Aus dem Dunkel

John Williams erkundet in seinem Debüt „Nichts als die Nacht“ das Trauma einer verletzten Seele

Von Gerald FunkRSS-Newsfeed neuer Artikel von Gerald Funk

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Übersichtlicher geht es kaum. Die Geschichte beginnt am Morgen eines warmen Sommertages mit einem Traum kurz vor dem Aufwachen und sie endet inmitten der Nacht. Dazwischen liegt ein Tag im Leben des jungen Müßiggängers Arthur Maxley: der Besuch eines Frühstückscafés, einer Bar um die Mittagszeit, eines Hotelrestaurants am Abend und eines Nachtclubs, unterbrochen nur von einem kleinen Schläfchen am späten Vormittag und wenigen Gängen durch die lärmenden Straßen seiner Stadt. Nicht mehr, nicht weniger. Der Ort: San Francisco. Die Zeit: vermutlich die unmittelbare Nachkriegszeit des Zweiten Weltkriegs. Eine solche Verknappung, die Schrumpfung der messbaren kalendarischen Zeit auf einige Sekunden, auf einen Tag, ein Wochenende bei gleichzeitiger Dehnung der erlebten, der erinnerten Zeit ist nichts Neues.

Auch John Williams, dessen erzählerisches Debüt jetzt als deutsche Erstausgabe bei dtv erscheint, kennt seine Klassiker, heißen sie nun Edgar Allan Poe oder Ambrose Bierce, Marcel Proust, James Joyce oder Virginia Woolf, und mitunter paraphrasiert er sie sogar, wie etwa Poes Man of the Crowd. Er jongliert zudem mit allseits bekannten Vokabeln, der „verlorenen Zeit“ zum Beispiel, dennoch wird sein Buch nicht zu einem postmodernen literarischen Vexierspiel, im Gegenteil: Williams macht es zu einem existentialistischen Drama, einem Film noir in Worten, einer Hadesfahrt in die Finsternis der verlorenen Zeit, dorthin, wo nicht immer nur sonnendurchtränkte Zauberlandschaften warten, sondern mitunter die nicht exorzierten Dämonen der Kindheit und Jugend.

Arthur Maxley ist jung und weiß mit seinem Leben wenig anzufangen. Er arbeitet nicht, kann sich zu einem Studium nicht durchringen, liest kaum, trifft sich ab und an mit Bekannten (wirkliche Freunde scheint er nicht zu haben) und geht auf Partys, auf denen er allerdings meist allein herumsteht und die anderen Gäste beobachtet. Er lässt sich treiben, leidet an seinen Mitmenschen, denen er misstrauisch begegnet, an der Lärmkulisse seiner Stadt, an sich selbst – und er trinkt, wie übrigens nicht wenige Protagonisten der amerikanischen Literatur des 20. Jahrhunderts, am exzessivsten etwa Don Birnam in Charles R. Jacksons grandiosem Alkoholiker-Drama Lost Weekend aus dem Jahr 1944, das von Billy Wilder verfilmt wurde. Aber auch F. Scott Fitzgerald, Richard Yates oder Raymond Carver lassen grüßen. Der Alkohol ist offensichtlich ein verführerischer Freund der amerikanischen Mittelklasse, den überdies einige der Autoren nur zu gern einluden. Womöglich ist er der große Schatten, den der American Dream wirft, der wohl nicht nur ein Glücksversprechen, sondern augenscheinlich auch einen großen, vielleicht zu großen sozialen Druck birgt.

Bei John Williams’ bleichem, kränklichem Helden mit seinen zarten Händen ist es indes ein individuelles Kindheitstrauma, das er mit Alkohol betäubt und das sich erst im Laufe der Erzählung Bild um Bild aus dem Nebel der Erinnerung schält. Ein Telefonat und ein Treffen mit dem Vater, der sich auf Kurzbesuch in derselben Stadt aufhält, sowie andere Schlüsselreize, das verzerrte Gesicht einer Tänzerin etwa, durchbrechen die Schutzinstinkte der Seele und zerren die Szenen der verlorenen Zeit in das Bewusstsein. Was schließlich in eine Gewalttat mündet, die eruptiv hervorbricht und das Leben zweier Menschen dauerhaft überschatten wird.

John Williams schrieb sein literarisches Debüt mit Anfang 20. Er hatte sich 1941 zur U.S. Air Force gemeldet und ließ sich 1942 als Funker nach Indien versetzen, wo er dann bei einem Aufklärungsflug über dem Dschungel von Burma abgeschossen wurde. Nur er und der Pilot überlebten den Absturz. In der Zeit der Rekonvaleszenz beginnt er die Arbeit an seiner Erzählung, die übrigens im amerikanischen Original ohne Gattungsbezeichnung bleibt. Die Erfahrungen der Todesnähe und des Verlusts prägen die Geschichte, die er schreibt, nachhaltig und bestimmen ihren Ton.

