Der mediale Aufstieg des Sex

Christina Templin kommentiert die „Skandalgeschichte des Nackten und Sexuellen“ um 1900

Von Walter DelabarRSS-Newsfeed neuer Artikel von Walter Delabar

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die öffentliche Präsenz des nackten menschlichen Körpers verändert im Laufe des späten 19. Jahrhunderts und frühen 20. Jahrhunderts ihren Charakter mit der Entstehung der Massen- und Industriegesellschaft, die auch zu einer Medien- und Konsumgesellschaft heranwächst. Nackte Körper und ihre Präsentation werden zum Anlass intensiver Debatten. Justiz und Medien geraten dabei im System Öffentlichkeit in ein enges Verhältnis zueinander, sie werden zu Plattformen gesellschaftlicher Auseinandersetzungen.

Deren Intensität ist beachtlich, zumal das Nackte und damit auch Sexualität skandalisiert werden. Die Empörung über deren mediale Zugänglichkeit schlägt hohe Wellen, ohne dass sich die Beteiligten ausdrücklich darüber im Klaren sind, worüber sie sich eigentlich verständigen. Über den Sittenverfall einer Gesellschaft? Über die Stärkung von deren Wehrhaftigkeit? Über ein gottloses und verbotenes Verhalten? Oder über den Status von Nacktheit und Sexualität in einer modernen Gesellschaft? Gerade der letzte Punkt macht das Gefälle, macht aber auch die Gemeinsamkeiten zwischen den Debatten um 1900 und unserer Gegenwart deutlich. Eine Gesellschaft, in der der nackte Körper beinahe ubiquitär ist, muss mit ihm anders umgehen als eine solche, in der er bis dahin öffentlich nicht präsent war. Ist der nackte Körper Teil der Konsumkultur, muss eine Gesellschaft anders agieren, als wenn er davon noch ausgenommen scheint.

Die Ausweitung der Presse- und Medienlandschaft um 1900 und die Nutzung der Fotografie in der Presse führen zu neuen medialen Formen, Plattformen und Techniken wie Zeitschriften und Fotografien, die intensiv genutzt werden. Hinzu kommen Privatdrucke gerade für die „erotische“ Literatur, ein freizügiger Ausdruckstanz und Brettl-Bühnen, in denen die bürgerlichen Konventionen unter kabarettistischen Beschuss geraten.

Christina Templin untersucht in ihrer Studie vier Formate, mit denen nackte Körper und – damit impliziert – Sexualität um 1900 skandalisiert werden. Aktfotos in Zeitschriften, Nackttänze auf den Bühnen, pikante Kleinkunst auf den Brettl-Bühnen und wissenschaftliche Privatdrucke werden jeweils zum Anlass genommen, gegen den vorgeblich grassierenden Sittenverfall im Reich vorzugehen. Die Autoren, Herausgeber, Theater und Verlage werden mit Klagen überzogen und publizistisch massiv attackiert. Beklagt wird der Verstoß gegen gesetzlich geregelte Grenzziehungen, mit denen nackte Körper, männliche wie weibliche, aus dem öffentlichen Leben verbannt werden sollen. All das wird als „medialer Schmutz“ qualifiziert, woher Templins Studie den Titel entlehnt. Teilweise wird im Rahmen der jeweiligen Gerichtsverfahren sogar eine Verschärfung der Regulierungen durchgesetzt, wie Templin betont. Die Schmutz- und Schunddebatten haben wie die gesetzlichen Regulierungen eine hohe Halbwertszeit. Von den eng vernetzten und gut organisierten Sittenwächtern werden zudem nicht nur frei zugängliche mediale Plattformen angegriffen, sondern auch Veranstaltungen und Publikationen, zu denen nur ein eingeschränkter Kreis Zugang hat, etwa Privataufführungen oder Privatdrucke mit limitiertem Zugang.

Das verweist auf das Interesse der Vertreter einer ‚sittlichen‘ Gesellschaft, aus gutem Grund keine Doppelbödigkeit zuzulassen, in der es über den Zugang abweichende Regeln geben darf. Sie wünschen, die Gesellschaft durchgängig nach einer strikten Verhaltensvorgabe zu organisieren (legalisierte heterosexuelle Paare als exklusive Akteure sexueller Praxis, was die Begrenzung sexualisierter nackter Körper auf den Intimbereich dieser Paare einschließt). Dass die Vertreter dieser Haltung in vielen Fällen Geistliche waren, wundert zwar nicht, ist jedoch erklärungsbedürftig.

Die Gegenposition spaltet sich hingegen in verschiedene Gruppen und Positionen auf, unter denen der Verweis auf den Kunstcharakter der öffentlichen Präsentation nackter Körper, der vor allem bei Aktfotografien und Tanzaufführungen in Anspruch genommen wird, längst nicht erschöpfend ist. Verleger, Autoren, Zeitschriften- und Theatermacher, Wissenschaftler, Kulturhistoriker, Fotografen und bildende Künstler haben unterschiedliche Interessen. Selbst die Interpretation nackter Körper ist unter ihnen strittig: Sie kann zwischen dem Ausweis von Sexualität als humanem Grundbedürfnis und der Entsexualisierung nackter Körper im Rahmen der Reformbewegung schwanken. Verleger, Redakteure und Theaterleiter wollen gleichzeitig einen Markt optimal bedienen, Kunst ausüben oder folgen einem aufklärerischen Impuls.

