Wenn Unglück in die Gewaltspirale führt

Tijan Sila erzählt in seinem Debüt „Tierchen unlimited“ vom bosnischen Bürgerkrieg

Von Stefan TuczekRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefan Tuczek

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der russische Semiotiker Juri M. Lotman ging in seiner Raumsemantik davon aus, dass erzählende Texte dann ereignishaft sind, wenn der handlungstragende Held Grenzen überschreitet. Das bedeutet – stark vereinfacht und pointiert –, dass der Held der Handlung Normen und Regeln verletzen oder topografische Grenzen überschreiten muss, damit ein Text ereignishaft und erzählenswert wird. Ereignisse beziehungsweise Grenzüberschreitungen machen den Text erst interessant. Aber was passiert, wenn ein Text nur aus Grenzüberschreitungen besteht? Müsste der Text dann nicht vor Spannung schier aufgeladen sein und den Leser dermaßen fesseln, dass er das Buch in einem Rutsch schlicht verschlingen müsste? Tijan Sila geht dieses gewagte Experiment in seinem Debütroman Tierchen unlimited ein und scheitert grandios, dabei ist die Grundvoraussetzung für einen interessanten Roman durchaus gegeben.

Der junge namenlose Ich-Erzähler wächst im vom Bürgerkrieg zerrissenen Bosnien auf, den Frieden kennt er nur aus entfernten Zeiten, er ist eine schemenhafte Erinnerung am Horizont. Längst hat sich der Ich-Erzähler mit der Situation abgefunden und versucht, ein normales Leben als Jugendlicher zu führen – zwischen Bombardement, Hunger und Gewalt. Mit seinen Freunden tauscht er Computerspiele und Comics, er schwärmt für die Mädchen aus seiner Nachbarschaft und die Nachbarskinder aus anderen Stadtvierteln werden mit Steinen und Schlägen vertrieben. Das dieses Leben im Krieg doch nicht ganz so normal ist, wie es sich der Erzähler denkt, kommt ihm erst in den Sinn, als seine Eltern mit ihm nach Deutschland flüchten – dabei verlassen sie das Land nicht wegen des Krieges, sondern aufgrund der mangelnden beruflichen Perspektive als Akademiker. In Deutschland, so müssen sie bitter feststellen, ist das Leben auch nicht einfacher, weil sie als Flüchtlinge von einer Notunterkunft in die nächste (ab)geschoben werden und dem Erzähler eine akademische Laufbahn aufgrund seiner mangelnden Deutschkenntnisse erstmal verwehrt bleibt. Der Erzähler ertrotzt sich entgegen aller Widerstände seine Studienerlaubnis, gerät dabei jedoch in kriminelle Machenschaften. Zusammen mit einer Kommilitonin bricht er nachts in Häuser ein oder er fährt Neonazis in einem gestohlenen Auto zu ihrer nächsten  Prügelei. Zu allem Überfluss gerät der Protagonist auch ins Visier des Verfassungsschutzes, der in Gestalt seiner alten Mitschülerin Melanie die Universität, in der er studiert, observiert.

