Wissen wird Macht

Margarete Stokowskis ‚Mädchenbuch‘ „Untenrum frei“ wirbt für den Anarchafeminismus

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Es ist ein unendliches Unterfangen, und wir werden nicht damit fertig, Klischees zu entkräften, indem wir erklären, dass sie speziell für uns nicht zutreffen“, klagt die Feministin Margarete Stokowski in ihrem Buch Untenrum frei. So neu ist das Problem nicht. Schon vor einem halben Jahrhundert schlugen sich blumenbehangene Hippies und die politischeren Yippies nicht nur in San Franciscos Freek-Viertel Haigth-Ashbury damit herum. „We are all outlaws in the eyes of america,“ sang Grace Slick in dem das Album Volunteers eröffnenden Protestsong We can be together der den beiden Subkulturen verbundenen Rockgruppe Jefferson Airplane und zählte die Vorwürfe des Establishments auf. Sie seien „obscene lawless hideous dangerous dirty violent and young“ und würden “steal cheat lie forge fred [= fuck] hide and deal”. Doch statt all dies entrüstet von sich zu weisen, provoziert der Song sogleich mit der Zeile: „Everything they say we are we are. And we are very proud of ourselves”. Stokowski empfiehlt, dem nicht ganz unähnlich, gegen reaktionäre Klischees „eine Poesie des ‚Fuck You‘ zu entwickeln und in sich zu tragen wie ein Mantra“.

Das aber, wie sie weiter meint, „der ganze alte Scheiß längst am Einstürzen“ sei, zeugt von einem Optimismus, den vielleicht nur junge Leute an den Tag legen können. Vor allem aber ist noch lange nicht ausgemacht, ob gegebenenfalls etwas Gutes oder auch nur Besseres nachkommt. Was jedoch auch immer kommen wird, es wird nicht von alleine kommen, sondern gemacht werden und darum beeinflussbar sein. Grace Slick fordert darum im letzten und titelstiftenden Song des Albums Volunteers zur Revolution auf. Und auch die Autorin will – wie ihr Buch belegt – die aktive Veränderung.

Stokowski möchte es weder als Manifest noch als Autobiografie missverstanden wissen. Vielmehr will sie „eine Geschichte erzählen“ und so von der „Individualität“ induktiv „in die ‚großen Dimensionen sozialer Erscheinungen‘“ vordringen. Denn sie ist überzeugt, „dass die kleinen Dinge […] zusammen das große Ganze ergeben“. So entspricht das Ich, das in dem Band so häufig spricht, nicht unbedingt immer der Autorin. Natürlich erfüllt es dennoch eine identifikatorische Funktion – genauso wie das von ihr ebenfalls oft benutzte Personalpronomen Wir. Wie sie selbst, an anderer Stelle des Buches anlässlich ihrer Kritik an Frauenmagazinen und Boulevardmedien, kritisch darlegt, handelt es sich um ein „rhetorisches Mittel“, um Gemeinschaft herzustellen. Ihr Wir allerdings ist zunächst nicht eindeutig. Wer ist mitgemeint und wer nicht? Oder ist es gar als Pluralis Majestatis zu verstehen, wenn sie etwa erklärt, „wir wollen nicht nur über Macht reden“? Eindeutig aber wird es spätestens dann, wenn sie darlegt, was „wir Mädchen“ lernen sollten. Der von der Literaturwissenschaft sogenannte implizite Leser ist also in diesem Fall eine Leserin – und zwar eine jüngeren Alters. Eben darum nimmt wohl auch die Kritik an Blättern wie der Bravo oder an einschlägigen YouTube-Formaten breiteren Raum ein. Auch der plaudernde Ton und der oft etwas (nach)lässige Stil, die manche Unschärfen mit sich bringen, dürften darin ihren Grund haben. Nervtötende Wendungen wie „das kommt jetzt komisch“ anstelle von das klingt jetzt komisch hätten aber selbst dann nicht sein müssen. Und auch die Formulierung „Der Sex war okayer Sex nach einer Party“ ist nicht wirklich ok.

