias Canetti, der wie selbstverständlich in der einsprachigen Wiener Literaturtradition seinen Platz findet. Ähnlich erging es auch dem aus Serbien stammenden Schriftsteller Milo Dor oder Győrgy Sebestyén aus Ungarn.

Schwieriger als bei diesen Autoren verläuft die literarische Positionierung jener Schriftsteller, die sich im gegenwärtigen nationalen Kontext der österreichischen Literaturlandschaft zu etablieren versuchen. So sieht sich zum Beispiel Seher Çakir „aufgrund ihrer türkischen Herkunft in der österreichischen Öffentlichkeit immer wieder mit stereotypen Vorstellungen über Türken“ konfrontiert und auch andere Autoren wie etwa die in Wien lebende Ukrainerin Tanja Maljartschuk oder der 1988 aus Tschechien nach Wien geflüchtete Stanislav Struhar erleben und artikulieren Formen von Ausgrenzung aus dem gegenwärtigen Literaturbetrieb.

Gerade im Aufzeigen der Möglichkeiten und Grenzen des Literaturbetriebes liegt das Verdienst des Buches, das den literaturwissenschaftlich interessierten Leser darüber hinaus mit Schriftstellern bekannt macht, deren Werke mehr Aufmerksamkeit verdienen, als ihnen bislang zukommt. Die methodische Grenzüberschreitung ins literatursoziologische Feld erweist sich dabei als probates Mittel, Ursachen und Wirkung der vorhandenen aber auch fehlenden Rezeption von Migrantenliteratur sichtbar zu machen.

Titelbild

Wiebke Sievers (Hg.): Grenzüberschreitungen. Ein literatursoziologischer Blick auf die lange Geschichte von Literatur und Migration.
Böhlau Verlag, Köln 2016.
294 Seiten, 35,00 EUR.
ISBN-13: 9783205203537

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