Die Handlung von Silas Roman ist recht einfach strukturiert und besteht eher aus kleinen Anekdoten, die der Erzähler zum Besten gibt, als aus einer zusammenhängenden Geschichte. Hin und wieder erinnert er sich an eine Begebenheit aus seiner Jugend in Bosnien, dann erzählt er von seinen Raubzügen oder von seinen amourösen Abenteuern mit einem Mädchen, dessen Bruder ein Neonazi ist, der ihn wegen der „Rassenschändung“ verprügeln will. Der rote Faden ist nur sehr dünn, die kleinen Geschichten sind lediglich locker miteinander verwoben. Dies muss nicht zwangsläufig schlecht sein, da durch diese Erzählweise eine erzählerische Lockerheit, die dem Lesefluss sehr entgegenkommt, geschaffen wird. Das erinnert stark an Walter Kempowskis mosaikhaftes Erzählen in seiner Deutschen Chronik, in der durch Anekdoten und Geschichten eine relativ normale Jugend in den Kriegswirren des Zweiten Weltkrieges geschildert wird. Kempowski mag hier in der Erzählweise Pate gestanden haben, jedoch hat er gegenüber Silas den entscheidenden Vorteil, dass sich das Mosaik der Erzählung zu einem stimmigen und zusammenhängenden Ganzen fügt. Trotz der Lockerheit und des verschmitzten Witzes macht Kempowskis Figur Walter Entwicklungen durch und reflektiert über die Geschehnisse, was Silas Erzähler überhaupt nicht vermag. Egal, ob der Erzähler etwas aus seiner Jugend in Bosnien erzählt oder etwas über seine dunklen Machenschaften, er bleibt stets dieselbe Figur, die weder sich noch ihre Umgebung reflektorisch erkennt. Eine charakterliche Tiefenstruktur fehlt vollständig, der Erzähler bleibt zu jeder Zeit eine holzschnittartige Figur, mit der man nicht einmal mitfiebern möchte, da sie extrem unsympathisch ist, was einerseits an ihrer Altklugheit und anderseits an ihrer Ignoranz sich selbst und anderen Personen gegenüber liegt. Selbst die Erklärungsmuster, warum der Erzähler so ist, wie er ist, kommen nicht von ihm, sondern werden dem Erzähler von anderen Figuren geliefert. Der Bürgerkrieg habe ihn so traumatisiert, dass er zwangsläufig zu einem Feigling und Kleinkriminellen hätte werden müssen. Diese Erklärung mutet wie ein Klischee an und entpuppt sich auch als solches, spätestens dann, wenn das zweite Klischee, dass alle Deutschen Neonazis sind oder zumindest einen Neonazi in der Familie haben, auf Tapet gebracht wird. Worin diese Traumatisierung bestehen soll, dass bleibt Silas dem Leser schuldig, denn eine Initialereignis wird nicht geschildert – es sei denn, dass der Autor meint, dass jede Form von Krieg ein Trauma ist. Das wäre durchaus denkbar und würde Sinn machen, jedoch nur, wenn der Autor charakterliche und figürliche Kontraste geschaffen hätte, die diese Schlussfolgerung stützen würden. Aber der Erzähler bleibt zu jeder Zeit so wie er ist – egal ob in Bosnien oder in Deutschland, er verhält sich immer gleich.

Gewalt und Feigheit sind zentrale Konstanten im Leben des Erzählers. In Bosnien prügeln sich die Kinder halb tot oder sie penetrieren die Schwächeren, während der Erzähler daneben steht und zuschaut. Dies erinnert stark an Günter Grassʼ Novelle Katz und Maus – auch hier wird die Gewalt der Erwachsenenwelt in die Kinderwelt übertragen. Die Kinder sind bei Silas und Grass Projektionsflächen der kriegerischen Welt der Erwachsenen. Silas eifert auch hier wieder einem großen Vorbild nach, ohne dessen Klasse und Tiefe zu erreichen. Der Grund dafür ist simpel: Bei Silas wirkt jede Gewaltanwendung beliebig und repetitiv, da er Figuren nur zu dem Zweck einführt, dass sie geprügelt oder sexuell angegangen werden. Nachdem sie diesen erfüllt haben, verschwinden sie aus der Erzählung und aus dem Bewusstsein des Erzählers. Die hier inszenierten Normbrüche der Gewalt dienen damit keinem höheren erzählerischen Zweck, sondern werden nur um ihrer selbst willen erzählt und sind damit sinnentleert. Im Prinzip besteht Tierchen unlimited lediglich aus diesem Normbruch, der immer wiederholt wird. Dabei macht sich Silas nicht mal die Mühe, diese Gewaltausbrüche in irgendeiner Form zu variieren, sie verlaufen nach immer demselben Muster, nur mit dem Unterschied, dass die Gewalt in Deutschland von Neonazis ausgeübt wird. Auch hier rumort es: Die geschilderten Neonazis sind lebende Klischees von dummen und fetten Menschen, die immer und überall an ihrem Körperbau und Kleidungsverhalten zu erkennen sind. Aber so einfach, wie es sich Silas denkt, ist es leider nicht, denn wenn Nazis so einfach zu erkennen wären, könnte man dieser Gefahr leichter Herr werden – es ist so wie mit allen Terroristen, egal ob politisch oder religiös motivierte, man sieht ihnen ihre schlechten Absichten nicht immer an. Auch fällt auf, dass jeder Deutsche in Silas Roman entweder Neonazi oder Verwandter eines solchen ist, der das Verhalten des Nazis billigt oder sogar für gut hält. So werden die in Bosnien getöteten Neonazis vor allem im Bildungsbürgertum als Märtyrer verehrt. Und selbst im Verfassungsschutz lässt Sila es dunkel munkeln, dass er mit Neonazis durchsetzt sei. Natürlich soll dies eine Anklage gegenüber der elterlichen Generation sein, die ihre Kinder alleine lässt und sich eigentlich auch gar nicht dafür interessiert, dass sie sich radikalisiert. Auch der Erzähler findet anklagende Worte für seine Eltern, da diese einfach nach Deutschland gegangen sind, ohne mit ihm vorher darüber zu sprechen. Denn der Erzähler ist sich sicher, dass, wenn sie in Bosnien geblieben wären und den Krieg überstanden hätten, ein besseres Leben als in Deutschland gehabt hätten. Der Erzähler als auch die Neonazis gehören zu einer Genration, die von den Eltern im Stich gelassen worden sind. Jedoch verläuft dieser Gedanke, da er einmal geäußert worden ist, sofort wieder im Sande, da er nur als Selbstzweck, als nachgestelltes Erklärungsmuster eingeführt wird und letztlich folgenlos bleibt. Eine Konfrontation mit der elterlichen Generation oder eine tiefere Reflektion bleiben aus.