Allerdings hält Stokowski diese ‚jugendliche‘ Sprech- beziehungsweise Schreibweise nicht vollständig durch, etwa wenn sie sich in die Gefilde der Thesen und Theorien begibt. Sogar geradezu als Fremdkörper nimmt sich der verblasen wirkende Jargon einer längeren Passage von Georg Friedrich Hegel aus, mit der sie die Lesenden gleich auf den ersten Seiten ganz unnötiger Weise traktiert. Unnötig ist das Zitat, weil die Autorin das Gemeinte sogleich in weit verständlicheren eigenen Worten wiederholt. Sie hat es ausweislich ihrer Quellenangabe im Endnotenapparat aus der ebenso berühmten wie vermutlich diesseits von Philosophieseminaren fortgeschrittener Semester wenig gelesenen Phänomenologie des Geistes entnommen. Welche ihrer Zitate und Tatsachenbehauptungen sie in den Endnoten belegt und welche nicht, erscheint rein willkürlich. Jedenfalls lässt sich kein Schema erkennen. So verweist sie etwa auf „grundlegende Fragen der Philosophie“ Immanuel Kants „Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen? Was ist der Mensch?“, ohne eine Quelle zu nennen. Allerdings hat Kant die bekannte Fragen-Quadriga als solche – und auch da nicht ganz wörtlich – nur in einem Brief an Carl Friedrich Stäudlin aus dem Jahr 1793 zusammengestellt. Nun zieht Stokowski keineswegs nur Namen tatsächlicher oder vermeintlicher Geistesriesen aus der Philosophie- und Ideengeschichte zur Bekräftigung ihrer Auffassungen heran. Ihre Bezugnahmen sind vielmehr denkbar breit gestreut und reichen von der wunderbaren Mascha Kaléko über Marlene Streeruwitz’ literarisches no go Hermann Hesse bis zu sozialrevolutionären Klassikern und dem 2009 verstorbenen bundesrepublikanischen Anarcho-Urgestein Horst Stowasser. Insgesamt erweist sie sich bei ihren autoritativen Bezugnahmen nicht als sonderlich wählerisch. Ob sie Hegel oder Wikipedia heranzieht, ist ihr so ziemlich egal.

Anders als Luise F. Pusch, die Begründerin der feministischen Linguistik, zieht Stokowski nicht das Große Binnen-I, sondern das Gender-Sternchen vor. Beide aber sind der Auffassung dass es „am besten“ wäre, all die Geschlechter-Etikettierungen „eines Tages“ weglassen zu können – also eine Sprache zu entwickeln, die ganz ohne geschlechtliche Markierung auskommt. „Auf Dauer“, ergänzt Stokowski, „kann von mir aus auch der Gegensatz straight / queer weg, dann geht es einfach nur noch darum, dass Menschen Menschen lieben und begehren.“

Nach dieser Vorrede über diverse ‚Formalia‘ ist es an der Zeit, in medias res zu gehen und Stokowskis „zentrale These“ zu benennen: „Wir können untenrum nicht frei sein, wenn wir obenrum nicht frei sind. Und andersrum“. Sie ist ihr so wichtig, dass sie nicht nur im Titel ihres Buches anklingt und bereits auf den ersten Seiten formuliert wird, sondern Stokowski sie auch später noch einmal wiederholt und dann näher ausführt:

Das ‚Untenrum‘ ist der Sex und das ‚Obenrum‘ unser Verständnis von uns selbst und den anderen – und beides gehört zusammen: Untenrum frei zu sein bedeutet Freiheit im Sexuellen Sinne. Es bedeutet zu wissen, was uns gefällt und was wir wünschen, und es bedeutet, uns das Begehren zu erlauben, das in uns ist – immer so weit, dass die Freiheit der anderen dabei respektiert bleibt. Obenrum frei zu sein bedeutet Freiheit im politischen Sinne: frei von einengenden Rollenbildern, Normen und Mythen. Letztlich sind beide Freiheiten nur Nuancen ein und derselben Freiheit, in der wir uns als Subjekte anerkennen und uns erlauben, immer wieder zum Objekt zu werden, wenn wir wollen – und wieder zurück.

Während diverse akademische Feministinnen den Freiheitsbegriff seit einiger Zeit argwöhnisch beäugen, ist er bei Stokowski aus guten Gründen ungebrochen positiv besetzt. Mehr noch, er ist zentral. „Es geht um Freiheit“, bringt sie das Anliegen ihres Feminismusverständnisses kurz und bündig auf den Punkt. Und es geht darum, „wie die Freiheit im Kleinen mit der Freiheit im Großen zusammenhängt“. Das ist natürlich eine altbekannte Frage der Frauenbewegung, die bereits in der von Virginia Woolf vorgedachten Parole „Das Private ist politisch“ an- und ausgesprochen wurde.

Allerdings möchte Stokowskis Buch „niemanden befreien“, wofür die Autorin zwei Gründe anführt. Der erste besagt, dass „einige Leute gar nicht befreit werden [wollen]“. Sollte man sie darum in ihrer, wie Kant sagt, bequemen Unmündigkeit belassen? Oder soll man sie nicht vielleicht doch zum Wagnis der Freiheit ermutigen? Das wird Stokowski sicher nicht viel anders sehen. Ihr zweites Argument lautet, dass „alle, die frei sein möchten, sich letztlich selbst befreien müssen“. Das klingt zwar griffig und scheint so abstrakt auch gar nicht so verkehrt. Konkret aber sieht es oft ein wenig komplizierter aus. Da geht es selten um die große allumfassende und abstrakte Freiheit, sondern um bestimmte kleine, größere und (über-)lebenswichtige Freiheiten, die die Unfreien nicht immer selbst und jedenfalls nicht alleine erreichen können. Zu denken ist etwa an die Befreiung aus dem Konzentrationslager Auschwitz. Vor allem aber sind sich befreien und befreit werden keine einander ausschließenden Alternativen. Das Ende der Sklaverei in den USA etwa wurde unter maßgeblicher Beteiligung von nichtversklavten Menschen erreicht. Auch das Frauenwahlrecht wurde in diversen Ländern erst durch Männer in den Parlamenten verabschiedet, natürlich aufgrund massiver Demonstrationen und Protesten von Frauen – und einiger wahlberechtigter Männer – außerhalb der Parlamente.

Wie gesehen, stimmt Stokowski also in Sachen Freiheit nicht mit allen Feministinnen überein. Diese anderen untereinander aber natürlich auch nicht. Wie sollten sie auch? Es liegt im Wesen sowohl von wissenschaftlichen Disziplinen wie von sozialen Bewegungen, dass um alle wichtigen Fragen gerungen werden muss. Nun ist es aber nicht alleine so, dass FeministInnen verschiedene – teilweise auch unvereinbare – Standpunkte, Theorien, Methoden, Strategien und Ziele vertreten und verfolgen, sondern es ist Stokowski zufolge zudem „nicht alles, was im Namen des Feminismus geschieht, gut“. Das zumindest dürfte weithin konsensfähig sein.

Die innerfeministischen Kontroversen beginnen erst bei der Frage, was gut und was nicht gut ist. Als Beispiel für das, was nicht so gut ist, führt Stokowski nicht etwa an, dass es Frauen gibt, die den Ehrentitel Feministin für sich in Anspruch nehmen und sich in dessen Namen für das vermeintliche Recht von Frauen, prostituiert zu werden, stark machen, sondern, dass es Frauen gibt, „die sich Feministinnen nennen und im selben Atemzug muslimischen Frauen die Fähigkeit absprechen, für sich selbst zu entscheiden.“ Zunächst einmal legt die Formulierung nahe, dass sie sich zwar als Feministinnen verstehen, aber Stokowskis Auffassung zufolge keine sind. Nach einer Feministin, die Muslimas so allgemein, wie von Stokowski formuliert, die „Fähigkeit, für sich selbst zu entscheiden“, schlechthin und ganz grundsätzlich absprechen, wird man allerdings lange suchen müssen. Dem Rezensenten zumindest ist keine sich als feministisch verstehende Position bekannt, die diese Auffassung vertritt. Frauen jegliche Entscheidungsfähigkeit abzusprechen, dürfte allenfalls fundamentalistischen RadikalislamistInnen vom Schlage des Daesh, der Taliban oder Boko Harams in den Sinn kommen. Ob es unter ihnen welche gibt, die sich als FeministInnen bezeichnen, sei dahingestellt. Meist geht es bei der Frage nach der Selbstbestimmung ganz konkret um Bekleidungen, die als muslimische Kleidungsvorschrift für Frauen gelten. Das sind je nach dem Islamverständnis der Gläubigen verschiedene. Gut möglich, dass Stokowski genau hieran dachte und ‚nur‘ ein bisschen unscharf formuliert hat. Ob sich ihre Kritik aber gegen Feministinnen richtet, die etwa die Burka im öffentlichen Raum oder das Kopftuch für Frauen in ihrer Funktion als Repräsentantin staatlicher Einrichtungen verboten wissen möchten, oder aber gegen islamische Feministinnen (so es sie denn gibt), denen eine oder mehrere dieser Kleidervorschriften als unhinterfragbar von ihrer Religion vorgeschrieben gelten, sodass die Entscheidung, ob sie diese Kleidungsstücke tragen, nicht den betroffenen Frauen obliegt, ist aus Stokowskis Formulierung nicht ersichtlich. Überhaupt werden in dem Buch beide unter FeministInnen so kontrovers diskutierten Fragen, (vermeintlich) islamische Kleidungsvorschriften und vor allem Prostitution, nur sehr beiläufig erwähnt.

