Biografie und Zeitgeschichte

Martin Walsers Auswahl seiner Reden, Aufsätze, offenen Briefe und Essays bringen 60 Jahre bundesrepublikanische Geschichte zur Sprache

Von Anton Philipp KnittelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Anton Philipp Knittel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Martin Walser hat es sich, seinen Lesern wie auch seinen Zuhörern in mehr als sechs Jahrzehnten als Schriftsteller aber auch als kritischer Zeitgenosse nie leicht gemacht. Zum Glück. Denn wer wollte schon einen weniger sprach- und gedankenklaren Walser? Einen weniger provokanten Walser, der zur Auseinandersetzung gar nicht mehr herausforderte? Als der letzte Großschriftsteller seiner Art war und ist Walser mainstreamförmig nicht zu haben. Das gilt für den Schriftsteller wie den gesellschaftskritischen Publizisten gleichermaßen. In mehr als sechs Jahrzehnten befeuerte er mit vielen – oft kontroversen – Beiträgen die jeweiligen Debatten. Anlässlich seines 90. Geburtstages hat Thekla Chabbi unter dem paradox anmutenden Titel Ewig aktuell auf mehr als 600 Seiten einen beeindruckenden Querschnitt seiner Reden, Aufsätze und Essays zum Zeitgeschehen versammelt.

Der Band liest sich in der Tat wie eine Art Biografie, wie Walser in einem Interview mit der Stuttgarter Zeitung sagte: „Dadurch ist jetzt unfreiwillig eine Art Biografie entstanden, nicht die des Romanschreibers, aber die des provozierten Zeitgenossen“. Darüber hinaus ist Ewig aktuell auch ein funkelndes Kaleidoskop der letzten 60 Jahre Bundesrepublik Deutschland. Dass Walser, der Selbstbezichtigungs- und Selbsterregungsvirtuose, mit seinen oft quer gegen den Zeitgeist stehenden Reden, Essays und offenen Briefen der Zeit meist weit voraus war, ist inzwischen bekannt. Das bestätigt auch der vorliegende Sammelband eindrucksvoll.

Die Bandbreite der Walserʼschen Texte ist enorm. Sie reichen vom Essay Prophet mit Marx- und Engelszungen anlässlich des Erscheinens von Ernst Blochs Das Prinzip Hoffnung in der BRD über Unser Auschwitz (1965) und Was wählen Sie am 28. September 1969? bis hin zu Ausschwitz und kein Ende (1979). Von Kafkas Stil und Sterben über Schweinsteigers Kniefall (2010) und Warum ich Theo Waigel loben darf (2011) bis zu Erleben statt definieren (2016). Selbstverständlich fehlt unter den hier erneut publizierten 86 Texten genauso wenig die berühmt gewordene Paulskirchen-Dankesrede anlässlich der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels unter dem Titel Erfahrungen beim Verfassen einer Sonntagsrede (1998) wie auch verschiedene Texte zum Tod von zeitweiligen Weggefährten wie Max Frisch (1991) oder Rudolf Augstein (2002). Desgleichen gelten Walsers Gedanken auch anderen prominenten Toten wie Marcel Reich-Ranicki (2013), Frank Schirrmacher (2014) oder Günter Grass (2015).

Ohne an dieser Stelle auf die vielen Facetten des bei Walser spätestens seit seiner Beobachtung der Frankfurter Auschwitz-Prozesse virulenten Themas der deutschen Schuld einzugehen, erscheint es im Abstand und im Kontext manch anderer unmissverständlicher Walser-Texte zum Holocaust aufs Neue umso verwunderlicher, dass seine Paulskirchen-Rede so missverstanden werden konnte. Verwunderlich scheint aber auch, dass sie, wie Walser später selbst mehrfach betonte, an entscheidender Passage zu offen formuliert war und die gemeinten Adressaten – etwa Walter Jens und Günter Grass – nicht erkennbar wurden.

