Von Schimpansen und kleinen Kindern

Michael Tomasello rekonstruiert die Evolution der menschlichen Moral

Von Gertrud Nunner-WinklerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Gertrud Nunner-Winkler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Michael Tomasello, Direktor des MPI für evolutionäre Anthropologie in Leipzig, „möchte […] eine Geschichte erzählen, eine Naturgeschichte darüber, wie die menschliche Moral entstand“. Diese Art von Erzählungen ist allerdings hoch kontrovers. Soziologen, Historiker und Philosophen stehen biologisch-evolutionstheoretischen Erklärungen ohnedies eher skeptisch gegenüber – sie gelten ihnen als zu deterministisch, spekulativ, reduktionistisch. Und für evolutionstheoretisch aufgeschlossene Psychologen zeichnet er „ein unrealistisch rosiges Bild menschlicher Kooperation und Moral“. Doch solche Vorbehalte sind zu plakativ. Zunächst betont Tomasello die zentrale Unterscheidung zwischen Letztursachen von Evolutionsprozessen und den konkreten Motiven der Individuen und erläutert sie am Standardbeispiel Sex: Evolutionstheoretisch geht es um Reproduktion – Beteiligte mögen durchaus anderes im Sinn haben. Biologie determiniert nicht – sie stellt Möglichkeiten bereit: Dank der evolutionären Entwicklung der menschlichen Sprachfähigkeit kann ich sprechen, aber was ich sage ist nicht festgelegt. Gleichwohl sind biologische Anlagen vorauszusetzen: „Haustiere, die in kulturellen und religiösen Kontexten aufwachsen, werden dadurch nicht zu moralischen Wesen.“ Nun ist unser Wissen über frühes menschliches Leben allerdings spärlich. Hier setzt Tomasellos faszinierendes Forschungsprogramm an, das Beobachtungen und experimentelle Untersuchungen an Menschenaffen und Kindern vergleicht. Bis zum Alter von drei Jahren nämlich sind Kleinkinder aller Kulturen einander ähnlich. Insofern entsprächen ihre Fertigkeiten und Motivationen denen der Frühmenschen. Und schließlich vertritt Tomasello ein nicht-reduktionistisches Moralverständnis. Weder versteht er Moral – wie Dawkinsʼ These vom egoistischen Gen unterstellt – im rational-choice-Modell rein strategisch, noch – wie Haidts intuitive Moral behauptet – als bloß nachträgliche Rationalisierung angeborener emotionaler Reaktionen.

Doch wie versteht er dann Moral und wie erzählt er ihre Entstehung? Moral bezeichnet die „psychologischen Prozesse der Kognition, sozialen Interaktion und Selbstregulation, die es den Menschen ermöglichen, in ihren besonders kooperativen sozialen Arrangements zu überleben“. Sie entwickelt sich in zwei Stufen. Ausgangspunkt ist das prosoziale Verhalten, das Menschenaffen gegenüber Verwandten und engen Freunden zeigen. Der erste Schritt vollzog sich, als ökologische Veränderungen (vor etwa 2 Millionen Jahren) die Frühmenschen zur gemeinschaftlichen Nahrungssuche zwangen. Aus der neuen Interdependenz entstand die ‚natürliche zweitpersonale Moral‘ mit den beiden Komponenten der ‚Moral des Mitgefühls‘ und der ‚Moral der Fairness‘. Das Mitgefühl, das rein altruistische Hilfeakte motiviert, dehnte sich auf potentielle Kooperationspartner aus. Und für die Zusammenarbeit waren gemeinsame Ziele und Rollenideale nötig. Diese legten unparteiisch fest, was jeder tun muss – wer auch immer der Partner sein mag – und zeigten so die Gleichwertigkeit der Stellung von Selbst und Anderem in gemeinsamen Unternehmen. Wichtig war, einen guten Partner auszuwählen und sicherzustellen, dass man selbst als Partner gewählt wurde – die Partner nämlich bewerteten einander und wussten, dass sie bewertet wurden. Es galt also, Vertrauen zu erwerben. Dies erforderte, normative Rollenstandards anzuerkennen, sich wechselseitig gleich zu achten und verantwortlich zu halten, Beute fair aufzuteilen, Trittbrettfahrer auszuschließen, Partnerprotest gegen ungerechte Behandlung zu respektieren. So erwuchsen aus der kooperativen Rationalität Verbindlichkeiten, die nicht primär strategisch, sondern aus Selbstverpflichtung befolgt wurden: Der Tadel, mit dem man auf Abweichungen anderer reagierte, wurde internalisiert und führte bei eigenen Verfehlungen zu Schuldgefühlen.

