Über das Trio Carl Einstein, Paul Klee und Robert Walser

Eine Aufsatzsammlung mit ungewissem Ende

Von Alexandre MétrauxRSS-Newsfeed neuer Artikel von Alexandre Métraux

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

November 2013. In Bern trifft sich die Carl Einstein-Gesellschaft mit dem Robert Walser-Zentrum und dem Zentrum Paul Klee (in den Räumlichkeiten des letzteren) zu einer Tagung, die den Titel Historiografie der Moderne trägt. Da es um Gemeinsamkeiten zwischen dem Schriftsteller, Dichter und Kenner bildender Künste Einstein einerseits, dem Kunstmaler, Puppengestalter und nebenher auch schreibend und lehrend sich äußernden Klee andererseits, und schließlich um dem von seinem Bruder Karl mit Buchillustrationen beschenkten, zunächst im Feder-, dann im Bleistiftgebiet tätigen Robert Walser geht, stehen die Veranstalter unter dem sanften Zwang, ein Thema zu formulieren, das keine der drei Figuren ausschließt.

Also sucht man nach etwas Einigendem und gerät so auf die Historiografie der Moderne, genauer, wie es im Vorwort zu dieser Essaysammlung heißt: auf die Historiografie der ästhetischen Moderne. Diese ist, wiederum im Wortlaut des Vorworts, die Epoche, die mit der Rezeption der Schriften Friedrich Nietzsches anhebt und die in der „radikale[n] Kritik am Optimismus eines vor- und darstellenden europäischen Denkens und Schaffens“ besteht, „von dem bis dahin angenommen worden war, dass es ‚Wirklichkeitʻ in Zeichen und Symbolen abbilden“ könne.

Die Quintessenz der ästhetischen Moderne erweist sich bei genauer Betrachtung indes auf befremdliche Art als derart ausgreifend, dass es außer auf das Trio Einstein-Klee-Walser auch auf einen Stéphane Mallarmé, auf die lautmalenden Dadaisten, auf e. e. cummings, auf Kurt Schwitters oder Ivan Puni (und so weiter, und so fort) passt. Viel diskursive Ordnung ist mit der chronologischen Bestimmung der ästhetischen Moderne im Sinne einer Abkehr von der Darstellung der Wirklichkeit nicht hergestellt – von einer Abkehr von der Zeichenwirklichkeit als solcher darf dabei nicht die Rede sein, sonst würde das Projekt der ästhetischen Moderne ja in sich zusammenfallen. So ist die Wahl des Personaltrios Einstein-Klee-Walser als Tagungsgegenstand folglich nicht zwingend, man hätte ohne Not die eine moderne Autorin oder den anderen modernen Künstler hinzunehmen können, weshalb es angebracht sein mag, die Beiträge als Einzelstudien zu drei Bild- und/oder Sprachschaffenden ohne Rücksicht auf Klassifikationsbelange zu lesen.

Was den Aspekt der im Buchtitel genannten Historiografie betrifft, so heißt es im Vorwort: „Auf der einen Seite ging es um die historische Einordnung der Kultur der Moderne, auf der anderen um Probleme der Geschichtsschreibung selbst – in den Werken der behandelten Autoren.“ Eine solche Thematisierung kann auf Einsicht jener setzen, die sich über die Aufsatzsammlung beugen wollen, wenn Einsteins kunstgeschichtliche Schriften verhandelt werden. Von Geschichtsschreibung im akademisch konventionellen Sinn ist dagegen bei Robert Walser nichts zu finden. Erwähnt ein Dichter vergangene Ereignisse, spielt er auf historische Umbrüche an, mag dies als Beleg für mehr oder weniger ausgeprägtes historisches Bewusstsein gewichtet werden, es ist noch lange kein Anzeichen für ein historiografisches Projekt, das womöglich noch auf der Suche nach sich selbst unterwegs ist. Hier gelangte man übrigens mit der Umdeutung der Geschichtsschreibung in Geschichtenschreibung auch nicht weiter. Sie würde zwar den Zugang zu Walsers Texten sicherlich nicht, dagegen mit Bestimmtheit den Weg zur modernen Historiografie und erst recht zur Historiografie der Moderne versperren.