Neben dem „durch Deutschland verursachten Schicksal der Juden“, wie die Herausgeberin formuliert, sind es die Auseinandersetzung mit dem Vietnam-Krieg sowie der Themenkomplex deutsche Teilung / deutsche Nation, die den Schwerpunkt der chronologisch wiederabgedruckten Texte bilden. Etwa Wie hälst du’s mit Vietnam (1965), Praktiker, Weltfremde und Vietnam (1966) oder Über Deutschland reden (1988), 6. Oktober 1989 (1989), Deutsche Sorgen I und II (1993) oder Die Deutschen haben Grund zum Feiern (2015).

Besonders spannend sind diejenigen Texte Walsers, in denen das Thema Parteiendemokratie in der öffentlichen Debatte weit oben auf der Tagesordnung stand, in unseren Tagen wieder zu lesen. In Das Fremdwort der Saison – nämlich „das schöne zweischneidige Fremdwort Alternative“ – anlässlich eines informellen Treffens einiger Schriftsteller der Gruppe 47 und der Entscheidung, Willy Brandt im Wahlkampf zu unterstützen, heißt es in dem 1961 publizierten Text unter anderem: „Inzwischen weiß es jeder: Es gibt keine Opposition mehr. Anno 57, Erich Ollenhauer und seine SPD, das war beste Opposition. Es war wie in einer Demokratie damals. Gute alte Zeit.“ Oder – ältere HSV-Fans aufgepasst –, wenn Walser wenig später formuliert „Verstehe ich aber das Fremdwort der Saison so, wie es jetzt im Schwange ist, dann wäre es doch besser, am 17. September den HSV noch einmal gegen Barcelona spielen zu lassen, da stünde dann wenigstens etwas auf dem Spiel. Ist aber die SPD keine Alternative mehr, dann ist die Wahl am 17. September eine ungerechtfertigte Sonntagsbelästigung.“

Auch der Text Schön waren unsere Volksparteien, den Walser vor der Bundestagswahl 2009 in der Wochenzeitung Die Zeit publiziert hatte und in dem er die Angleichung der beiden großen Volksparteien thematisiert, scheint nichts von seiner Aktualität verloren zu haben, wenn Walser darin unter anderem bemerkt: „Unverzichtbar war, dass die beiden Volksparteien Persönlichkeiten hervorbrachten, die wichtiger waren als die Programme“. Am Ende formuliert Walser pointiert: „Der Unterschied zwischen EINER Regierungspartei und der gehabten Zweisamkeit, das ist der Unterschied zwischen einer Nationalhymne und einer Bruckner-Symphonie“, um dann noch ein Lob auf die Kanzlerin anzustimmen: „Sie wirkt inzwischen wie ein best of CDU plus SPD, also das leibhaftige Kontinuum unserer neueren geglückten Politikgeschichte. Und wenn sie ihre charmante Melancholie auch noch gegen den Krieg einsetzt, wird sie sofort unsterblich.“

Walser erinnert damit an seinen offenen Brief an die Kanzlerin zwei Monate zuvor. Der Brief war mit Unser Irrtum überschrieben und wendete sich gegen die Beteiligung deutscher Soldaten am Afghanistan-Krieg: „Ich bin gegen Krieg, weil ich glaube, die Deutschen müssen gegen Krieg sein dürfen, ohne Angabe von Gründen. Wir haben etwas hinter uns, was uns kriegsuntauglich machen darf. Mögen andere Krieg führen, wir nicht. Nicht mehr.“

Walser, und das wird bei der Lektüre der hier wiederabgedruckten Texte deutlich, setzt bei aller Pointierung, bei aller Zuspitzung stets auf „Sprachhandlungen im Dienste der Vernunft“, wie es in seinem Spiegel-Text Von den Sprachhandlungen aus dem Jahr 2015 heißt. Ewig aktuell ist eine Anthologie der Walserʼschen Parteinahme durch die Zeiten: allemal lesens-, nach- und überdenkenswert.

Titelbild

Martin Walser: Ewig aktuell. Aus gegebenem Anlass.
Herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Thekla Chabbi.
Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2017.
638 Seiten, 24,95 EUR.
ISBN-13: 9783498073930

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch