„Stützpunkte fiktiver Taumel“

Was bleibt (in) der französischen Gegenwartsliteratur vom Pariser Mai 1968?

Von Jan RheinRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jan Rhein

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Zwischen „utopischer Energie“ und Nouvelle vague réactionnaire

Wenn sich 2018 der Pariser Mai 1968 zum 50. Mal jährt, wird das Ereignis wieder in den Vordergrund rücken. Doch richtig von der Bildfläche verschwunden ist es vor allem in Frankreich nie: Eigentlich immer, wenn größere Menschenmengen durch die Straßen ziehen, wird das Datum als Referenzgröße herangezogen und werden Zeitzeugen zu Zusammenhängen mit „damals“ befragt. So beschwerte sich Daniel Cohn-Bendit 2013 in einem Interview, regelmäßig als „Richterskala für Jugendbewegungen“ dienen zu sollen – auch in den letzten Jahren war er etwa in Zusammenhang mit der Nuit debout-Bewegung wieder gefragt. Und selbst die Manif pour tous, deren (rechts-)konservative Anhängerschaft 2013 gegen die gleichgeschlechtliche Ehe auf die Straße ging, erinnerte etwa den Soziologen Gaël Brustier an einen Mai 68 conservateur. Diese so gegensätzlichen Vergleiche zeigen, dass der Mai 1968 als historischer Bezugspunkt weiterhin so wirkmächtig wie komplex ist.

Dass aus dem Monat ein Mythos wurde, lässt sich mit seiner „utopischen Energie“ (Ingrid Gilcher-Holtey) erklären. Die Ereignisse spielten sich in einmaliger zeitlicher und räumlicher Konzentration ab, in wenigen Wochen, in Paris, und hier besonders in den Intellektuellenvierteln Quartier Latin, Saint-Germain-des-Prés und Montparnasse, wobei unterschiedlichste Milieus und Organisationen aufeinandertrafen. Die daraus hervorgegangenen Bilder – brennende Straßen, der frech grinsende Cohn-Bendit vor einem behelmten Polizisten – stehen sinnbildlich für die gesamte 1968er-Bewegung. Angesichts dieser Mythologisierung verwundert es, dass einer der Schlüsselmomente des 20. Jahrhunderts trotzdem vergleichsweise geringen Eingang in die Literatur gefunden hat – zumindest, wenn man diese der wissenschaftlichen Auseinandersetzung gegenüberstellt: Der Historiker Patrick Fillioud hat allein in Frankreich mehr als 200 Untersuchungen zum Mai 1968 gezählt.

Die Folgen des Monats waren in den vergangenen Jahren jedoch sehr präsent, denn literarische und soziologische Deutungsmodelle zum Zustand des Landes hatten und haben Konjunktur. Zu denken ist natürlich an den Erfolg von Rückkehr nach Reims von Didier Eribon (2009 [ÜS: 2016]), der die Öffnung der Linken zum Neoliberalismus dafür verantwortlich sieht, dass sich die Classe populaire in strukturschwachen Gebieten nur noch vom Front National vertreten fühlen könne. Im gleichen Problemfeld – jedoch am anderen Ende des politischen Spektrums – situiert der Schriftsteller Marc Weitzmann 2015 im Magazine Littéraire die Vertreter einer Nouvelle vague réactionnaire, der er so unterschiedliche – und unterschiedlich konservative, rechte oder reaktionäre – Autoren wie Renaud Camus, Alain Finkielkraut, Michel Houellebecq, Aurélien Bellanger und Maurice Dantec zurechnet:

Sie haben nicht alle das gleiche Talent oder dieselben Ansichten, (…) Literatur bleibt die Sache von Individuen. Doch sie alle nehmen, mindestens, die Rolle von Begleitern einer Revolte ein, die seinerzeit von links kam und die heute fast völlig auf die Seite dessen übergewandert ist, was man wohl eine antimoderne Reaktion nennen muss (…) Sie alle beschreiben den Bezugsrahmen, in dem das Land sich heute selbst sucht. (Übersetzung d. Verf.)