Diese Beschreibung stützt Tomasello empirisch ab: Schimpansen helfen nützlichen Bündnispartnern, Kleinkinder helfen Bedürftigen. Gemeinsame Beute oder Belohnungen verteilen Schimpansen nach Dominanzregeln, Kleinkinder nach dem Prinzip der Gleichverteilung allein unter den Beteiligten, unfaire Behandlung dulden sie nicht. Sie bemühen sich um Wiedergutmachung. Sie verstehen Kooperationsverpflichtungen: Geht ein Erwachsener bei einer gemeinsamen Tätigkeit ohne Grund weg, suchen sie ihn zur Wiederaufnahme zu bewegen; hat er einen Grund, warten sie geduldig. Bei einem gemeinsamen Spiel mit einem Erwachsenen verabschieden und entschuldigen sie sich, wenn ein anderer sie zu einem attraktiveren Spiel verlockt. Aus solchen Befunden zieht Tomasello Rückschlüsse: Frühmenschen, die intentional zusammenarbeiteten, schufen Vereinbarungen. Auch wenn es sich dabei nur um lokale, zeitweilige und auf zwei Partner begrenzte Verpflichtungen handelte, so markieren sie doch einen ersten Schritt in der Naturgeschichte des menschlichen Gesellschaftsvertrags.

Auch der zweite Entwicklungsschritt – der Schritt zum ‚modernen Menschen‘ – wurde (vor etwa 100 000 Jahren) durch ökologische Veränderungen ausgelöst: Die Population und damit auch die Konkurrenz zwischen Gruppen wuchs. Nun galt es, zwischen Zugehörigen und Fremden, sprich: Barbaren, zu unterscheiden und Zusammenarbeit ohne gemeinsamen persönlichen Hintergrund zu koordinieren. So wurden kulturspezifische Konventionen ausgebildet: Zu uns gehört, wer spricht, das Essen bereitet, sich kleidet wie wir. Auch wandelten sich die ad hoc Ideale der Frühmenschen zu objektiv verbindlichen, den Nachwachsenden explizit vermittelten Standards. Auf der Individualebene entwickelten sich Konformitätsbereitschaft und Eigengruppenloyalität. In der Tat imitieren und präferieren Kleinkinder verstärkt Mitglieder der Eigengruppe und unterstellen ihnen kollektiv geteiltes Hintergrundwissen. Für Anweisungen nutzen sie eine objektivierende ‚generische‘ Sprache (z.B. „das gehört hierher“). Normen befolgten die modernen Menschen nicht allein strategisch. Aufgrund ihrer Identifikation mit den Ahnen fühlten sie sich als „Miturheber“ des Gesellschaftsvertrags, den ‚wir‘ für ‚uns‘ gemacht haben. Dies legitimierte die Bestrafung abweichenden Verhaltens und generierte ein Pflichtgefühl gegenüber den ‚objektiven‘ Werten der eigenen Kulturgruppe, das moralische Selbststeuerung ermöglichte. Selektion setzte hinfort auf der Gruppenebene an und es gewannen die Kulturen, die Kooperation und Zusammenhalt am besten förderten.

