Gesellschaftskritik und Selbstentwicklung

Über Christof Wackernagels „RAF oder Hollywood“

Von Stefan SchweizerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefan Schweizer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Christof Wackernagels Leben lässt sich wohl am besten mit einem Film vergleichen, wobei das allbekannte Hollywood-Schema von Exposition, Höhe-/Wendepunkt und Happyend in diesem Fall nicht greift. Wackernagel ist Schauspieler, Musiker, Schriftsteller und Revolutionär in Personalunion.

Wie alle schriftstellerischen Werke von Wackernagel ist auch „RAF oder Hollywood“ genreübergreifend und nur als Gesamtkunstwerk entsprechend zu würdigen. Poetische Autobiografie, knallharte Gesellschaftskritik und tiefgründige Kunstreflexion bilden einen interdependent-rekursiven Gesamtkomplex, den der Leser sich erschließen darf. „RAF oder Hollywood“ schildert das Leben der Nachkriegsgeneration, denn der 1951 geborene Wackernagel stammt aus einem ambitioniert-künstlerisch inspirierten Elternhaus, besuchte in München das Gymnasium und wurde ab 1967 Mitglied der Stuttgarter Medienkommune „Produktionsgemeinschaft Schrift, Ton und Bild”. Eher zufällig kam er zum Film und spielte seine erste Hauptrolle in „Tätowierung”. Es folgten weitere Rollen in Serien und Fernsehproduktionen. Doch dann kam der radikale Bruch, der in „RAF oder Hollywood“ nur auf den letzten Seiten angedeutet wird. 1977 schloss Wackernagel sich der Roten Armee Fraktion an, also genau im dem Moment, als die RAF an den deutschen Staat und den Ex-Wehrmachtsoffizier und Bundeskanzler Helmut Schmidt die Machtfrage stellte. Das, was in einer Hollywood-Produktion der Showdown wäre, stellt Wackernagel in den Prolog: seine Verhaftung als Mitglied der RAF-Kommandoebene. Wackernagel und sein Genosse Gert Schneider erledigten in Amsterdam Aufträge für die RAF. Beide wollten die Stadt mit dem letzten Zug verlassen, jedoch der Dope-Dealer hatte Verspätung. Für den – wie er nicht müde wird zu betonen – „alten Kiffer“ Wackernagel, der gesellschaftsveränderndes Potenzial in den THC-haltigen Drogen und LSD sieht, war das ein No-Go. Ohne Dope keine Abreise aus Amsterdam. Das ermöglichte deutschen Zielfahndern und niederländischen Polizisten den Zugriff: Wackernagel und Schneider wurden verhaftet – nach einem Schusswechsel und einer gezündeten Handgranate. Als Folge wurde Wackernagel 1980 von einem niederländischen Gericht zu 15 Jahren Haft verurteilt, aber vorzeitig begnadigt, nachdem er sich von der bewaffneten Politik der RAF losgesagt hatte. Und dann alles von vorne: Er wurde wieder als Schauspieler gebucht, wurde Schriftsteller, Maler …

Die Stärke von „RAF oder Hollywood“ liegt darin, dass es minutiös aufzeigt, wie sich der gesellschaftliche Protest an den Verhältnissen in der Bundesrepublik Deutschland entzündet hat. Mit sezierendem Blick analysiert der Autor die Zustände im Nachkriegsdeutschland, den nicht ausgerotteten Nationalsozialismus und die verkrusteten Gesellschaftsstrukturen. Muten die Phantasien seiner Freunde und von ihm noch pubertär an, nämlich LSD in die Grundwasserversorgung einzuspeisen, um möglichst vielen Menschen erkenntnisleitende Gedanken zu ermöglichen, so wird das gesamte Werk gesellschaftskritisch und sozialpsychologisch bestens durch Referenzen untermauert: von Wilhelm Reich über Fanon bis hin zu den intellektuell brillanten Gründervätern der RAF. Trotz der sehr vielen Fußnoten, die sich auf deren Schriften oder aber auf Erklärungen der dem jungen Leser heute nicht mehr bekannten Tatsachen beziehen, ist „RAF oder Hollywood“ lesefreundlich und spannend. Wackernagels Verdienst ist eine Entmythologisierung der RAF, wohlgemerkt von einem ehemals Beteiligten, der sich zwar vom bewaffneten Kampf losgesagt, aber nie als Verräter oder „Kronzeuge“ angedient hat.