Über die genaue Einordnung dieser Autoren wäre zu diskutieren – klar ist: 1968 wirft auch bei ihnen lange Schatten. Der prominenteste Vertreter dieser Reihe, Michel Houellebecq, integriert Anspielungen auf das Jahr eher implizit oder en passant in seine Texte, und doch ist es etwa in Elementarteilchen (1998 [ÜS: 1999]) die Keimzelle eines sich über mehrere Generationen erstreckenden familiären, aber auch strukturellen Unglücks: Die Hippiemutter der Halbbrüder Michel und Bruno verwirklicht sich in Kalifornien selbst, und der junge Bruno hat schon während der Internatszeit unter nächtlichem Mobbing zu leiden, weil das Aufsichtspersonal im Schlafsaal reduziert wurde, „aufgrund von Weisungen aus dem Ministerium, die 1968 im Anschluß an die Mai-Unruhen herausgegeben worden waren […] die Maßnahme entsprach dem Geist der Zeit und hatte außerdem den Vorteil, die Lohnkosten zu sparen.“ Von „utopischer Energie“ klingt da wenig durch – drei französische Neuerscheinungen zeigen aber, wo diese noch zu finden ist: im Erzählen selbst.

Mathieu Riboulet: Und dazwischen nichts

„Man weiß, dass die Welt uns ein furchterregendes Gegenüber ist, dass wir kaum mehr als drei, vier Wege zur Verfügung haben, um ihr zu begegnen. Und wie man es auch angeht, man weiß ebenfalls, dass es ein physischer Kampf sein wird, in den sich der Körper hineinwirft […]“ So beginnt der Beitrag Mathieu Riboulets in der neuen, sehr empfehlenswerten Ausgabe Nr. 267 der Literaturzeitschrift die horen, die sich zum Buchmessenschwerpunkt der frankophonen Gegenwartsliteratur widmet. „Kampf“ und „Körper“ sind zwei Schlüsselbegriffe im Werk Riboulets, das nun auch in Deutschland zu entdecken ist – nicht nur in den horen, sondern auch durch die beiden Neuveröffentlichungen Die Werke der Barmherzigkeit sowie Und dazwischen nichts.

Letzteres Buch, 2015 in Frankreich unter dem Titel Entre les deux il n’y a rien erschienen, vermittelt eine eindrückliche Vorstellung des „bleiernen Jahrzehnts“ der 1970er Jahre als eines Jahrzehnts politischer Gewalt, in dem sich die Hoffnungen von 1968 zerschlugen. 1968 ist Riboulet, wie es heißt, „auf den fahrenden Zug aufgesprungen“, er war acht Jahre alt. Was bleibt von diesem Datum? 1972 weiß er um die fröhlichen Ereignisse des Monats Mai, aber er weiß noch nichts von den Toten in dessen Umfeld – dem 1967 erschossenen Benno Ohnesorg in Berlin, dem im Juni 1968 auf der Flucht vor der Polizei ertrunkenen Gilles Tautin, der Bombenexplosion 1969 auf der Piazza Fontana in Mailand. Die deutsche Übersetzung findet den richtigen Ton für eine aufgeladene Sprache, die teilweise einem stream of consciousness ähnelt, und die man entweder als Suada oder auch als Litanei empfinden kann.

Erzählt wird von einer sexuellen und politischen Bewusstwerdung, denn „Sex gibt’s nicht getrennt von der Welt“ – und an „welchem Faden man auch zieht, immer hängt das ganze europäische Knäuel dran“. So spannt sich der Bogen dieser ohne Gattungszuschreibung auskommenden Geschichte der verletzten, zerstörten Körper zwischen Deutschland, Frankreich und Italien, zwischen Benno Ohnesorg, Pierre Overney, Pierre Paolo Pasolini, Aldo Moro und der – wie Moro am 9. Mai 1978 gestorbenen – Ulrike Meinhof. Auf letztere bezieht sich auch der Titel des Buchs: Die von Meinhof formulierte Alternativlosigkeit („dass man einen Polizeistaatschef nicht empfangen kann, ohne selbst mit dem Polizeistaat zu sympathisieren“) wird zum Strukturmerkmal dieses Textes, den man selbst als bipolar bezeichnen könne: zwischen radikaler Subjektivität und europäischer Geschichte, zwischen Depression und Aggression.