Eingehender als über diese Fragen äußert sich Stokowski zu sexueller Gewalt (wie Anne Wizorek bevorzugt sie allerdings den Ausdruck „sexualisierte Gewalt“), zu Magersucht, zu autoaggressivem Verhalten, weiblicher Körperpflege und -rasur, zur „Gleichsetzung von Frauen und Sex“ in der Werbung, zu Frauenzeitschriften mit ihren „bisweilen krassesten frauenfeindlichen Botschaften“, zur „Natur als Begründung für Ungleichheit“ sowie zum katholischen Sakrament der Firmung. All dies aus der Sicht einer jungen Feministin aufbereitet für heranwachsende Geschlechtsgenossinnen. Für Menschen, die schon länger im feministischen Geschäft sind, wird hierzu hingegen wenig Neues geboten.

Ganz wesentlich geht es aber immer wieder um Sex, guten wie schlechten. Dabei unternimmt die Autorin auch einen längeren Ausflug in die deutsche Sexualgeschichte seit 1933 inklusive einer Kritik an der ‚sexuellen Revolution‘ der 68er-Bewegung. Die Zeit vor 1933 bleibt hingegen tempora incognita. Daher fällt auch kein Wort zur sexuellen Revolte um 1900, deren AkteurInnen etwa in Schwabing und auf dem Asconeser Berg der Wahrheit so mancherlei erprobten, was die revoltierenden KommunardInnen in Berlin und anderswo 70 Jahre später erneut umtrieb. Unerwähnt bleiben so auch Feministinnen wie Helene Stöcker, die 1905 den Bund für Mutterschutz und Sexualreform ins Leben rief. Auch deuteten nicht erst die 68er die Geschlechter- zur Frauenfrage um. Die war vielmehr als solche schon vor bald anderthalb Jahrhunderten in aller Munde. So erschien etwa bereits 1871 ein Buch Zur Frauenfrage  von Philipp von Nathusius. Auch gestandene Feministinnen gebrauchten den Ausdruck bereits im vorletzten Jahrhundert. Marie Stritt schrieb beispielsweise 1898 über Das Bürgerliche Gesetzbuch und die Frauenfrage und Lilly Braun 1901 über Die geschichtliche Entwicklung und wirtschaftliche Seite der Frauenfrage.

Obwohl Stokowski auf den Schultern diverser Feministinnen verschiedener Generationen steht wie etwa denjenigen von Hedwig Dohm, scheint ihr auch unbekannt zu sein, dass sich FeministInnen nicht erst „heute“, sondern wiederum seit mindestens anderthalb Jahrhunderten „nicht nur für Geschlechtergerechtigkeit, sondern auch gegen andere Diskriminierungsformen“ einsetzten, wie man etwa bei der US-amerikanischen Frauenrechtlerin der ersten Stunde Elizabeth Cady Stanton nachlesen kann.

War von Stokowskis zentraler These und diversen ihrer Kritiken bereits die Rede, so ist nun noch ein Blick auf ihre positiven Ziele zu richten. Das sind zunächst einmal viele kleine, die von ihr teils benannt werden, sich teils aus ihren kritischen Ausführungen ergeben. Aber es gibt auch ein großes, umfassendes und abschließendes Ziel. Es handelt sich um nicht weniger als „die Abschaffung von Herrschaft“. Ein Anliegen, das die beiden großen sozialrevolutionären Ideologien des 19. Jahrhunderts – Anarchismus und Marxismus – teilen, wobei deren Klassiker Michail A. Bakunin und Karl Marx allerdings völlig unterschiedliche Wege zu diesem Ziel beschreiten wollten. Galt dem einen der abzuschaffende Staat als Ursache allen Übels, war es für den anderen die qua Diktatur und Sozialismus zu überwindende kapitalistische Ökonomie. Setzte jener auf die revolutionäre Tat, galt diesem der geschichtliche Weg zur herrschaftsfreien Gesellschaft völlig unabhängig vom realen Willen und Wollen der im Proletariat ausgemachten revolutionären Klasse als mit eherner Notwendigkeit vorgezeichnet. Welcher Seite die Autorin zuneigt, ist keine Frage, setzt sie doch Anarchie und „Abschaffung von Herrschaft“ gleich, wohingegen vom Kommunismus nicht weiter die Rede ist. Kurz, Stokowski ist nicht nur Feministin, sondern auch Anarchistin. Beide unterscheiden sich der Autorin zufolge etwa darin, dass anarchistische TheoretikerInnen eine relativ klare Vorstellung von der Gesellschaftsform haben, auf die sie hinarbeiten, während FeministInnen zwar wüssten, „wogegen man kämpft, aber nicht wofür“.

