Wer hat Angst vorm bösen Gott?

Michael Stavaričs „Gotland“ führt in die Abgründe der Religion – und nicht wieder zurück

Von Julia HeimlichRSS-Newsfeed neuer Artikel von Julia Heimlich

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Gotland – die schwedische Insel, von vielen wegen der märchenhaften Sagen zu einer zauberhaften, verwunschenen Welt idealisiert, wird zum Schauplatz für Michael Stavaričs neuen, gleichnamigen Roman. Verwunschen ist hier vieles, zauberhaft allerdings weniger – eher abgründig und unheimlich.

Der Österreicher Stavarič, 2012 mit dem Chamisso-Preis ausgezeichnet, erzählt die Geschichte eines jungen Mannes, der geprägt ist durch seine Kindheit, in der er vor allem eines erlebt hat: fanatischen Gottesglauben. Ein Vater fehlt in seinem Leben, er wächst im Wien der 1980er Jahre auf – allein mit der erzkatholischen Mutter, die die Bibel wörtlich nimmt und ihr ganzes Leben darauf ausrichtet, ihrem Gott zu gefallen. Auch in der Schule, in der er alles lernt, „was man fürs Leben braucht, Lesen, Rechnen, Schreiben und biblische Geschichten“, ist der übermächtige Gott allgegenwärtig. 

Dieser junge Mann, gleichzeitig der Erzähler, der beinahe die gesamte Zeit über namenlos bleibt, ist sich nicht sicher, ob er an einen solchen Gott glauben kann, einen Gott, der ihm nie hilft und ihn nie erhört. Nach dem Tod der Mutter beschließt er, sich auf die Suche zu machen nach diesem Gott, an den sie so unablässig glaubte. Es zieht ihn nach Gotland, ewiger Sehnsuchtsort der Mutter, die dort angeblich den Vater kennenlernte. Auf der schwedischen Insel schließt er sich Charles an, einem charismatischen Mann, dem es gelingt, viele Menschen um sich zu versammeln. Charles hat eine Meinung zu Gott: Es gibt ihn. Und er will ihn töten.

Michael Stavaričs Roman liest sich zunächst wie die Erzählung eines Mannes, der rückblickend über die eigene Kindheit und Jugend sinniert. Sie wirkt wie ein authentischer, an einigen Stellen durchaus humorvoller Bericht über die ganz persönliche Entwicklungsgeschichte des Erzählers. Einige Passagen wecken ganz besonders die Aufmerksamkeit, vor allem, wenn es um den Umgang mit der eigenen Sexualität des Erzählers geht. So kauft er mit 12 Jahren seine ersten Pornohefte, mit denen er sich im Bett seiner Mutter vergnügt. Überhaupt weckt die vom Erzähler idealisierte „Gottmutter“ seltsame, geradezu inzestuöse Begierden in ihm. Diese Stellen lassen aufhorchen, man merkt: Irgendetwas stimmt hier nicht. Je weiter die Lektüre fortschreitet, desto stärker beschleicht einen diese Ahnung, dass die Dinge allmählich nicht mehr zusammenpassen und etwas nicht normal ist. Und tatsächlich kommt es einem fast so vor, als hätte man es im zweiten Teil mit einer ganz anderen Geschichte zu tun: Der Schauplatz wird von Wien nach Gotland verlegt, der Erzähler arbeitet im Steinbruch von Charles. Dieser hat einen besonderen Nimbus, er versammelt eine Schar Jünger um sich, die für ihn arbeiten und ihm bedingungslos glauben. Es wird absurder, einige Passagen scheinen zusammenhanglos, der Erzähler berichtet über abstruse Träume. Seine Persönlichkeit scheint sich mehr und mehr zu verändern, seine Gedanken und Handlungen sind kaum noch nachvollziehbar. Die zu Beginn erlebte Authentizität schwindet allmählich: So etwas kann der Erzähler unmöglich erlebt haben. Als klar wird, dass Charles Gott töten will, tun sich endgültig Abgründe auf, und nicht nur der Erzähler muss sich fragen, ob er wahnsinnig wird.

Michael Stavarič zeichnet in Gotland ein düsteres Bild vom dogmatischen Glauben an einen Gott und von den Folgen, die ein solcher Fanatismus hat. Auf außergewöhnliche Weise gelingt es Stavarič, Spannung aufzubauen. So stiftet bereits das Vorwort Verwirrung: Der Erzähler behauptet, er habe ursprünglich einen Roman über zwei Bergsteiger auf Gotland schreiben wollen, dieser wuchs schnell auf hundertausende von Seiten an. Lektorin und Verlegerin waren begeistert, kamen nach der Lektüre aber auf mysteriöse Weise ums Leben, woraufhin der Erzähler das Manuskript verbrannt und einen neuen Gotland-Roman verfasst hat. Muss man jetzt froh sein, dass einem hunderttausende Seiten Bergsteiger-Abenteuer erspart wurden? Gleichzeitig macht genau die Rätselhaftigkeit des Abschnitts Lust auf mehr, der Leser will wissen, was ihn nun auf 352 Seiten Gotland-Abenteuer erwartet.

Im Prolog kreiert Stavarič dann eine dunkle Atmosphäre und zeichnet einen unbarmherzigen, verdorbenen Gott, der mehr Angst einflößt, als dass er Hoffnung schenkt. Dieses Gottesbild lässt den Leser während der gesamten Lektüre nicht mehr los, und das ist beabsichtigt, denn genau so einen Gott scheint es auf Gotland zu geben und genau diesen Gott gilt es zu bekämpfen. Mit dem scheinbaren Bruch zwischen der Rückschau auf die Kindheit in Wien und den Erlebnissen auf Gotland wird es zunehmend unruhiger. Die Veränderung der Persönlichkeit des Erzählers wird immer deutlicher, und als der Leser kurz vor der Frage steht, was das alles eigentlich soll, passiert es: Ein anderer Erzähler kommt hinzu und klärt es auf. Die Dinge, die so absurd und abgründig erscheinen, werden mit logischen Erklärungen gedeutet. Das Kunststück: Ein kleiner Interpretationsspielraum bleibt offen. Dann schließt der Roman – mit einem Epilog, in dem der ursprüngliche Erzähler einen ebenso ratlos zurücklässt wie im Vorwort. Nur dieses Mal gibt es keine Erklärungen.

Dieses Spiel von Täuschung und Verwirrung gelingt mithilfe einer Sprache, die alles Beschriebene in eine düstere, unheilvolle Atmosphäre taucht. Dabei vergisst Stavarič nicht, den Leser in nahezu jeder Zeile über das eigene Leben reflektieren zu lassen: „Überall liegen abgestorbene Bäume, tote Gedanken, die nicht mehr Wurzeln schlagen, die besser nie gedacht worden wären, niemals hätten wachsen sollen.“

Wer geglaubt hat, er halte mit Gotland ein Buch in den Händen, in dem sich der Protagonist mit Fragen nach dem eigenen Glauben und der Existenz Gottes auseinandersetzt und dafür eine Art Selbstfindungsreise nach Gotland antritt, liegt zwar nicht falsch. Der Roman ist aber deutlich vielschichtiger als zunächst vermutet, und lässt den Leser stets neugierig weiterlesen.  Die Auseinandersetzung mit dem Glauben findet statt, allerdings kreiert Stavarič ein tiefgehendes, abgründiges Szenario. Am Ende bleibt vielleicht die Erkenntnis: „Es gab […] einen Gott und wiederum gab es keinen, und falls er doch irgendwo real war und wirklich und leibhaftig existierte, dann nannte man ihn den ‚Tod‘.“  

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Michael Stavaric: Gotland. Roman.
Luchterhand Literaturverlag, München 2017.
350 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783630875439

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