Kritik an Tomasellos Evolutionsnarrativ setzt vor allem an seinem Moralbegriff an. So etwa befürchtet Lars Weisbrod (ZEIT), evolutionär bestimmte Moralvorstellungen seien relativistisch. Otfried Höffe (SZ) fehlt der entscheidende Schritt zu einer ‚wahrhaft universalistischen‘, nicht allein extern verursachten, sondern intern begründeten Moral. Universalismus unterstellt Tomasello allerdings schon: Alle Menschen – so seine zentrale These – teilen die ‚natürliche zweitpersonale Moral‘, die Mitgefühl und Gleichachtung gebietet. Einzelne Kulturen unterscheiden sich dann nur in ihrer ‚Kooperation-plus Moral‘ – ihren je eigenen, durch Institutionen und Religionen gestützten, konventionellen Normen sowie in ihrer spezifischen Grenzziehung zwischen Zugehörigen und Fremden. Tomasellos Moralkonstruktion reproduziert die aufklärungsorientierte universalistische Minimalmoral. Deren zentrale Merkmale – das Gesellschaftsvertragsmodell mit den Komponenten von Universalismus und Gleichheit, die Unterscheidung moralischer von konventionellen Normen, eine intrinsische Motivstruktur – deutet er als anthropologische Grundausstattung. Ist diese Rückprojektion haltbar? Verstand man Normen in einfachen Kulturen wirklich als ‚von uns’ ‚für uns‘ geschaffen oder nicht doch als (von Göttern, von der Natur) vorgegeben? Wurden sie wirklich primär aus Einsicht oder nicht doch auch aus Angst vor schlimmen Konsequenzen befolgt? Jüngere Kinder jedenfalls unterscheiden nicht zwischen den Modaltermen ‚unmöglich‘ und ’unmoralisch‘, hängen Vorstellungen immanenter Gerechtigkeit an und in traditionalen Kulturen rechnen sie herrschende Konventionen der Moral zu. Des Weiteren: Die von Tomasello beschriebenen genetisch verankerten Bestrebungen – Mitgefühl, Gerechtigkeitssinn, Konformitätsbereitschaft, Eigengruppenpräferenz – können auch ‚unmoralisch‘ wirken. Ein dank Ähnlichkeit gesteigertes Mitgefühl mag zu Ungerechtigkeiten führen. (So etwa bevorzugten weiße Ärzte in den USA bei der Organvorgabe systematisch weiße Mittelschichtfamilienväter). Was gerecht ist, hängt von Ausdeutungen ab. (So etwa fordern Ansässige häufig Sonderrechte gegenüber Neuankömmlingen ein). Konformität kann auch gegenüber unmoralischen Erwartungen geübt werden. (So etwa beteiligten sich die ‚ganz normalen Männer‘ des Hamburger Polizeibataillons ‚aus Kameradschaftlichkeit‘ an der massenhaften Tötung von Juden). Auch ist die Ausgrenzung Fremder häufig durch Eigengruppenpräferenz motiviert. Tomasello spricht von möglichen Konflikten zwischen den unterschiedlichen biologisch verankerten Moralen, die durch individuelle Entscheidungen zu lösen seien. Angemessener scheint es, die von ihm beschriebenen ‚natürlichen‘ Neigungen nicht als Momente von Moral, sondern als Prädispositionen für Moral zu begreifen. Erforderlich ist dann die – von Kindern erst ab etwa 5-6 Jahren erworbene – formale Fähigkeit, zu angeborenen Reaktionsbereitschaften mit Gründen Stellung zu nehmen. Diese Gründe machen die inhaltliche Bestimmung von Moral aus, die nicht biologisch präformiert, sondern kulturell erarbeitet ist.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Michael Tomasello: Eine Naturgeschichte der menschlichen Moral.
Übersetzt aus dem Amerikanischen von Jürgen Schröder.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2016.
283 Seiten, 32,00 EUR.
ISBN-13: 9783518586952

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