Literarischer Feminismus

Colm Tóibíns Roman „Nora Webster“ ist wie seine Protagonistin zurückhaltend, aber vielschichtig

Von Regina RoßbachRSS-Newsfeed neuer Artikel von Regina Roßbach

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wie die meisten Romane Colm Tóibíns ist auch Nora Webster in der irischen Provinz angesiedelt, im Städtchen Enniscorthy im Südosten des Landes. Kurz nach dem Tod ihres Mannes Maurice befindet sich die vierfache Mutter Nora im Zustand tiefer Trauer – so jedenfalls vermutet man als Leser, denn die Figur ist zu Beginn des Romans schwer fassbar, wirkt emotionslos und starr. Die gut gemeinten Besuche der Dorfbewohner sind ihr lästig, auf die kindlichen Freuden ihrer beiden Söhne, die beim Lesen schmunzeln machen, reagiert sie selbst kaum, etwa wenn Conor während eines Familienausflugs in Dublin nichts anderes möchte als „eine Rolltreppe rauf- und runterfahren.“

„Willst du das auch?“. fragte sie Donal. „N-na g-gut“, sagte er missmutig. (…) Als sie wiederkamen, sah sie, dass auch Donal ganz aufgeregt war. Sie erklärten ihr, sie hätten weiter hinten einen Aufzug entdeckt, und sie wollten auch damit hoch- und runterfahren. „Noch einmal, und dann reicht es“, sagte sie.

Besonders der gutmütige, seit dem Tod seines Vaters stotternde Donal löst beim Leser intuitiv Zuneigung aus. Umso deutlicher heben sich davon die nüchternen, rationalen Reaktionen der Mutter ab; erwecken den Eindruck von Gefühllosigkeit und Leere, der durch die diskrepanten Verhaltensweisen anderer Figuren noch verstärkt wird, die Noras Mangel an Emotionen gewissermaßen auszugleichen versuchen. Alle Figuren um Nora sind lebendig gezeichnet und in einer Weise, die dem Leser Verständnis und Einfühlung ermöglicht. Nur sie selbst bleibt lange eine Leerstelle. Was für eine Frau ist diese Nora Webster?

Diese Frage beschäftigt, so stellt sich immer mehr heraus, nicht nur den Leser, sondern auch und vor allem die Protagonistin selbst. Als junge Frau verzichtete sie trotz herausragender Intelligenz auf eine bessere Ausbildung in der Stadt, nahm eine Sekretärinnenstelle in Enniscorthy an und widmete sich nach ihrer Heirat ganz der Familie. Mit dem charismatischen, politisch engagierten und allseits beliebten Maurice verheiratet zu sein, ermöglichte ihr das ruhige Dasein der passiven Ehefrau, das ihr rückblickend erstaunlicherweise als größtes Glück erscheint: „Ihre Jahre der Freiheit waren vorbei; so einfach war das.“ Anfangs ist ihr noch nicht bewusst, dass sie die Ehe jeglicher eigener Identität beraubt hat: Sie weiß nicht mehr, welche ihre eigenen Ansichten oder Interessen sind, hat keine eigenen Wünsche oder Ziele, keine Freundschaften.

Der Roman handelt von dem langsamen Prozess, der Nora ihre Trauer überwinden und sich selbst kennen lernen lässt. Sie vollzieht ihn erst in kleinen Schritten wie einem Friseurbesuch („Ich habe noch nie einen modischen Haarschnitt gehabt.“), später in immer beherzteren, größeren, mutigeren, wenn sie etwa nicht nur wieder eine Stelle annimmt, sondern sich sogar gegen den Willen ihres Arbeitgebers in der Gewerkschaft engagiert.

Einen entscheidenden Hinweis für das Verständnis dieses Romans geben Selbstaussagen des Autors, etwa das in seiner Dubliner Wohnung gedrehte Video-Interview des Guardian. Tóibín spricht darin von der langen Entstehungszeit des Buches, die auf die große Bedeutung des in ihm verarbeiteten Stoffes für sein Leben und sein Schreiben zurückzuführen ist: Das Portrait der trauernden Witwe Nora Webster ist das fiktionalisierte Bild seiner eigenen Mutter, die Romanhandlung eine literarische Version seiner eigenen Kindheitserlebnisse. Tóibín, der mit zwölf Jahren seinen Vater verlor, reinszeniert darin die Situation seiner Mutter, versucht sich ihr anzunähern, sie aus den verschiedensten Blickwinkeln zu beleuchten und sich aus nun zeitlich erheblicher Distanz ein objektiveres Verständnis für ihr Verhalten und ihre Zeit zu erschreiben.

