Der Weg der Süßbohne

Durian Sukegawa komponiert ein Lehrstück zum Thema Diskriminierung in Japan

Von Lisette GebhardtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lisette Gebhardt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Mit Durian Sukegawa hat sich der Dumont Verlag nach Haruki Murakami für einen weiteren „Japaner“ in seinem Portfolio entschieden. Der in den japanischen Medien präsente Durian alias Tetsuya Akikawa alias Tetsuya Sukegawa – dort bekannt als Musiker, Comedian, Radiomacher und Lyriker – hat auf den ersten Blick nicht viel gemeinsam mit dem zurückhaltenden Murakami, bei genauerer Betrachtung lassen sich aber dann doch einige Ähnlichkeiten erkennen. Auch in Sukegawas Kirschblüten und rote Bohnen, im Original von 2013 An (Süßbohnenmus), werden die großen Fragen verhandelt: der Sinn des Lebens, die Bürde eines Menschen, schicksalshafte Begegnungen und der Tod.

Durians Dorayaki

Sukegawas Protagonist Sentaro ist eine klassische japanische Taugenichtsfigur. Zwei Jahre Gefängnis wegen Besitz und Handel mit Cannabis verstärken sein Selbstverständnis als Außenseiter der Gesellschaft, als Versager. Er scheint seinen Platz im sozialen Gefüge nicht zu finden, nachdem er seinen Wunsch, Schriftsteller zu werden, nicht realisieren konnte. Immer wieder enttäuscht er andere, nicht zuletzt sich selbst. Seine Charakterschwäche musste jedoch allen voran der Mutter schwere Sorgen bereiten, die stirbt, als er gerade seine Strafe verbüßt. Um Schulden abzutragen, arbeitet Sentaro nach der Entlassung schließlich in einem Laden für Dorayaki, eine japanische Süßspeise, bei der es sich um platte runde Krapfen, gefüllt mit dem Mus der roten Azuki-Bohne handelt. Mehr oder weniger lustlos verrichtet der melancholische Protagonist seine Arbeit, sucht häufig Trost im Alkohol, bis er durch eine besondere Begegnung auf den Weg der Sensibilisierung und Einsicht geführt wird. Sentaros „satori“ beginnt mit dem Erlernen der Kunst, das Bohnenmus richtig zuzubereiten. Mit dieser Fertigkeit nähert er sich sozusagen dem Wesen der Dinge und kann – wie es als Botschaft des Textes zu verstehen wäre – als gereifter Mensch die alte Problematik überwinden.

Tokue – Geschichte, Krankheit und Diskriminierung

Die Erleuchtung des Taugenichts wird durch die betagte Tokue eingeleitet. Sie steht eines Tages vor dem Dorayaki-Imbiss und bietet sich Sentaro als Hilfskraft an. Zunächst zögert dieser, die alte Dame zu beschäftigen. Dann aber akzeptiert er ihr Angebot. Sie weiht ihn in die verschiedenen Arbeitsgänge und das Geheimnis der Azuki ein. Auf ihre Weisung hin macht er fleißig Notizen. Tokues Bohnen sind „vollkommen“. Deshalb steigt der Verkauf an, Tagesrekord 300 Stück. Während der kleine Laden floriert, überdenkt Sentaro seine Optionen. Mit genug Erlös würde er seine Schulden bei der Witwe des ehemaligen Ladenbesitzers abbezahlen und der „Hölle der Backplatte“ entrinnen können. Doch es geht längst nicht mehr nur um seine finanzielle Lage und seine mangelnden Kochkünste. Sentaro lernt nichts weniger als den genauen Blick, die Erweiterung seiner engen Perspektive. Indem er sich auf Tokue einlässt, eröffnet sich für ihn ein bislang unbekannter Horizont, der ihn mit der Geschichte einer tabuisierten Krankheit und mit der Diskriminierungserfahrung der Patienten vertraut macht. Als junges Mädchen steckt sich Tokue mit der Hansen-Krankheit an. Ihr Traum, Japanischlehrerin zu werden, ist nun nicht mehr zu verwirklichen. Sie wird in ein Sanatorium gebracht, denn es war damals üblich, von Lepra Befallene sofort in speziellen Einrichtungen zu isolieren.

