Die Rechtschreibung ist tot – lang lebe die Sprache!

Stefan Winterstein ist der Orthographie auf der Spur

Von Miriam StriederRSS-Newsfeed neuer Artikel von Miriam Strieder

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Bekanntlich ist die (deutsche) Rechtschreibung ein weites Feld. Unkenrufe wie „happy aua!“ sind durch Bastian Sicks Bestseller Der Dativ ist dem Genitiv sein Tod (2004) populär geworden, haben das Bewusstsein für Sprache und Rechtschreibung geschärft, aber auch einem gewissen Bildungspessimismus auf die Sprünge geholfen, der die alte Leier des „Früher war alles besser“ in das fröhliche Gewand der Anekdoten kleidet. Dass Sprache sich wandelt, ist inzwischen ein alter Hut, aber darüber lässt sich längst nicht so gut lachen und damit lassen sich nicht so viele Bücher verkaufen.

Stefan Winterstein hat nun der deutschen Rechtschreibung einen Essay gewidmet – mit Loriotʼscher Anlehnung bereits im Titel: Früher war mehr Rechtschreibung. Der Text gliedert sich in drei Teile. Im ersten denkt der Autor darüber nach, was Rechtschreibung eigentlich ist und ob sie nicht vielleicht doch tot ist (A). Den Sprachbenutzern, also uns allen, widmet er den Mittelteil (B) und zuletzt stellt er den Beruf des Lektors vor (C).

Von der These ausgehend, dass die Rechtschreibung, wie Gott, tot ist, macht sich Winterstein detektivisch auf die Suche nach den Hauptverdächtigen in diesem Mordfall: die Medien, die Didaktik und natürlich die Rechtschreibreform, seit 1996 quasi im konstanten Werden, stehen ganz oben auf seiner Liste der Verdächtigen. Zugleich zeigt er aber auch auf, dass eine verbindliche Schreibung besonders für die Leser das Leben einfacher macht. Nur wie man diese Schreibung erlernen soll, darauf weiß Winterstein keine Antwort.

Dass die unsägliche Rechtschreibreform eine große Rolle in Wintersteins Essay spielt, versteht sich fast von selbst. Als Lektor hat er als einer der Hauptbetroffenen die Folgen auszubaden und auch seine Leser werden vermutlich von ganzem Herzen zustimmen, wenn er feststellt, dass man die Orthographie am besten in Ruhe gelassen hätte. Aber auch didaktische Maßnahmen wie „Schreiben, was man hört“ nimmt er zu Recht auseinander und zeigt deren kuriose Gründe und Folgen auf.

Die große Medienschelte bleibt zum Teil aus – hier nimmt Winterstein eher eine resignative Haltung ein: So leben wir eben. Als professioneller Liebhaber der Sprache bemerkt er sehr wohl, dass die Loslösung von Normen kreativen Umgang mit Sprache fördern kann, aber wenn man Postings im Internet eher dechiffriert als liest, ist es mit der Kreativität offensichtlich übertrieben worden.

Immer wieder zeigt Winterstein auf, woher die Rechtschreibung kam und welche Grundsätze zum Beispiel Konrad Duden verfolgte und wirft in diesem ersten Teil einen Blick auf die Nachbarsprachen Französisch und Englisch.

Im zweiten Teil stellt Winterstein fest, dass ein Großteil der Deutschsprachigen durchaus unsympathische Besserwisser sind – besonders wenn sie mit Verweis auf Rechtschreib-, Zeichensetzungs- und Grammatikfehlern unliebsame Argumente einfach vom Tisch wischen können. Dass die (Amateur-)Schreiber die Sprache mit Trottelleerzeichen, Deppenapostroph und Binnenmajuskel verhunzen und auch Rechtschreibprogramme und Autokorrektur ihren Anteil an schmerzhaften Auswüchsen im Schriftbild haben, zeigt Winterstein an etlichen Beispielen.

Der dritte Teil erscheint als derjenige, der am ehesten aus der Seele des Verfassers spricht. Winterstein stellt vor, wie ein guter Lektor zu sein und zu arbeiten habe, welche Fähigkeiten er mitbringen sollte für dieses goldene Handwerk und betont, dass es ein Lektor natürlich nicht leicht hat – Recht hat er!

Insgesamt hinterlässt das Bändchen einen uneinheitlichen Gesamteindruck, weil nicht recht deutlich wird, was der Autor eigentlich damit bezwecken will. So ist der Essay ganz im Sinne seiner Ursprungsbedeutung denn auch vieles: ein Lob der alten Rechtschreibung und des Lektors, eine Schelte der Didaktik, des Genderns, der neuen Rechtschreibung ohnehin, eine Sammlung von anekdotenhaften Stilblüten, Vertippern, Fehlern, Kuriositäten und Zweideutigkeiten, ein zivilisierter und leiser Aufschrei, wenn der Sprache Gewalt oder Political Correctness angetan wird. Er ist keine Liebeserklärung an die Sprache, ihre Möglichkeiten, Biegsamkeit, Widerborstigkeit, ihre wundervolle Starrköpfigkeit und überraschende Nachgiebigkeit.

Der Leser verliert in der Paragrapheneinteilung der Abschnitte (A19, B25, C3) bald die Lust, einen roten Faden zu suchen, besonders weil der Humor manchmal fehlt und die Abschnitte von emphatisch-resignierter Kürze sind, in denen der Vorwurf deutlich zu sehen ist. So ist man versucht, ständig den Kopf einzuziehen und das Gewissen zu prüfen: Habe ich schon einmal „Eißbergsalat“ verzapft?

Zu empfehlen ist der Essay für eigentlich ganz liebenswerte Pedanten, die man gerne zum Korrekturlesen heranzieht, für Deutschlehrer mit grimmigem Zug um den Mund und Lachfalten um die Augen, für den Teil der Bevölkerung, der Seminararbeiten am Fließband fabriziert und zu nachtschlafender Stunde auf der Suche nach einem Synonym für Autor ist, sowie für all jene, die dem Spruch „Früher war alles besser“ manchmal heimlich, still und leise, manchmal laut und deutlich zustimmen.

Titelbild

Stefan Winterstein: Früher war mehr Rechtschreibung. Essay.
Limbus Verlag, Innsbruck 2016.
151 Seiten, 15,00 EUR.
ISBN-13: 9783990390924

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