Es geht um mehr als um Kidnapping

Zum vierten Mal macht sich Charles Boxer in Robert Wilsons Roman „Wer Lügen sät“ auf die Suche nach entführten Menschen

Von Dietmar JacobsenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dietmar Jacobsen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Mit Charles Boxer hat der in Portugal lebende englische Thrillerautor Robert Wilson (geb. 1957) nach dem in Westafrika ermittelnden Privatdetektiv Bruce Medway und dem in Sevilla tätigen Chefinspektor Javier Falcon 2013 seine dritte Serienfigur erfunden. Boxer lebt in London, sein Tätigkeitsgebiet als Berater in Entführungsfällen aber ist die halbe Welt. In Wer Lügen sät begibt er sich zum vierten Mal auf die gefährliche Suche nach einer gekidnappten Person. Und wie in den drei Romanen zuvor gerät er alsbald in ein Minenfeld aus internationaler Politik, Wirtschaftsverbrechen und Korruption, in dem jeder falsche Schritt sein letzter sein könnte.

Sabrina Melo heißt das Opfer diesmal. Tochter eines superreichen brasilianischen Bankdirektors, lebte die junge Frau ihre gesamte Kindheit lang in einem goldenen Käfig. Bewacht von Bodyguards, zuhause hinter hohen, mit Stacheldraht bewehrten Mauern, blieb keiner ihrer Wünsche unerfüllt – außer dem nach Freiheit. Das änderte sich, als sie ihr Studium an der Universität São Paulo begann. Neue Freunde, eine eigene Wohnung, sogar eine Vespa – geheim gehalten vor ihrem besorgten Vater –, auf der sie unentdeckt in der Millionenstadt unterwegs sein konnte, markierten nach außen hin ihre lang ersehnte Freiheit. Doch der Traum endet abrupt, als sie auf offener Straße zum Opfer einer dreisten Entführung wird.

Als Boxer in São Paulo eintrifft – Iago Melo, Sabrinas Vater, hat ausdrücklich darauf bestanden, den Londoner Kidnapping-Consultant in die Lösung des Falles mit einzubeziehen – merkt er ziemlich bald, dass sein Auftraggeber ein eigenes Spiel spielt. Aber er ist fest entschlossen, Sabrina so schnell wie möglich aus den Händen ihrer Entführer zu befreien, haben die der jungen Frau doch bereits ein Ohr abgeschnitten und an den Vater geschickt, um den Druck auf den Milliardär zu erhöhen. Der scheint freilich mehr über die Hintergründe der Entführung seiner Tochter zu wissen, als er bereit ist zuzugeben. Vor allem steht Sabrinas Verschwinden wohl in Verbindung zu der kurz zuvor erfolgten Entführung eines Mannes, der einst für Melo arbeitete und Dinge über ihn zu wissen scheint, die den Ruf des Senators und Bankiers in der Öffentlichkeit ruinieren könnten.

Zusätzlich nähren die Umstände, unter denen Charles Boxer in den Fall einbezogen wurde, in ihm den Verdacht, dass einer der Hintermänner des Verbrechens erneut der Ex-CIA-Mann Conrad Jensen sein könnte, der inzwischen auf eigene Rechnung arbeitet und eine ultrakonservative Gruppierung von Verschwörern innerhalb des US-Geheimdienstes enttarnen will. Boxer hat sich mit Jensen bereits in seinem letzten Fall – Die Stunde der Entführer (2015) – auseinandergesetzt und er vermutet seitdem, dass es sich bei dem Mann um seinen vor langer Zeit verschwundenen Vater handeln könnte.

Linke Gruppierungen, die im Weltmeisterschaftsjahr 2014 den Umsturz der Verhältnisse planen, rivalisierende Banden, die sich die Herrschaft in den Armutsvierteln der Millionenstadt in blutigen und opferreichen Kämpfen streitig machen, in- und ausländische Geheimdienste mit ihren differierenden Interessen, ein diabolischer Politiker, der bereit ist, das Leben der eigenen Tochter seinem Machterhalt zu opfern, und eine 19-jährige Studentin, die zum Spielball all dieser Parteien wird und fast mit ihrem Leben bezahlt – Robert Wilson hat auch in seinem vierten Boxer-Roman wieder eine solche Menge an Konflikten aufgefahren, dass die Gefahr, gelegentlich die Übersicht über all die handelnden Personen mit ihren unterschiedlichen Plänen zu verlieren, durchaus besteht. Für Action freilich ist gesorgt: Ob sich sein Held, die entführte Sabrino Melo immer im Schlepptau, durch eine Favela kämpft, in der sich gerade zwei Verbrechersyndikate waffenstarrend an die Gurgel gehen, oder das Mädchen, nachdem er es aus der Gewalt der einen befreit hat, davor schützt, von ihrem skrupellosen Vater auf andere Art und Weise wieder eingekerkert zu werden, indem er es mit nach England nimmt – immer geht es hart auf hart, fliegen die Fetzen und das Blei, riskiert Boxer sein eigenes Leben und das seiner Verbündeten.

Am Ende schließlich löst sich für Wilsons Helden auch das Rätsel, mit dem er seit seiner Kindheit beschäftigt ist – auf eine auch für den Leser höchst überraschende Weise. Und er darf Rache nehmen an allen, die ihn in einen Konflikt getrieben haben, der ihm nahezu Übermenschliches abverlangt hat. Dass auch in diesem Roman noch einige Fragen offen bleiben, spricht dafür, dass sein Erfinder die Geschichte des Charles Boxer noch lange nicht zu Ende erzählt hat. Auf den fünften Band darf man deshalb schon jetzt gespannt sein.

Titelbild

Robert Wilson: Wer Lügen sät. Thriller.
Übersetzt aus dem Englischen von Kristian Lutze.
Goldmann Verlag, München 2017.
447 Seiten, 15,00 EUR.
ISBN-13: 9783442314539

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