Auch in der Gegenwart gibt es, wie es Sentaro, Tokue und die Schülerin Wakana, die sich dem Gespann anschließt, erfahren müssen, noch viele Vorbehalte und Ängste im Hinblick auf „Hansen“, obwohl eine Behandlungsmethode besteht und alle Kranken schon längst geheilt sind. Aufgrund böswilliger Gerüchte um die Lebensmittelhygiene im Imbiss zieht sich Tokue aus der Gemeinschaft der drei zurück. Ihre Hinterlassenschaft ist der Hinweis, dass man die Imagination in seinem Leben zulassen solle: Als poetische Kraft und Mittel der Selbstwerdung, und weil im Menschen, würde er nur die Realität sehen, der Wunsch entstünde, zu sterben. Kirschblüten und rote Bohnen erweist sich in dieser Hinsicht als literarisierte Philosophie gegen eine reduktionistische Weltsicht auf das Materielle und als Ratgeber für angehende Dichter. Sukegawa offenbart sich hier als Freund der romantischen Schule. Das über die Figur der Tokue vermittelte Leitmotiv des Zugangs zu einer „anderen Welt“, der sich über die Wahrnehmung der Stimmen der Natur eröffnet – von der Botschaft der Bohne über das Lied eines Vogels bis hin zu den Verkündungen der Kirschbäume –, mag man in einer ersten Lesung auf asiatische weltanschauliche Traditionen zurückführen; es steht jedoch vermutlich in engem Zusammenhang mit einer Lektüre des Heinrich von Ofterdingen, bei dem es ja heißt: „Ich hörte einst von alten Zeiten reden; wie da die Tiere und Bäume und Felsen mit den Menschen gesprochen hätten. Mir ist gerade so, als wollten sie allaugenblicklich anfangen, und als könnte ich es ihnen ansehen, was sie mir sagen wollten.“

Literarisches Issue-Management im Zen-Design?

Durian Sukegawas zennistisch-romantische Geschichte vom Taugenichts Sentaro, der im Milieu seines kleinen Stadtviertels ein respektables menschliches Format erlangt, könnte eine relativ gelungene Mischung von Banana Yoshimoto und Novalis darstellen, wenn die didaktische Ambition, die der Text verfolgt, sich nicht so deutlich in den Vordergrund drängen würde. Er erzählt er von den medizinhistorischen Gegebenheiten der Lepra im modernen Japan, und diese Ausführungen klingen stark nach einem literarischen „Issue-Management“, in dessen Gefolge einem von institutioneller Seite ausgegebenen Bildungsauftrag gemäß an die Diskriminierungserfahrung japanischer Lepra-Patienten erinnert werden soll; die Historie der Behandlung der Krankheit in Japan ist mit den Namen der Ärzte Kensuke Mitsuda (1876–1964) und Noboru Ogasawara (1888–1970) verbunden, wobei letzterer darum bemüht war, falsche Vorstellungen aus der Welt zu schaffen.

Öffentliche Aufklärung in Sachen „Hansen-Krankheit“ wird tatsächlich auch aktuell wieder betrieben. Der als nationale PR-Agentur agierende, nicht unumstrittene Think Tank Nippon Foundation, der seit geraumer Zeit bestrebt ist, Japans Image in der internationalen Gemeinschaft führender Industrieländer dem Zeitgeist gemäß positiv zu gestalten, hat unter dem Motto „Think Now“ seit einiger Zeit eine Kampagne zum Thema „Lepra“ initiiert. Auf der Homepage der Stiftung heißt es:

As the ages of people affected by leprosy increase, the Global Appeal sought to promote activities by young people to preserve the harsh history of the disease as a legacy of humanity. The Nippon Foundation has also been responsible for the operation of the National Hansen’s Disease Museum since April. Using its more than 40 years of experience in addressing issues related to leprosy, the Foundation is working to make more people aware of the disease while at the same time preserving its history.

Es scheint also, dass Sukegawa mit Kirschblüten und rote Bohnen in die Rolle eines Copywriter-Literaten geschlüpft ist und den Vorgaben eines Auftraggebers nachkommt, um damit ein konfliktreiches Thema geschickt zu kommunizieren, das heißt in die Öffentlichkeit zu tragen. Nicht zuletzt die Verfilmung des Buchs durch die Regisseurin Naomi Kawase (geb. 1969) im Jahr 2015 dürfte einen hohen Impact-Faktor bewirkt haben. An beziehungsweise Kirschblüten und rote Bohnen ist als Text und als Film durchaus reizvoll. Die forcierte Emotionalisierung des Erzählten bringt allerdings ein Zuviel an Süße in die Materie: Manchmal eben das Merkmal von Kunst, die durch PR-Maßnahmen überformt wurde.

Titelbild

Durian Sukegawa: Kirschblüten und rote Bohnen. Roman.
Übersetzt aus dem Japanischen von Ursula Gräfe.
DuMont Buchverlag, Köln 2017.
224 Seiten, 10,00 EUR.
ISBN-13: 9783832164126

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