Der letzte Philologe

Gisbert Ter-Nedden revidiert Lessings dramatisches Werk gegen die „gravierenden Desinformationen“ der Lessing-Forschung

Von Axel SchmittRSS-Newsfeed neuer Artikel von Axel Schmitt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Keinem fremden Blick trauen, sondern mit eigenen Augen sehen wollen, um selbst urteilen zu können – kein anderer Autor des 18. Jahrhunderts ist dem Ideal kritischen Selbstdenkens näher gekommen als Gotthold Ephraim Lessing, der in seinen Texten den Weg zum autonomen Denken erkennen lässt, das nichts über sich duldet, weder die Einflüsterungen von Traditionen noch die Irritationen der Metaphysik. Die Kritik als Kunst der Unterscheidung ist in Lessings Texten oft über die sokratischen Grundlagen hinausgegangen, hat die alten Wahrheiten zugunsten der schier unerschöpflichen „Entdeckung neuer Wahrheit“ aufgegeben, oft gar zerstört.

Dieser von einzelnen Experten oft bemerkte, selten konsequent und systematisch zu Ende gedachte ‚dekonstruktive‘ Zug in Lessings Denken ist Ausgangspunkt von Gisberts Ter-Neddens (postum von Robert Vellusig herausgegebener) „Revision“ von Lessings dramatischem Werk, dessen einzelne Sätze zwar, wie Monika Fick treffend bemerkt hat, „hundertfach um- und umgewendet worden [sind]; jede These hat die Antithese herausgefordert, jede Argumentationskette hat ihre Widerlegung durch einen gegensinnigen Begründungszusammenhang gefunden“, die es nach Ansicht Ter-Neddens aber verdienen, auf eine neue Grundlage gestellt zu werden, um die in ihnen ansichtig werdende „Schwer- und Missverständlichkeit als solche verständlich zu machen“.

Warum aber sollten Lessings mehrere Jahrhunderte lang philologisch sezierte Texte schwer- oder gar missverständlich sein? Die Antwort ist ebenso einfach wie folgenreich: Schwerverständlichkeit ergibt sich für Ter-Nedden aus der intertextuellen Struktur der Dramen eines Autors, der „Literatur aus und über Literatur“ mache und damit den Lektürevorgang des (post-)modernen Lesers (ohne Kenntnis der antiken wie modernen Arche-Texte) vor unlösbare Schwierigkeiten stelle – dieser Beobachtung ist unbedingt zuzustimmen. Die Aufgabe eines philologischen Kommentars sei es daher, Lessings „Sprache der Schlüsselzitate“ in mikrologisch genauer Detailanalyse zu entziffern und seine Um-, Weiter- und Wider-Schriften der zitierten Vorlage mitdenkend nachzuvollziehen. Auch diesbezüglich ist man sofort geneigt, Ter-Nedden recht zu geben; die Zustimmung beginnt aber in dem Moment brüchig zu werden, wenn Ter-Nedden zu seiner kühnen Behauptung ansetzt, ein solcher philologischer Kommentar liege bisher nicht vor.

Missverständlich seien Lessings Dramen, weil eine ausschließlich aisthetisch oder moralisch motivierte Einfühlung in die literarischen Figuren nicht ausreiche, um die mit kombinatorischem Witz und geometrischer Logik gewebten Denk-Spiele, den spezifischen „Lessing-Code“, zu verstehen. Ohne dass es an irgendeiner Stelle explizite Erwähnung fände, ist Ter-Nedden mit dieser Grundannahme Lessings poetologischem Verständnis sehr nahe gekommen, ist dieser doch Aristoteliker genug, um die später von Immanuel Kant aufgelöste (aristotelische) Einheit von Denken, Fühlen und Wollen für die Anlage seiner Texte noch als gültig vorauszusetzen. Auch als Dramatiker ist Lessing zu jeder Zeit Intellektueller, dessen Figuren in den Rahmen des Denk-Spiels versetzt sind. Daraus aber umgekehrt den Schluss zu ziehen, Lessing habe seine Dramen weniger für das Theater als für den Lektürevorgang geschrieben, der in dem Vergnügen an der Decodierung der fein gesponnenen Text-Gewebe gipfele, ist jedoch abwegig, wenn man sich Lessings durchgängiges Interesse am Theater vor Augen führt. Vielmehr ließe sich, was für Ter-Neddens Ansatz auch gewinnbringender wäre, in Lessing der Theater-Philologe erkennen, dessen Texte ohne Rekurs auf seine eminente Kenntnis der europäischen Dramenliteratur von der Antike bis in die Gegenwart des frühen 18. Jahrhunderts nicht denkbar wären.