Williams’ Antiheld leidet unter einem grausamen Erlebnis in der Vergangenheit, das sein Bewusstsein trübt und das er selbst nicht einmal zu benennen weiß, das er verdrängt. Er torkelt durch sein Leben wie ein Blinder und sein von Verzweiflung und Hoffnung geleiteter Versuch, Nähe zu anderen Menschen herzustellen, scheitert tragisch. Arthur Maxley ist keiner, der handelt, er wird getrieben. Es heißt von ihm: „Irgendeine unsagbare Kraft drängte ihn von einem Ort zum andern, und dies auf Wegen, die er vielleicht gar nicht nehmen wollte, durch Türen, von denen er nicht wusste, wohin sie führten, und es auch nicht wissen wollte. Alles war dunkel, namenlos, und er ging durch diese Dunkelheit.“

Mit seiner Mischung aus Gehetztheit und Lebensekel, Überdruss und Überheblichkeit, Verletzlichkeit und Rohheit, mit seinen Erfahrungen von Absurdität und Angst, Verlassenheit und Verzweiflung hat die Figur Arthur Maxleys (und damit auch seine Geschichte) Teil an einer der großen intellektuellen und ästhetischen Protestbewegungen der Jahrhundertmitte. Ob der Autor das nun wusste oder wollte, sei dahingestellt. Gemeint ist der Existentialismus, dessen literarische Grenzen am deutlichsten durch Jean-Paul Sartres Ekel (1938) sowie Albert Camus’ drei Romane Der Fremde (1942), Die Pest (1947) und Der Fall (1956) umrissen sind und dessen philosophische Fundamente aus Werken wie Das Sein und das Nichts (1943) und Der Mythos von Sisyphos (1942) bestehen.

Man könnte sagen, die Existentialisten protestieren gegen eine schleichende Entwertung der elementaren, immer präsenten Lebensfragen nach Geburt und Tod, Einsamkeit und Gemeinschaft, Eigentlichkeit und Entfremdung, Schuld und Leid. Es ist ein Protest gegen das, was Hans Sedlmayr in einem der einflussreichsten kulturkritischen Texte der Nachkriegszeit den „Verlust der Mitte“ (1948) genannt hat, nämlich die Aushöhlung organischer, gewachsener Lebensentwürfe zugunsten von Institutionen und Bürokratien, die das Verhalten, die Formen und Denkmuster, ja selbst unsere Empfindungsweisen normieren und standardisieren möchten. Ein Aufstand also des Individuums gegen die mechanisierte und institutionalisierte Uniformierung.

Auch Arthur Maxley ist einer, der provoziert, der sich abseits hält, den die genormte Fassadenhaftigkeit seiner Gegenwart empört, weil sie unaufrichtig ist und die Verschattungen der Seele nur intensiviert. Wenn man diese Teilhabe von John Williams’ Text an der großen zeitgenössischen europäischen Bewegung im Blick hat, wird man auch seinen noch jugendlichen, ungestümen Ton, seine zum Teil gezierten und gesuchten Metaphern, die Lust an gewundenen Satzgebilden, seine rhetorische Opulenz, die deutlich im Gegensatz zur lakonischen, präzisen Schlichtheit seiner späteren Bücher steht, richtig einzuordnen wissen: als Ausdruck von Sprachlust und Distinktionsbedürfnis. Der Banalität der funktionalisierten Alltagssprache wird eine ‚gehobene‘ und erlesene Metaphorik entgegengestellt.

Mitunter gelingen dabei bereits Sprachbilder, die beeindrucken, wie etwa der Blick in Augen, die zu „Seen aus flüssigem Schmerz“ werden. Mitunter aber auch nicht. Wenn zum Beispiel Taxis wie Projektile „aus düsterem Gewehrlauf“ durch die Nacht schießen oder Fluttore aus Leidenschaft bersten, dann ist das ziemlich weit hergeholt beziehungsweise eher banal.

Der Autor selbst hat sein Debüt, das nach einigen Schwierigkeiten schließlich 1948 erschien, später nicht mehr besonders geschätzt, er hat sich davon distanziert. Auch die Kritik hat das Buch nicht gemocht, so nennt es etwa der Rezensent der Süddeutschen Zeitung in seiner Besprechung des Romans Augustus etwas abschätzig ein „Probestück“, und in einem Porträt-Essay über den Autor wird es als „murky psychological study of a troubled young dandy“ bezeichnet. Zeitgenössische Verleger, denen Williams das Buch anbot, waren wenig begeistert davon und bezeichneten den Text als „rather drary“ und „somewhat overdone“, sie nannten ihn „an overblown, overwritten short story“. Vielleicht sind wir heute, im Blick auf die beiden folgenden, 12 und 17 Jahre später entstandenen Meisterwerke Butcher’s Crossing und Stoner etwas gnädiger. Es ist der Erstling eines jungen Mannes, es ist das Werk eines 20jährigen. Selbst Georg Büchners Danton’s Tod merkt man das rhetorische Trommeln des Debütanten noch an.

Und warum sollte man gegenüber der etwas forcierten und psychologisch nicht immer plausiblen, recht erfundenen Konstruktion des Plots nicht gnädig sein und stattdessen die Verve, mit der die Geschichte erzählt ist, die geradezu surreal gedehnte, überwirkliche Atmosphäre der Handlung und der Beschreibungen hervorheben – etwa wenn den Protagonisten ein gelbes Eidotter wie ein bedrohlicher Augapfel anstarrt –, warum sollte man nicht die tranceartige und zugleich detailversessene Wahrnehmungswelt schätzen, die uns voller Faszination in die Nacht einer Seele zieht und dabei eine immense Sogkraft entwickelt? Williams’ Erzählung vermittelt darin etwas von jenem Fieber, das der junge Autor womöglich im Blut hatte, als er die Anfänge seiner Geschichte im Dschungel Burmas niederschrieb. Er hatte wohl die Hoffnung, dass sein Schreiben den Schmerz des realen Grauens ausbrennt und ihn sublimiert in Literatur. Das ist geschehen. Ziemlich beeindruckend noch dazu.

Titelbild

John Williams: Nichts als die Nacht. Novelle.
Mit einem Nachwort von Simon Strauß.
Übersetzt aus dem amerikanischen Englisch von Bernhard Robben.
dtv Verlag, München 2017.
157 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783423281294

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