Der Essay als Form digitaler Abfallentsorgung

Roberto Simanowski legt ein „alternatives ABC der neuen Medien“ vor

Von Felix MaschewskiRSS-Newsfeed neuer Artikel von Felix Maschewski und Anna-Verena NosthoffRSS-Newsfeed neuer Artikel von Anna-Verena Nosthoff

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Roberto Simanowskis Abfall beginnt zunächst damit, allerhand Unrat aufzutürmen: Von Rainald Goetz’ unredigiertem Online-Tagebuch Abfall für alle über SpamAssassin, einem Programm zur Beseitigung von unerwünschtem E-Mail-Müll, bis hin zu informationswissenschaftlichen Phänomenen wie „garbage in, garbage out“. Selbst das Internet wird als „Abfallprodukt“ seines militärischen Vorgängers ARPANET beschrieben, und auch die sogenannten neuen Medien kennzeichne ein „Abfall“ von den utopischen Versprechen ihres Anfangs: Längst habe sich ihr basisdemokratisches Potenzial zu affektiven, kaum zu regulierenden Shitstorms, zu Hatespeech und aufmerksamkeitsökonomischem Populismus, zu Phänomenen wie hyper-attention oder FOMO – der „fear of missing out“ – verkehrt. Abfall, so macht der Autor eingangs deutlich, begleitet nicht nur die Entstehungsgeschichte der digitalen Welt; er liegt auch immer noch überall in ihr herum, definiert ihre Kanäle und Feedbackschleifen. In dieser Hinsicht bedarf es etwas Ordnung, womöglich also gerade des „alternativen ABC der neuen Medien“.

Obwohl sich Simanowskis Ordnungsversuch formell durchaus am ABC der Medien (2007) des Kommunikationswissenschaftlers Norbert Bolz orientiert – zum Beispiel an dessen Anliegen, akademische Begriffsapparate zu vermeiden –, verfolgt sein Neuentwurf eine veränderte Konzeption. Anders als Bolz geht es in Abfall nicht darum, komplexe Zusammenhänge so einfach wie möglich darzustellen. Vielmehr fokussiert Simanowski in den digitalen Alltagsphänomenen – von den Filterblasen bis zur Quantified-Self-Bewegung – deren untergründige Komplexität; er versteht seine Aufgabe darin, der vermeintlichen Normalität „die paradoxe Logik abzulauschen, ihre geheimen Bezüge und verdeckten Konsequenzen aufzudecken.“

An diese Ausrichtung knüpft auch Simanowskis wichtigster formaler Bezugspunkt an. In der Einleitung akzentuiert der in Hongkong lehrende Medienwissenschaftler neben Max Bense und Hans Blumenberg vor allem Theodor W. Adornos Essay als Form als „methodisch unmethodische“ Grundierung der eigenen Arbeit. Der Essay definiert sich – mit Adorno gesprochen – nicht nur als „kritische Form par excellence“, sondern als experimentelle Methode, einen Gegenstand von unterschiedlichen Perspektiven aus zu betrachten, zu betasten und zu befragen – mit dem Ziel, „an einem ausgewählten und getroffenen partiellen Zug die Totalität aufleuchten lassen, ohne daß diese als gegenwärtig behauptet würde.“ In Simanowskis Fall bedeutet dies eine multiperspektivische Durchdringung des smarten Gehäuses unseres digitalen Habitats, den Versuch also, die virtuellen Strukturen unserer technischen Umwelten sichtbar zu machen.

Dabei entzieht sich der Autor der prinzipiellen Reduktion eines ehernen Standpunkts und ist stets – nach diversen Beleuchtungswechseln – „zur Liquidation der Meinung, auch der, mit der er selbst anhebt“, bereit. Gleichzeitig ist in Abfall weder eine Angst vor der Negativität zu spüren, die häufig jene Medientheoretiker befällt, die nicht als reaktionär gelten wollen, noch ein quengelnder Kulturpessimismus, der sich plattitüdenhaft-versteift gegenüber neuen Medien sperrt. Simanowskis Instrumentenkoffer ist dagegen mit allerlei Ambivalenz bestückt. Sowohl der Wille zur provokativ-pragmatischen These und die feinsinnige Ironie als auch Züge einer – durchaus selten gewordenen – „moralischen Phantasie“ (Günther Anders), die das Vorstellen und Fühlen dem technisch Gemachten anzumessen beabsichtigt, sind Teil des Analysebestecks.