Die Entdeckung und das Ausleben der eigenen Homosexualität ist der andere Pol von Riboulets Text, und trotz Diskriminierung auch im eigenen linksintellektuellen Milieu, das nicht so tolerant ist wie erwartet, hat Sex hier auch etwas Rettendes, weil Grenz- und Klassenüberschreitendes. Doch sein utopisches Potential als Universalinstrument gegen gesellschaftliche Codes und Normen ist spätestens mit dem Aufkommen von AIDS verbraucht. In der Nacht des Mauerfalls stirbt Riboulets Freund Martin an der tödlichen Krankheit.

In diesem Erinnerungsstrom, einer Geschichte voller Zusammenhänge, die teils so unwahrscheinlich sind, dass sie auch den Erzähler verwundern, bilden feste Zeitmarker die einzige Stütze: „[…] manchmal beunruhigt es mich, dass ich nicht die erstaunliche Klarheit von Historikern besitze, für die Jahrhunderte und immense Zeitspannen dunkler Prozesse, die es zu erhellen gilt, Berufsalltag sind und ein fast immer zweischneidiges Forschungsfeld, selbst wenn sie die Relevanz der Grenzsteine hinterfragen, die wir, um die Zeit zu ordnen, festgelegt haben und die für uns Schriftsteller Stützpunkte fiktiver Taumel sind.“

Saïdou Bokoum: Chaîne ou le retour du phénix

Auch Chaîne ou le retour du phénix (2017) lässt sich am besten als „Taumel“ beschreiben. Bücher wie dieses werden in Frankreich gerne als OVNI littéraires bezeichnet, als „literarische UFOs“. Der Roman ist eine so außer- wie ungewöhnliche Neuerscheinung, der eine deutsche Übersetzung zu wünschen wäre. Dem noch jungen Pariser Verlag Le nouvel Attila ist die Wiederentdeckung dieses erstmals 1974 erschienenen, nun durch seinen Autoren Saïdou Bokoum vollständig überarbeiteten Werks zu verdanken. Es war fast völlig vergessen, obgleich es seinerzeit sogar für den Prix Goncourt nominiert war, den wichtigsten französischen Literaturpreis.

Die Sinnsuche des Jurastudenten Kanaan zu Beginn der 1970er Jahre, der sich in seinem Wohnheim in Paris Nanterre von einem sexuellen Abenteuer ins nächste stürzt, sich mit Gelegenheitsjobs durchschlägt und dabei in eine immer tiefere Depression gerät, sein Irren durch die nächtliche Stadt und ins Milieu der westafrikanischen Einwanderer, die unter teils menschenunwürdigen Bedingungen in großen, heruntergekommenen Mietshäusern in den Bidonvilles von Paris leben, ist voller Rage erzählt. Als in einem dieser Häuser ein Feuer ausbricht und Kanaan einem Bewohner das Leben rettet, markiert dies einen Wendepunkt für ihn: Er engagiert sich in der Folge für die Rechte der Einwanderer und gründet eine engagierte Theatertruppe.

Chaîne, so informiert das Nachwort, ist in weiten Teilen die eigene Geschichte Saïdou Bokoums, der die Schulzeit noch im totalitären Guinea erlebte und 1965 zum Studieren nach Paris kam, wo er bis heute vor allem als Theaterregisseur und -autor arbeitet. Wie viele andere afrikanische Einwanderer wurde er angesichts eines zunehmenden Alltagsrassismus und schlechter Lebensbedingungen rasch enttäuscht von einem anfangs als Befreiung empfundenen Leben. Spätestens als es, wie im Buch, 1970 zu einer Brandkatastrophe in einem überfüllten Wohnhaus kam, solidarisierten sich in deren Folge politisierte afrikanische Studenten und zugewanderte Arbeiter.

Mit der Figur des Kanaan verschränkt Chaîne den Klassenkampf der Studenten und Arbeiter mit einem dekolonialen Diskurs: Der Kampf geht weiter, und richtet sich gegen ein System allgemeiner Unterdrückung. Wie bei Riboulet hängt auch hier alles mit allem zusammen: Chaîne, die titelgebende „Kette“ steht gleichzeitig für Unterdrückung wie für Zusammenhalt, die Kette der Ahnen und „Brüder“. Das Buch ist zugleich ein Zeugnis und eine Brandschrift des Aufstands, wie auch ein großer Großstadtroman, so polyphon wie die Stadt Paris.