So gesehen wirkt eine Szene des Romans wie ein poetologisches Bekenntnis des Autors. Nora erinnert sich darin an den Tod ihrer eigenen Mutter, der ihr eine Wiederbegegnung mit anderem Vorzeichen ermöglicht:

Seltsam war, als sie ihre Mutter wieder zu betrachten begann, wie wenig es gab, dessen sie sich sicher war. Die Einzelheiten im Gesicht ihrer Mutter waren verschwunden, aber es blieb noch ein Ausdruck, die Ahnung einer Person. Und dann wurde dieses Gefühl, je länger sie hinsah, exakter, deutlicher. Sie konnte im Gesicht ihrer Mutter andere Menschen erkennen  ̶  die Gesichter von Cousins, den Holdens und den Murphys und den Baileys und den Kavanaghs; die Gesichter Catherines und Unas; ihr eigenes, Noras, Gesicht; die Gesichter von Noras Kindern, insbesondere Fiona. Es war so, als würde ihre Mutter im Laufe dieser langen Nacht zu ihnen allen werden.

Im Moment, in dem die Identität der eigenen Mutter als Individuum und die persönliche Bindung zu ihr zu verblassen beginnen, werden ihre Wichtigkeit und ihr Einfluss auf ihre Umwelt sichtbar. Ebenso hallt die klein und unbedeutend wirkende Emanzipation Nora Websters in allen Familienmitgliedern nach  ̶  etwa in ihren Söhnen, die die Fotografie entdecken, als sie den Gesang entdeckt, oder in ihrer Tochter Aine, die sich an feministischen Demonstrationen beteiligt  ̶  und spiegelt sich auf Makro-Ebene in den politischen Ereignissen der Zeit: der Bürgerrechtsbewegung in Nordirland, die den Auftakt zum Nordirland-Konflikt bildet. So verfolgen Nora und ihre Kinder etwa im Fernsehen die Berichterstattungen über die Ereignisse am blutigen Sonntag von 1972.

Colm Tóibín knüpft mit dem Portrait einer einfachen Frau, deren Lebenswelt und Gesellschaft er erkundet und analysiert, an seine großen Vorbilder des literarischen Realismus an, etwa an Henry James, mit dem er sich schon 2004 in seinem Roman Porträt des Meisters in mittleren Jahren beschäftigt hat. Auf kunstvolle Weise gelingt ihm der Spagat zwischen der realistischen Charakterisierung der Frau als Individuum, deren Konflikte er gerade mittels stilistischer Reserviertheit einfühlsam einzufangen weiß, und der Darstellung einer typischen Frau ihrer Zeit, die ihre Gesellschaft und ihr ganzes Land zu repräsentieren scheint. Dass sie nie ganz erfasst werden kann, bis zum Schluss ambivalent und schillernd bleibt, und dennoch alle Teile und Figuren des Romans durch sie zusammengehalten werden, verleiht ihr beinahe mythische Züge.

Noras Sorgen, Kämpfe und Leistungen sind die der Mutter schlechthin  ̶  wie schon in dem zuletzt von Tóibín erschienenen Roman Marias Testament, in dem Marias Perspektive auf das Leben Jesu geschildert wird. Und wieder ist in diesem neuen, ebenso meisterhaften Roman auch der Appell enthalten, das Bild von der Übermutter  ̶  nicht nur das christliche  ̶  durch eine Frauenrolle zu ersetzen, die realistischer und menschlicher ist. Nora Webster ist damit ein weiterer Beitrag Tóibíns zu seinem persönlichen literarischen Feminismus.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

Colm Tóibín: Nora Webster. Roman.
Übersetzt aus dem Englischen von Giovanni und Ditte Bandini.
Hanser Berlin, Berlin 2016.
384 Seiten, 26,00 EUR.
ISBN-13: 9783446250635

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