Alle Figuren und ihre Beziehungsgeflechte ähneln sich sehr stark und sind auch hier sehr repetitiv, es ist daher egal, ob er mit einer Melanie, Leonie oder Sarah spricht, sie alle sind Abbildungen ein- und derselben Figur. Da hilft es auch nicht, dass Sila recht witzig sein will und seinen Erzähler von einer grotesken Situation in die nächste stolpern lässt. Zwar ist Humor immer Ansichtssache, aber hier wird auf derben und niveaulosen Fäkalhumor zurückgegriffen: Da „furzt“ einmal ein Mädchen ihrem Neonazi-Freund ins Gesicht, weil sie böse auf ihn ist, und ein andermal „kackt“ der Erzähler einer unliebsamen Mitbewohnerin auf ihr Skizzenheft. Silas schwankt zwischen bildungsbürgerlicher und possenhafter Sprache. Es wirkt einerseits unpassend und anderseits unausgegoren, wenn der Erzähler zwischen formeller Sprache und derbem Slang hin und her wechselt – da konspiriert jemand, während er auf ein Heft „scheißt“, auf schwache Jungs wird „gekleckert“ (gemeint ist „onaniert“) und dann „scort“ jemand bei einem Mädchen und so weiter. Dieser wuchernde sprachliche Mischmasch ist stellenweise kaum zu ertragen und wirkt unbeholfen. Da hilft es auch nicht, wenn man Ernst Jünger oder Albertine Sarrazin herbeizitiert und als bildungsbürgerlichen Beweis anführt. Denn das wirkt erst recht wie ein verzweifelter Versuch so etwas wie Bildung zu beweisen. An keiner Stelle nimmt man dem Erzähler diese ab.

Tijan Silas Roman Tierchen unlimited ist ein leider misslungener Versuch, sich mit dem Bosnienkrieg und der rechten Szene in Deutschland auseinanderzusetzen. Man merkt schnell, dass Grenzüberschreitungen zwar wichtig sind, dass aber gute Literatur nicht nur aus ihnen bestehen kann. Denn über den inflationären Gebrauch von Norm- und Regelbrüchen kann man ganz schnell vergessen, was Literatur auch noch ausmacht: eine gute Handlung und interessante Figuren.

Titelbild

Tijan Sila: Tierchen Unlimited. Roman.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2017.
223 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783462050264

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