Wie mittelalterlich ist die Moderne?

Eine Aufsatzsammlung zur Relevanz des Mittelalters in der heutigen Zeit

Von Marc-André KarpienskiRSS-Newsfeed neuer Artikel von Marc-André Karpienski

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Überall ist Mittelalter“, so verkündet es schon der Titel des vorliegenden Buches, das den Leser auf Kontinuitäten seit dem Mittelalter hinweisen will und ihm so die Geschichtlichkeit des eigenen Daseins veranschaulichen, wie auch insbesondere die Aktualität des Mittelalters ins Bewusstsein rufen möchte.

Gerade die öffentlich alimentierte Geschichtswissenschaft ist ja dazu aufgerufen, ihren Nutzen zu beweisen, also deutlich zu machen, wo sie zum Verständnis der Gegenwart Beiträge leisten kann, um die Gesellschaft für die Zukunft zu rüsten. Schnell war und ist man dabei, das Mittelalter als überwundene Vorstufe der Moderne zu betrachten oder den Nutzen des Mittelalters für aktuelle Fragestellungen zu negieren. Der vorliegende Sammelband versucht dem entgegenzuwirken. Die Frage der Kontinuität des Mittelalters ist nicht neu. Schon der Titel zitiert direkt ein älteres Werk, was die Kontinuitäten aber auch Brüche zu heute zeigen wollte.

Das Buch ist das Produkt einer Vortragsreihe im Wintersemester 2014/15, die ausgewiesene Experten des Mittelalters in Würzburg zusammenführte, die zu verschiedenen Bereichen, in denen sie Kontinuitäten seit dem Mittelalters ausmachten, sprachen. Die Vorträge der Ringvorlesung wurden dann mit einem wissenschaftlichen Apparat versehen bereits 2015 veröffentlicht, was – zumindest im geisteswissenschaftlichen Bereich – ungewöhnlich schnell ist. Im einleitenden Aufsatz äußert sich Steffen Patzold, der seine Betrachtungen des Mittelalters mit der Feststellung der zwei Betrachtungsweisen, dem „Überall ist Mittelalter“ und dem „Nirgendwo ist Mittelalter“ eröffnet, also dem Versuch das Andere im Mittelalter zu sehen, dass es uns als etwas Fremdes erlaubt Alternativen zu unserer selbstverständlichen Normalität zu erkennen und diese zu hinterfragen. Diese Dichotomie zwischen Identität und Alterität ist, so Patzold, nicht gegeben und setzt zum Beispiel voraus, dass es so etwas wie eine einheitliche Moderne in der heutigen Welt gibt, was er bezweifelt. Gerade diese Transformation und Vielgestaltigkeit der Moderne eröffnet aber neue Betrachtungsweisen auf das Mittelalter und damit auch auf ein neues Verständnis der heutigen Zeit.

Nach diesem theoretisierenden Einstieg betrachten die weiteren Aufsätze eng begrenzte Themen. Dabei betonen sie im Sinne des Buchtitels die Aktualität und damit Relevanz mittelalterlicher Erscheinungen als den Kern heutiger Institutionen, kultureller Gewohnheiten und geographischer sowie baulicher Begebenheiten und erläutern auch deren Anpassung an die heutigen Bedürfnisse.

Beispielhaft sei kurz auf drei Aufsätze eingegangen, um die große Bandbreite der Beiträge zu demonstrieren. Die Lokalgeschichte im Blick hat Stefan Kummer, der das mittelalterliche Erbe im Stadtbild Würzburgs darlegt. Wie er konstatieren muss, ist der mittelalterliche Baubestand nur vereinzelt im Stadtbild zu finden ist, aber der Grundriss des Würzburger Zentrums ist bis heute durch die mittelalterlichen Bauverhältnisse bestimmt.

Zum Einfluss des Arabischen im Mittelalter äußert sich Dag Nikolaus Hasse, der die Bedingtheit der europäischen Kultur von den arabischen Einflüssen verdeutlicht, aber auch die Grenzen dieses Kultur- und Techniktransfers zu benennen weiß.

Markus Frankl hingegen verfolgt die Wirkmächtigkeit der Heraldik bis in die heutige Zeit und kann vor allem an der kommerziellen Nutzung von Wappenbildern Kontinuitäten und Diskontinuitäten aufzeigen.

Insgesamt lernt der Leser oder die Leserin anhand der thematischen Aufsätze einiges zu mittelalterlichen Praktiken und Techniken, die bis heute fortwirken beziehungsweise nur mehr latent unsere Lebenswelt prägen. Hierbei profitieren die Texte zum großen Teil von einem zwar wissenschaftlichen, aber dennoch als Vortrag konzipierten Stil. Lobend sei an dieser Stelle auch hervorgehoben, dass die einzelnen Aufsätze großzügig mit dem Bildmaterial der Vorträge ergänzt worden sind, wenn auch in schwarz-weißem Druck. Ebenfalls hilfreich ist das Register, was Orte, Personen und Werke verzeichnet und so abseits der aussagekräftigen Aufsatztitel ein schnelles Finden ermöglicht.

Als Fazit sei formuliert, dass Experten auf dem Gebiet des Mittelalters zu den angeschnittenen Themen wenig Neues finden werden, außer sie interessieren sich explizit für die Debatte um die Kontinuitäten und Brüche zum Mittelalter. Da mag die eine oder andere Detailstudie einen guten vertiefenden Blick ermöglichen. Wer sich hingegen zum ersten Mal mit der Frage beschäftigt, inwieweit das Mittelalter heute noch relevant ist, kann Erhellendes finden, muss aber das unterschiedliche Anspruchs- und Vorwissensniveau der Texte in Kauf nehmen, was bei einem solchen Sammelband schwer zu nivellieren ist.

Ein Beitrag aus der Mittelalter-Redaktion der Universität Marburg

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Dorothea Klein (Hg.): „Überall ist Mittelalter“. Zur Aktualität einer vergangenen Epoche.
Verlag Königshausen & Neumann, Würzburg 2015.
366 Seiten, 38,00 EUR.
ISBN-13: 9783826058325

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