Das liebste Reflexionsobjekt des alternativen ABC ist das soziale Netzwerk Facebook. In 14 Miniaturen rekurriert Simanowski immer wieder auf das Unternehmen, das die Welt mit missionarischem Eifer nicht nur „offener, vernetzter und transparenter“ machen möchte, sondern sich mit jeder neuen Applikation tiefer in den Alltag seiner Nutzer einschreibt. Die Plattform – dies hat der Autor zur Genüge selbst, zuletzt vor allem in Facebookgesellschaft untersucht – codiert dabei sowohl das Soziale als auch individuelle Mnemotechniken, Kommunikations- und Subjektivierungsprozesse um, bestimmt mit seinen Tools – von diversen Apps bis zu Emoticons – den gesellschaftlichen Umgangston und vermisst so manchen Imaginations- und Gefühlshaushalt neu. Die veränderten Praxen dieser „Kultur der Digitalität“ (Stalder) macht Simanowski häufig an literarischen (von Johann Wolfgang Goethe bis Franz Kafka) oder theoretischen (von Siegfried Kracauer bis Hans Jonas) Referenzpunkten fest, womit er weniger die eigene Belesenheit als die Bedeutung des kulturwissenschaftlichen Reservats in punkto Gegenwartsanalyse unterstreicht.

An Marcel Prousts berühmtem Madeleine-Moment etwa führt der Autor eine zeitgenössische „Gedächtnisdämmerung“ vor. Gemeint ist hier ein Prozess, in dem die spontane Erinnerung – die bei Proust noch von Ahnungen erfüllt, nicht evidenzgesättigt war – von einer algorithmischen Logik abgelöst wird. Eine automatische „Erinnerungspflicht“ entstehe, wenn Facebook jahreslogisch Erinnerungsanlässe – wie einen Einkaufsbummel – qua Foto einspiele und damit eine Art Fremdgedächtnis etabliere, das das Erinnern zu einem Kunstprodukt digitaler Technologien erhebe.

Im Rahmen derartiger Beschreibungen bleibt Simanowski stets reflexiv und doppelbödig, wobei er die Beobachtungen gerne mit lebenspraktischen Fragen ergänzt: denn wer ärgere sich eigentlich wirklich darüber, dass Facebook an die Geburtstage der Freunde erinnere? Obgleich der Autor nicht an Kritik spart, wendet er zum Schluss der kurzen Kapitel häufig die Perspektive, fügt im Gestus der Ironie dem Gesagten eine neue Ebene, ein Sowohl-als-auch hinzu. So sieht der Medienwissenschaftler das heutige Individuum zwar auch „rastlos unterwegs von Augenblick zu Augenblick“, und durch eine „Parallelwelt“ des Virtuellen hetzen, dechiffriert das unablässige „Gruppenkuscheln des Sharings und Likens“ als „kommunikatives Rauchen“ und erkennt die sozialen Netzwerke als grundsätzlich von Narzissmus, numerischem Populismus und Selbstvermarktung durchzogen. Doch schließlich erklärt er Facebook zum subjektiven „Schutzschild gegen den Rest der Welt“, zum wirksamen Anästhetikum, das uns vom horror vacui transzendentaler Obdachlosigkeit ablenkt – uns zerstreut, und jede Gefahr wegklicken lässt: „Facebook hat das Soziale nicht nur messbar gemacht, wie beklagt wird, sondern auch überlebensfähig. Es beantwortet mit beispielloser psychologischer Effektivität die Frage nach dem Sinn, in dem es keine Zeit für diese Frage lässt.“

Neben solchen zwiespältigen, bitter-süßen Ausführungen ist besonders Simanowskis politische Perspektivierung sozialer Netzwerke erhellend. So sei das Problem der Echokammern bei Facebook nicht, dass das soziale Netzwerk Hassbotschaften überhaupt zuließe, sondern dass es eine Infrastruktur bereitstelle, die eine unterkomplexe Polarisierung in Echtzeit forciere. Dem methodischen Sowohl-als-auch bleibt der Autor auch hier treu: Das Entweder/Oder-Klicktribunal im Netz führt er nicht allein auf einen narzisstischen Impuls zurück, sondern mehr noch auf eine außenzentrierte Hilflosigkeit, auf die Hoffnung, der digitale Andere möge den Einzelnen durch numerische Anerkennung erretten.