Das Feld ist also, wie Templin beschreibt, höchst widersprüchlich und von Brüchen durchzogen. Die Geschichte der Durchsetzung nackter Körper in der Öffentlichkeit und der sexualisierten Aufladung öffentlicher Räume kann deswegen kaum als durchgängiger Fortschrittsprozess beschrieben werden, sondern nur als heftig umkämpftes Feld, in dem dieses Thema gesellschaftlich immer wieder aufs Neue verhandelt wird. Der Skandal dient dabei dazu, die öffentliche Aufmerksamkeit auf das Feld zu lenken. Die öffentliche Diskussion, das heißt die Berichterstattung und die Diskussionsbeiträge, die in der Presse lanciert werden, entzündet sich an den skandalisierten Vorfällen und schreibt sie so weit wie möglich fort. Dies führt bis zur Suspendierung von medialen Plattformen (etwa durch das Verbot von Aufführungen oder des Vertriebs von Druckerzeugnissen) oder zur Überarbeitung von Rechtstexten. Den jeweiligen Skandalen und ihren Auswirkungen gehört die Aufmerksamkeit Templins. Sie erkennt darin spezifische historische Narrative, die den Umgang mit Nacktheit und Sexualität organisieren.

Sie bedient allerdings die Frage nach den Ursachen für die Debatten nur punktuell und mit Hinweisen. Die Funktion neuer Medien wie der Fotografie skizziert Templin hinreichend, bei der Einbindung der Skandalisierung von Nacktheit beschränkt sie sich jedoch auf wenige Bemerkungen. Templin versteht mithin die „Diskussionen um das mediale Nackte und Sexualität […] als Selbstverständigungsdebatten des Bürgertums und hier vornehmlich seines männlichen Teils“, allerdings ohne weiter auszuführen, weshalb gerade der nackte Körper dafür besonders geeignet ist. Der Frage, ob das Nackte um 1900 in besonderem Maße präsent gewesen sei, ob mithin das Monitum der Sittenwächter vielleicht sogar zutrifft, weicht sie mit dem Hinweis darauf aus, „normabweichende Praktiken“ seien „schon in den Jahrhunderten zuvor immer wieder beschrieben und dargestellt worden“ seien. ‚Normabweichung‘ besteht anscheinend bereits darin, dass ein nackter Körper öffentlich gezeigt wird. Nicht die öffentliche Präsentation des Nackten wird damit als historisches Novum gekennzeichnet, sondern seine Skandalisierung. Angesichts neuer Medien und medialer Plattformen wird man diesem Befund, zu dem es auch abweichende Hinweise in der Studie gibt, nicht zustimmen wollen, ohne ihn freilich völlig zu suspendieren. Auch für die Einbindung des Phänomens in den Modernisierungsprozess um 1900 bleibt Templin bei Stichworten und Hinweisen stehen. So sind die urbanisierten Industrie- und Massengesellschaften, die einen wachsenden Konsum- und Vergnügungssektor aufweisen, ein historisch neues Phänomen, in dem der Aufwand für die Einzelnen, sich zu positionieren und durchzusetzen, ebenso deutlich gestiegen ist wie der Aufwand für die Gesellschaften, sich angemessen zu organisieren. In diesem Zusammenhang geraten die menschlichen Körper als letzte Orientierungsinstanz in den Fokus. Mit der Entformalisierung von Gesellschaft wird die „Sorge um sich“ (Michel Foucault) zu einer der zentralen Aufgaben des Subjekts, unter Einbezug des Sexuellen. Die Ausdifferenzierung auch von sexuellen Praktiken und des Umgangs mit dem Körper hat weitreichende Konsequenzen.

Die Beschränkung auf die angebliche heterosexuelle Norm wird ebenso nach und nach aufgegeben wie die strenge Regulierung von Kleidung. Die „Pluralisierung von Deutungsmustern“ und die „Ausdifferenzierung gesellschaftlicher Wirklichkeiten“ entziehen den Skandalen, aber auch den Zurichtungsbestrebungen sexualkonservativer Akteure den Boden. Gerade weil der Sex zu einer auch öffentlichen Entität aufsteigt, muss er um 1900, das heißt in einer Gesellschaft, die ihn weitgehend abzudrängen versucht hat, zum Skandal werden – und zum Medienstar.

Titelbild

Christina Templin: Medialer Schmutz. Eine Skandalgeschichte des Nackten und Sexuellen im Deutschen Kaiserreich 1890-1914.
Transcript Verlag, Bielefeld 2016.
376 Seiten, 39,99 EUR.
ISBN-13: 9783837635430

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