So wie Lessing Aristoteles an vielen Stellen seines Werks ‚rettet‘, so begegnet dieser Gestus auch als Schreibmotivation Ter-Neddens. Gegen die Missverständlichkeiten, Fehl-Lektüren, Legendenbildungen, „Skandale“ und Fragwürdigkeiten der philologischen Kommentierungstradition, der es nicht gelungen sei, den Leserinnen und Lesern der Dramen Lessings die „nötigen“ Lesehilfen zur Verfügung zu stellen, will Ter-Nedden durch seine groß angelegte Re-Vision Lessing aus den Fängen „trivialisierender Lektüren“ befreien. Dazu werden ihm von Vellusig im Vorbericht gleich die notwendigen Kompetenzen attestiert, die, so darf man wohl schließen, bisherige Lessing-Forscher nicht in ihrem philologischen Werkzeugkoffer versammelt hatten – neben breiten „medien- und kulturgeschichtlich[en]“ Kompetenzen wird vor allem das Bewandert-Sein in altphilologischem, philosophiehistorischem und theologischem Gebiet lobend erwähnt.

Um nicht missverstanden zu werden: Mit Ter-Nedden ist der Rezensent unbedingt der Meinung, dass Lessings intellektuelle Neugier, seine geistige Physiognomie, seine „fermenta cognitionis“, seine Spaziergänge zwischen antiquarischer Gelehrsamkeit und innovativer Arbeit an Arche-Texten, die Pluralität und Heterogenität seines Denkens, seine dynamisch-prozessuale Struktur, die innerhalb der Texte immer wieder zu Inkonsistenzen, Abbrüchen und Reprisen führt, einzigartig sind; vor allem ist Ter-Neddens Bemerkung, es gebe „keinen gelehrteren, keinen philologisch und vor allem auch hermeneutisch kompetenteren und produktiveren Kenner der Antike, insbesondere der griechischen Antike unter den bedeutenden europäischen Intellektuellen und Autoren des 18. Jahrhunderts als Lessing“, uneingeschränkt zuzustimmen. Auch seine Annahme, Lessing sei kein Erlebnisdramatiker, sondern „auch als Poet in einem ganz und gar singulären Maß gleichzeitig Philologe und Philosoph“, darf mit Zustimmung rechnen; alle seine Dramen seien „Modernisierungen antiker Muster“, die nicht dem Prinzip der imitatio verpflichtet, sondern „traditionskritisch“ zu verstehen seien, „am Ziel der ‚wahren Nachahmung‘ orientiert, die nicht Stoffe und Konventionen, sondern den argumentativen Gehalt, das Ethos, die poetologischen Prinzipien und die Gestaltungsmittel der antiken Autoren rezipiert und modernisiert“. Auch die Zielsetzung vieler Dramen und deren Plotkonstruktionen in der religiösen Aufklärung, das heißt in der „Frage nach der Wahrheit der überkommenen religiösen Welt- und Lebensdeutungen“, zu verorten, da Lessing „keine Liebesgeschichten, sondern Sündenfälle“ dramatisiere, „die dem Zuschauer den Gang in die ‚Labyrinthe der Selbsterkenntnis‘ eröffnen soll“, ist sehr einleuchtend, auch wenn der Begriff „religiöse Aufklärung“ von Ter-Nedden wenig differenziert verwendet wird. Hier befindet er sich nicht zwingend auf dem von der Lessing-Forschung erarbeiteten neuesten Stand.