Was die Historiografie nach Auffassung Carl Einsteins betrifft, wird sie von Jutta Müller-Tamm konzise nachgezeichnet. Jede Zeit stelle jeweils ihre Fragen an die Vergangenheit, nehme Vergangenes mit den Nöten und Anliegen der Gegenwart in den Blick, entwickele so ihre historiografischen Deutungen – in den Worten Einsteins: „Die Geschichte ist eben die Projektion der Gegenwart, und sie bedeutet die Wertung gemäß der Struktur des Heute.“ Was für das geschichtliche Bewusstsein und damit für die Historiografie generell gilt, das trifft nicht zuletzt auf die bildenden Künste und auf die geschichtsbewusste Einstellung der Bildermacher zu. So heißt es in der Fortsetzung des Zitats konsequenterweise: „Denn immer versucht man das Heute im Vergangenen zu versichern und die rasch absinkende Gegenwart historisch zu rechtfertigen und zu verankern. Dies besagt, daß mit dem Kubismus die antiklassische Geschichtsreihe wieder lebendig wird, und die geschichtliche Wertung anders verlagert wurde.“

Einsteins Auffassung der Kunstgeschichte (die diesem Autor gewidmeten Beiträge machen es deutlich genug) stimmt tatsächlich mit der anderer Vertreter der damaligen Avantgarde insofern überein, als sie die Idee der Abbildlichkeit verwirft. In die Wirklichkeit hineinwirken – materiell durch die Komposition von Gestalten und durch Farbgebung und, was die Rezeption angeht, durch das Verstören träge gewordener Wahrnehmungsroutinen –, das ist bei Einstein der Motor seiner kunstkritischen und -geschichtlichen Arbeit(en). Kein Wunder, dass auch das revolutionäre Potenzial zuerst des Kubismus, dann des Surrealismus herausgekehrt wird. Die Wirklichkeit wird revolutioniert, folglich als veränderte auch affirmiert. „Die Künstler werden den Beschauer verwandeln, und somit durchdringen“, heißt es bei Einstein. Ähnliches kommt beispielsweise bei Klee zum Ausdruck: „Kunst gibt nicht das Sichtbare wieder, sondern macht sichtbar.“

Mit Gewinn zu lesen und somit eigens zur Lektüre empfohlen sind die Beiträge von Osamu Okuda und Rainer Lawicki. In ersterem wird gezeigt, wie sich Klees Sicht auf sein Schaffen im gedanklich-brieflichen Austausch mit Einstein und nach der Lektüre von dessen 1931 in dritter Auflage erschienenen Kunst des 20. Jahrhunderts gewandelt hat. Da ist eine gegenseitige Affinität entstanden, denn Klees Bilder haben augenscheinlich auch Einsteins Zugang zur Kunst in der nachkubistischen Zeit mitgeprägt. Und im zweitgenannten Aufsatz wird diese Affinität sozusagen Schicht für Schicht freigelegt: thematisch stehen dabei das Sehen und die Weltanschauung bei Einstein und Klee im Aufmerksamkeitsfokus.

Erwähnt sei außerdem die historische Beilage, die mitten im Band einige Autografen und Dokumente (vornehmlich Faksimiles und Transkriptionen) anbietet. Dass gerade Robert Walser dort nur mit der Abbildung der Erstausgabe von Fritz Kocher’s Aufsätze aus dem Jahr 1904 vertreten ist, und dies nicht einmal mit der Abbildung des Handexemplars aus der Bibliothek Klees (dieser soll das Buch besessen und gekannt haben), belegt seine Marginalität. Er wird ja nicht nur in der Literaturwissenschaft als ein marginaler Dichter wahrgenommen, sondern auch er selbst verstand sich vielmehr von Anfang an als einer, der an den Rändern schreibt oder auf die Randbezirke der Dichtung hinschreibt. Und das in mehrfacher Hinsicht.

An den Rändern von Tageszeitungen, im Feuilleton, erwarb er meistens jene soziale Sichtbarkeit und Anerkennung, die Bares für ein schier unscheinbares Dasein abwarfen. Diesen Aspekt von Walsers schriftstellerischer Produktion beleuchtet der Essay von Moritz Baßler.