Thierry Froger: Sauve qui peut (la révolution)

Die Texte Riboulets und Bokoums lassen sich als Beispiele für Autofiktionen lesen, doch die französische Literaturkritik hat schon die nächste Erzählmode ausgemacht: die Exofiction, die Fiktionalisierung realer Personen. Diesem Genre lässt sich der Debütroman Sauve qui peut (la révolution) von Thierry Froger (2016, noch unübersetzt) zurechnen. Hier erhält der Filmregisseur Jean-Luc Godard 1988 den Auftrag des Kulturministeriums, einen Film zum Anlass des 200. Jahrestags der französischen Revolution zu drehen. Er nimmt Kontakt mit einem Freund aus alten Zeiten auf, einem Historiker, der seinerseits gerade ein Buch zum Thema verfasst: Was, wenn Danton der Guillotine entkommen wäre?

Sauve qui peut (la révolution) setzt sich aus sich überkreuzenden Erzählsträngen zusammen: Danton im Exil zurückgezogen auf einer Loire-Insel, Godard und die Planungen seines Films und schließlich seine Liebelei mit Rose, der jugendlichen Tochter des Autorenfreunds. Alle drei Geschichten bergen viel komisches Potential – etwa wenn Godard mit dem Ministerium über seine künstlerische Freiheit verhandelt –, und alle drei handeln vom Altern der Revolutionäre, denen langsam die Puste ausgeht. Am Ende liest Godard in einem Wörterbuch eine aus der Physik stammende Definition des Wortes „révolution“: „Mouvement d’un objet autour d‘un point central, d’un axe, le ramenant périodiquement au même point“ – am Ende kehrt alles immer wieder zu seinem Ausgangspunkt zurück.

Ein Trost bleibt jedoch, und der liegt in der Form des Romans, der sich nichts verbietet: Froger mischt Erzählebenen, Zitate, Erfundenes und Historisches, integriert fiktive (und vom fiktiven Godard mit handschriftlichen Bemerkungen versehene) Drehbuchauszüge und weitere Texte und Dokumente – hier wird Geschichte neugeschrieben. Bei allem Humor darf man darin auch eine Hommage an Godard selbst sehen, auf dessen ebenfalls episodischen Film Sauve qui peut (la vie) sich der Romantitel bezieht. Als Künstlerfigur verkörpert Godard die Aporien von 1968, das ein Schicksalsjahr für den Regisseur von Filmklassikern wie Außer Atem und Die Verachtung war. In einer Art „Und-dazwischen-nichts“-Haltung sagte er sich vom traditionellen Kino und zunehmend auch von seinen Regie-Kollegen der Nouvelle vague los. Stattdessen wählte er den Weg des Kollektivfilms, des formalen Experiments. Auch wenn er sich in den 1980er Jahren wieder dem Kino zuwandte, konnte er nie mehr an die alten Erfolge anknüpfen.

In diesem Zusammenhang ist Frogers Roman Teil eines interessanten Phänomens: Mit Godards zunehmendem, realen Verschwinden aus der Öffentlichkeit wird der Regisseur selbst immer mehr zum Mythos. So lassen ihn in den letzten Jahren gleich mehrere Werke literarisch neu aufleben – Et elles croyaient en Jean-Luc Godard von Chantal Pelletier, die Romane Une année studieuse und Un an après von Anne Wiazemsky und – am Rande – Une fille et un flingue von Ollivier Pourriol.

In Visages, Villages (2017), dem neuesten Film Agnès Vardas, vereinbart die Regisseurin, eine ehemalige Weggefährtin Godards, ein Treffen mit ihm und will ihn in seinem Haus am Genfer See besuchen. Doch an seiner Tür, die verschlossen bleibt, findet sie nur eine enigmatische Botschaft vor. Im Post-1968-Narrativ ist er einer der letzten Aufrechten. Und ziemlich allein.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

Thierry Froger: Sauve qui peut (la révolution).
Actes Sud, Arles 2016.
448 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9782330066505

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Saïdou Bokoum: Chaîne. Ou le retour du phénix.
Le nouvel Attila, Paris 2017.
376 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9782371000469

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Titelbild

Mathieu Riboulet: Und dazwischen nichts.
Aus dem Französischen übersetzt von Karin Uttendörfer.
Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2017.
218 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783957572653

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