Gerade die „letzte qualitative Entscheidung: dass Quantität ein verlässlicher Maßstab ist“ formiere politische Konsequenzen. Denn „im Zeichen der Zahl können auch Ahnungslose Entscheidungen treffen“, das vermeintlich Bessere – das Mehr – ist dann leicht am Mengenmaß abzulesen. Mit der Allgegenwart der Statistik wiederum ginge nicht nur der „Tod des Experten“ einher, sondern, wie Simanowski erkennt, auch die „Verweichlichung getarnt als Demokratie“. Denn ohne denjenigen, der auch zwischen den Zahlen zu lesen vermag, der zum Kurswechsel, zur Geduld oder zum Durchhalten ermahne, bestehe die Gefahr ohnmächtiger Bequemlichkeit.

Simanowskis essayistische Betrachtungen sind Übungen, digitale Entwicklungen konsequent zu Ende zu denken. Die dabei ausgestellte Differenziertheit ist nicht Zugabe, sondern eher Medium, und so gelingt es dem Autor, weder den Faszinationsreflexen des Digitalen auf den Leim zu gehen noch allzu sehr vor seinen Potentialen zu erschrecken. Der Ansatz des Medienwissenschaftlers lässt hier eine kritische Geistesgegenwart erkennen, die sich nicht der binären Logik dieser Zeit, dem 0 oder 1, dem Ja oder Nein verschreibt, sondern Aporien und Widersprüchen nachspürt, sie lesbar macht.

In Abfall wird dabei immer wieder deutlich, wie fließend die Grenzen zwischen gegenwärtigen Zeitungsthemen und dem, was man vor einigen Jahren noch für Science-Fiction hielt, geworden sind. So skizziert manche Szenarioanalyse nur vermeintlich fiktive Zukunftsentwürfe und lässt weniger thetische Fantasie denn erstaunlich viel Alltag erkennen: Schon im Jahr 2023 – so imaginiert es der Autor beispielhaft – könne die Deaktivierung des GPS am Smartphone unmöglich geworden sein. Dann müsse jeder, gemäß dem bis dahin gegründeten „Internetministerium“, zur Senkung des Unfallrisikos im Straßenverkehr ein Smartphone besitzen. Widerstand sei hier so zwecklos wie unsinnig, denn wer ist schon gegen Verkehrssicherheit? Datenschützer, die „Kapseln der Nichtkommunikation“ forderten, machten sich vor diesem Hintergrund verdächtig, müssten nicht nur als verkehrsgefährdend sondern gar als „terroristisch“ eingestuft werden – smarte neue Welt.

Dass derlei Szenarien nicht weit hergeholt sind, weiß, wer einmal Die Vernetzung der Welt des ehemaligen Google-CEOs Eric Schmidt (und des Politikberaters Jared Cohen) gelesen hat – je nach Perspektive ein Manifest des digitalen Möglichkeitssinns oder des kybernetischen Kontrollstaats. Der gravierende Unterschied zu Simanowskis Beschreibung ist freilich der, dass sie das Janusköpfige des digitalen Zeitalters, seine Lichtreflexe und Schattenwürfe, stets flagrant werden lässt, sodass sich der Leser weder im Optimismus noch im Pessimismus einzurichten vermag. Die Ironie, die jedem Kapitel neue Wendungen gibt, ist hier kein Mittel der Relativierung oder Distanzierung, sondern des Realismus – ein Realismus, der weniger das pharmakologische Moment der Technik – sie kann bekanntlich sowohl Gift als auch Medizin, Rettung oder Gefahr sein – betont, als uns vielmehr die Alternativlosigkeit zur ihr verdeutlicht. Denn wer kann sich, so wäre zu fragen, noch ein Jenseits der Technik vorstellen, wer würde ein solches wirklich wollen? – Ist das die Schlussfrage, das letzte Wort? Nicht ganz. Am Ende heißt es weder larmoyant noch ignorant: „PS: ;-)“.

Roberto Simanowski weiß zwar, dass die „Wende von Interpretation und Konzeption zu Zählen und Zeigen“ vollzogen ist. In Abfall beschreibt er dennoch Mittel und Wege, vor der „ernstzunehmende[n] Siegermeldung“ nicht die weiße Fahne zu hissen. Das verschmitzte, ironische Lächeln bezeugt dabei keinen Zynismus, sondern gemahnt hier vielleicht auch versteckt an einen Satz aus Gilles Deleuzes eigenem „PS“, dem Postskriptum über die Kontrollgesellschaften: „Weder zur Furcht noch zur Hoffnung besteht Grund, sondern nur dazu, neue Waffen zu suchen.“

Titelbild

Roberto Simanowski: Abfall. Das alternative ABC der neuen Medien.
Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2017.
187 Seiten, 15,00 EUR.
ISBN-13: 9783957573810

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