Sieht man vom Gehülfen ab, bediente sich Walser bekanntlich häufig der kleinen Prosaform. Und das in doppeltem Sinne. Nicht nur reduzierte er seine Texte auf ein feuilletongerechtes Format, in den Texten selbst reduzierte er Gegenstände, von denen die Rede ist, sei es durch Diminutivwendungen, sei es durch die Reihung verkleinernder Adjektive. So beschrieb er im Gehülfen einmal das Alpenmassiv, in Bern bei klaren Luftverhältnissen ebenso wie in Zürich und auf dem Jura oberhalb Biels als ausgedehnte Kulisse zu bestaunen, nicht aus der unmittelbaren Anschauung des Romanhelden, sondern ließ diesen – den Gehülfen – das mächtige Objekt durch einen Seitenblick auf einen Brief in Erscheinung treten. So werden die Alpen nicht abgebildet, eine Briefbeschreibung der Alpen wird vielmehr abgebildet, man sieht auf dem bedruckten Papier, wie die Sprachzeichen sich alpenmäßig spiegeln. In diesem Sinne kann Walser sicherlich als Vertreter der ästhetischen Moderne gelesen werden, doch anders als Einstein und Klee kehrt er dem affirmativen Erschaffen einer Wirklichkeit durch Zeichen und Symbole den Rücken.

Wie sonst ließe sich die metonymische Selbstverabschiedung in dem frühen Gedicht „Zu philosophisch“ deuten (und erklären), in dem es heißt: „Stets seh’ ich mich mir winken/ Dem Winkenden entschweben.“

Erinnert sei auch an die unvermittelt eintretenden Stillstellungen, mit denen Walser etliche seiner Texte, manche Narration, hier und dort den Verlauf von Schilderungen enden lässt. Mal weist der Erzähler auf die nächtlich weit vorgerückte Stunde hin, um einen ganzen, bereits auf Kleinstform reduzierten „Lebensroman jäh, d. h. gebieterisch mit der Bemerkung“ abzuschließen, „daß den friedliebenden, kulturtreibenden Leutchen das herzige, liebe Kindlein nur so wegstarb“. Mal verabschiedet sich rasch das Personal in einem frühen Gedicht („Und ging“) jeweils in den geradzahligen Versen, nachdem in den ungeradzahligen Versen nur eine Geste benannt wird:

Er schwenkte leise seinen Hut
Und ging, heißt es vom Wandersmann
Er riss die Blätter von dem Baum
Und ging, heißt es vom Rauen Herbst.
Sie teilte lächelnd Gnaden aus
Und ging, heißt von der Majestät.
Er klopfte nächtlich an die Thür
Und ging, heißt es vom Herzeleid.
Er zeigte weinend auf sein Herz
Und ging, heißt es vom armen Mann.

Und so ging Walser schließlich in einem sich wiederholenden Akt des Selbstentzugs aus der Materialität der unmittelbar lesbaren Schrift in die der Minimalzeichen im Bleistiftgebiet. Max Rychner, dem Herausgeber der „Neuen Schweizer Rundschau“, schrieb er am 20. Juni 1927 einen umständlich formulierten Brief:

Für mich hat die Bleistifterei eine Bedeutung. Für den Schreiber dieser Zeilen gab es nämlich einen Zeitpunkt, wo er die Feder schrecklich, fürchterlich hasste, wo er ihrer müde war […], wo er ganz dumm wurde, so wie er sich ihrer nur ein bisschen zu bedienen begann, und um sich von diesem Schreibfederüberdruss zu befreien, fing er an, zu bleistifteln, zu zeichnelen, zu gfätterlen. Für mich ließ es sich mit Hilfe des Bleistifts wieder besser spielen, dichten; es schein mir, die Schriftstellerlust lebe dadurch von neuem auf. [Eine Anmerkung: „gfätterlen“ oder „gvätterlen“ bedeutet in Berner Mundart so viel wie „spielen“, „die Zeit vertändeln“.]

Luisa Banki untersucht in ihrem Beitrag diese ins Ikonische gleitende Schreibstrategie und vergleicht sie mit Verfahren Paul Klees.

Der in dem Band unternommene Versuch, Walser in die Nähe Einsteins und Klees zu rücken, erweist sich nach der Lektüre der Essays als eine unter dem Klassifizierungsbedürfnis bloß herbeigeschriebene Wahlverwandtschaft. Das mindert den Ertrag des für einzelne Aufsätze unzweifelhaft empfehlenswerten Tagungsbandes nicht.

Titelbild

Michael Baumgartner / Andreas Michel / Reto Sorg (Hg.): Historiografie der Moderne. Carl Einstein, Paul Klee, Robert Walser und die wechselseitige Erhellung der Künste.
Wilhelm Fink Verlag, Paderborn 2016.
341 Seiten, 39,90 EUR.
ISBN-13: 9783770559220

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