Abgesehen davon, dass es innerhalb des Anarchismus zweifellos ebenso viele Strömungen gibt wie im Feminismus (sie reichen vom Individualanarchismus John Henry Mackays bis zum Anarchosyndikalismus Rudolf Rockers), ist es vielleicht nicht, wie Stokowski offenbar meint, eine Stärke, sondern ganz im Gegenteil eine Schwäche umstürzlerischer Bewegungen, eine allzu genaue Vorstellung von der angestrebten Gesellschaft zu haben. Tatsächlich sind feministische Utopien, wie sie in literarischen Werken entworfen werden, denn auch stets prekär. Man denke etwa an die Stadt Mattapoisett in Marge Piercys Roman Woman at the Edge of Time (1976, deutsch Frau am Abgrund der Zeit 1986) oder an Sally Miller Gearharts Frauengesellschaft in The Wanderground (1979, deutsch Das Wanderland. Geschichten von den Hügelfrauen 1982). Eine Ausnahme mag da Charlotte Perkins Gilmans klassische Utopie Herland (1915, deutsch Herland 1980) sein.

Entgegen ihrer Behauptung, AnarchistInnen hätten recht eindeutige Vorstellungen über das zu erreichende Gesellschaftsziel, konkretisiert Stokowski selbst die gesellschaftlichen Verhältnisse in der von ihr angestrebten Anarchie dann auch nicht weiter. Denn „wir ahnen vorher nicht, was möglich ist. Wir wissen nicht, wie wir sein werden“. Das ist nicht nur wahr, sondern es ist auch gut so. Denn wo bliebe andernfalls die Freiheit, zu werden, wie wir wollen? Für AnarchistInnen enttäuschend aber dürfte sein, dass ebenfalls herzlich wenig darüber in Erfahrung zu bringen ist, wie der Weg zur Anarchie Stokowskis Vorstellung gemäß beschritten werden sollte. Und wenigstens über die ersten Meter würden sicher auch alle anderen gerne etwas erfahren.

Gegen Ende des Buches richtet Stokowski an ihre MitstreiterInnen noch eine sehr bedenkenswerte Warnung vor einem undifferenzierten Gebrauch des Sexismusvorwurfs. Zu Recht weist sie darauf hin, dass es viele verschiedene Sexismen ganz unterschiedlichen Gewichts gibt, und fordert dazu auf, diese jeweils konkret zu benennen. Andernfalls könne die stete Wiederholung eines allgemeinen Sexismusvorwurfs Abstumpfung, wenn nicht gar Abwehr hervorrufen.

Wäre das vorliegende Buch ein literarisches Werk, so würde es ein wenig unglücklich zwischen den Genres Entwicklungs- und Thesenroman changieren. Da es aber ein engagiertes Sachbuch ist, bietet es ungeachtet der angeführten Kritikpunkte eine ebenso erhellende wie hilfreiche Lektüre für die Zielgruppe der Mädchen und heranwachsenden Frauen auf dem Weg ins Leben. Denn „Wissen wäre Macht“, lautet eine seiner originellen Kapitelüberschriften und nach der Lektüre des Buches werden sie zweifellos einiges mehr wissen. Und an dem hier kritisierten Jargon werden sie vermutlich gar keinen Anstoß nehmen. Womöglich werden sie sogar ihre Freude an ihm haben. Ihnen ist es mithin uneingeschränkt zu empfehlen.

Titelbild

Margarete Stokowski: Untenrum frei.
Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2016.
256 Seiten, 19,95 EUR.
ISBN-13: 9783498064396

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