Trotz leichter Einschränkungen ist diesen Beobachtungen Ter-Neddens, die in der Lessing-Forschung allerdings bereits zuvor unterschiedlich intensiv diskutiert wurden, ebenso wie seiner zum Teil sehr detaillierten und erfrischenden Lektüre der Dramen zuzustimmen. Aber: Wo liegt nun das wirklich Neue? Nach Ter-Nedden in der Überlegenheit seines philologischen Arbeitens, das in krassem Gegensatz zu den eingeschränkten philologischen Kompetenzen eines Großteils der Lessing-Forscher stehe, die „bis heute nicht wirklich über die positivistische Einflussforschung hinausgekommen“ seien und „blinde Flecken“, wie Lessings exemplarische und intellektuelle „Modernisierung des literarischen Erbes [der Antike]“, die tragische Ironie seiner Dramen und deren kognitive Dissonanzen, nicht erkannt, geschweige denn erforscht hätten. Seinen Grund habe dies in der „disziplinären Differenzierung der Lessing-Philologie. Die Altphilologen fühlen sich nicht für die Dramatik und die Germanisten nicht für das Erbe der Antike zuständig. Damit bleibt jedoch eine entscheidende Dimension der Dramen ausgeblendet.“ Angesichts dieser fast schon narzisstisch anmutenden Fokussierung auf den Glanz der eigenen Forschungstätigkeit (als hätte es viele herausragende Arbeiten der Lessing-Philologie der letzten Jahrzehnte, wie etwa diejenigen Wilfried Barners, Monika Ficks und vieler anderer, nicht gegeben!) überrascht Ter-Neddens durchgängig polemischer, auf bisweilen unerträgliche Weise selbstgerechte Züge annehmender Ton nicht mehr, wenn er „die Tatsache“ nicht mit Schweigen übergehen wolle, „dass die Handreichungen [bisheriger philologischer Kommentare zu Texten Lessings] nicht nur aus soliden philologischen Informationen, sondern in wesentlichen Hinsichten auch aus gravierenden Desinformationen bestehen“. Soll man den Ausdruck „gravierende Desinformationen“ etwa so verstehen, dass bisherige philologische Kommentare zu Lessings Texten das Ziel verfolgt hätten, LeserInnen bewusst in die Irre zu führen?

Ausgesprochen fragwürdig ist in dem Zusammenhang auch Ter-Neddens Ansatz, bei den jeweiligen Texten die ursprüngliche intentio auctoris rekonstruieren zu wollen, um sich einem endgültig ‚richtigen‘ Verstehen der Texte zu nähern. Literarische Texte sind seiner Ansicht nach

intentionale Gebilde, bei deren Rezeption wir auf die elementare Unterscheidung zwischen der Frage „Was hat der Sprecher/Schreiber gesagt bzw. gemeint?“ einerseits und der Frage „Was ist von dem Gesagten bzw. Gemeinten zu halten?“ andererseits schlechterdings angewiesen sind. Insofern verlangt die Aufforderung, auf die Frage nach der intentio auctoris zu verzichten, immer dort etwas Unmögliches und in sich Widersprüchliches, wo gleichzeitig an dem Anspruch auf wissenschaftsförmige Wissensgewinnung festgehalten wird.

Die Forderung, die philologisch untersuchten Texte auf den einen, richtigen Sinn zu fixieren, bei der man sich mit Grausen an Formulierungen in deutschen Abituraufsätzen aus dem 20. Jahrhundert erinnert fühlt („Was wollte uns Lessing mit Nathan der Weise sagen?“ oder „Was ist der Sinn der Ringparabel?“), steht im krassen Widerspruch zu der von Ter-Nedden immer wieder reklamierten kritisch-hermeneutischen Erkenntnis, die eben kein Selbstzweck zum Finden des Steins der Weisen ist, sondern eine unentbehrliche Methode, um die unterschiedlichen, mitunter sich auch widersprechenden und sich gegenseitig dementierenden Sinnangebote von Texten freizulegen, um deren komplexes, aus dem Interagieren diverser Intertexte bestehendes Gewebe freizulegen. Nimmt man den kritisch-hermeneutischen Ansatz ernst, dann verbietet es sich von selbst, von der einen Wahrheit zu sprechen. Wer Lessing richtig verstanden hätte, wüsste dies.

Titelbild

Gisbert Ter-Nedden: Der fremde Lessing. Eine Revision des dramatischen Werks.
Hrsg. v. Robert Vellusig.
Wallstein Verlag, Göttingen 2016.
489 Seiten, 34,90 EUR.
ISBN-13: 9783835319691

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