Die Ausdrucksweise ist mitunter verräterisch, zum Beispiel, wenn er von der RAF schreibt, sie sei „Weltmeister in Sachen Logistik“. Fühlt der Leser nicht intuitiv den Bezug zum 3. Reich, zu dem Genozid an den Juden und den „logistischen Meisterleistungen“, die diesen erst ermöglichten? Eine derart simplifizierende Gleichsetzung von Links und Rechts liegt dem Autor allerdings fern, aber in seinem Urteil über die RAF zeigt er sich hart und unbestechlich. Denn im Gegensatz zur offiziellen RAF-Lesart schreibt er unmissverständlich: „Ich fühlte mich nicht wohl mit unserer Propagandalüge, Baader, Ensslin und Raspe seien von den Geheimdiensten ermordet worden, obwohl wir in der Gruppe selbstverständlich von Selbstmord sprachen, schließlich hatten wir ihnen ja Waffen ins Gefängnis geliefert.“

Leider beschreibt Wackernagel nur den Teil vor seiner RAF-Mitgliedschaft ausführlich. Insider-Informationen aus RAF-internen Gruppendiskussionen und theoretischen Politikreflexionen bleiben eher sporadisch und stehen am Rand. An einer Stelle bringt er jedoch den Theoriebildungsprozess der zweiten RAF-Generation auf den Punkt, als er Volker Schlöndorffs Frau Margarethe erklärt, warum er in die RAF möchte: „Ich tu’s nicht für andere – ich tu’s für mich“. Hier zeigt sich in Nuce der Wandel der RAF von einer kollektiv geprägten Guerilla-Organisation zu einer durch die Subjekt-Theorie der Frankfurter Schule geprägten Kader-Organisation, in der es mehr um die Selbstindividuation ihrer Mitglieder als um optimierte Gesellschaftsverhältnisse ging. Ebenso paradigmatisch ist die Szene, in der RAF-Anwalt Klaus Croissant ihn ermutigt, nach Hollywood zu gehen, um dort Karriere zu machen, da Wackernagel die Hauptrolle in „Midnight Express“ spielen sollte. Denn: „Ich ließ meine Brezel sinken und fragte: ,Seit wann geht es um Hollywood – es geht um den Kampf um Befreiung!‘“

Das Ende dieses Kampfs ist bekannt und dennoch beschleicht den Leser bei der Lektüre keine Sekunde das Gefühl, Wackernagel habe einen seiner Schritte je bereut oder würde mit seinem Schicksal hadern. Im Gegenteil: Den Kampf um individuelle wie gesellschaftliche Befreiung scheint sich der Autor immer noch auf die Fahnen geschrieben zu haben. Sonst hätte er kein so intellektuell ambitioniertes, sprachlich brillantes und inhaltlich fesselndes Buch mit durchaus aufrührerischem Impetus geschrieben, das den Leser zur knallharten Reflexion und Durchdringung historischer sowie aktueller gesellschaftspolitischer Zustände zwingt. In diesem Sinne sei jedem kritischen Kopf, jedem Querdenker und jedem Sozialwissenschaftler die Lektüre von „RAF oder Hollywood“ wärmstens empfohlen.

Titelbild

Christof Wackernagel: RAF oder Hollywood. Tagebuch einer gescheiterten Utopie.
zu Klampen Verlag, Springe 2017.
360 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783866745582

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