Machen Tiere eigentlich auch irgendetwas? Natürlich!

Ein Sammelband thematisiert einen unabdingbaren sozialhistorischen Fokus der Human-Animal Studies

Von Dafni TokasRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dafni Tokas

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Um dem vom Historiker Jason Hribal kritisierten Manko der Human-Animal Studies, das Handeln der Tiere zwar theoretisch zu beleuchten, aber dessen historische sowie soziale Wirkmächtigkeit nicht auch praktisch in einen neu gearteten Diskurs einzubetten, endlich entgegenzuwirken, ist im Jahr 2016 ein Sammelband erschienen: Das Handeln der Tiere. Tierliche Agency im Fokus der Human-Animal Studies. Dieser untersucht das Konzept der Agency, das noch vor wenigen Jahren eine Leerstelle in den Human-Animal Studies einnahm. Schon in der Einleitung wird deutlich, dass diese Zusammenstellung unterschiedlich fokussierter Aufsätze ein Muss für alle wissenschaftlich Interessierten ist – in jeder Hinsicht auf dem neusten Stand, mit Online- und Literaturtipps versehen, darauf bedacht, das auch zu bleiben, und mit einem weiten Blick über verschiedene Forschungsfelder und Theorien, ermöglicht der Band trotz seiner Tiefe auch Neulingen auf dem Gebiet einen unkomplizierten Einstieg in die Thematik.

Das klingt zunächst genauso theoretisch und angestaubt wie alles, was bereits davor erschienen ist und sich selbst immer nur wiederholt hat. Der Band ist allerdings ein Projekt des Chimaira-Arbeitskreises für Human-Animal Studies, der einen Schaltkreis im Bereich der Human-Animal Studies bildet, junge Forscher und Forscherinnen vernetzt, selbst publiziert und das Forschungsfeld auf dem aktuellsten Stand fördert. Das Konzept „tierliche Agency“ wird aus sozialgeschichtlicher und postanthropozentrischer Perspektive untersucht, indem verschiedene transdisziplinäre Konzeptualisierungen von Tierlicher Agency vorgestellt werden. Aktuellste Denker wie etwa Marc Bekoff, Jessica Pierce, Mark Rowlands und Donna Haraway stehen auf dem Prüfstein, daneben werden Leiblichkeitskonzepte auf ihre Brauchbarkeit für die Agency-Debatte untersucht. In einem zweiten Teil finden sich konkrete und zahlreiche Beispiele einzelner nichtmenschlicher Tiere, beispielsweise werden Hunde in den Blick genommen, oder auch Kühe, die aus einem Schlachthof ausbrechen. Diese Beispiele regen zu Fragen über die Definition des handelnden Tieres an: Ist es ein handelndes Individuum, kooperiert es, leistet es Widerstand, ist es Natur- oder Kulturwesen oder vielleicht gar nichts mehr davon? Besonders hervorzuheben ist, dass erstmals Ansätze wie die Akteur-Netzwerk-Theorie oder der New Materialism auf die tierliche Agency hin überprüft werden. Marginalisiert man in der öffentlichen Wahrnehmung Tiere häufig als Produkte, Kuscheltiere oder allgemein als unbelebte Bezugsobjekte – die erst, wie etwa in Animationsfilmen, anthropomorphisiert werden müssen, um als Handelnde ernst genommen zu werden –, so arbeitet der Band an einem neuen Verständnis des tierlichen Handelns: Dazu müssen Abstecher in Bewusstseinsphilosophie und Ontologie des Körpers gemacht werden. Letzteres geschieht ausführlich, doch leider spart der Band an vielen Stellen, da er es als Prämisse bereits voraussetzt, an einer Argumentation für tierliches Bewusstsein. So sehr man sich für die Bedeutung tierlicher Agency aussprechen kann, muss man Gegnern des Konzepts leider immer noch erklären, warum auch Tiere ein Bewusstsein haben und handeln können und weshalb so sicher darauf geschlossen werden kann. Der Sammelband indes beschränkt sich im Großen und Ganzen auf den körperlichen Aspekt und klammert weitestgehend die Debatten der Bewusstseinsphilosophie aus, obwohl diese seinem Anliegen durchaus dienlich sein könnten. So etwa wird das agent-patient-Konzept hinterfragt, was ja nur auf der Grundlage zu Überlegungen des menschlichen und tierlichen Bewusstseins überhaupt geschehen kann. Denn das beliebteste – und zugleich schwächste – Argument der Gegner ist die Behauptung, Tiere hätten keinen „Geist“ und kein Verständnis der zielgerichteten Handlungen ihres jeweiligen Gegenübers. Es scheint, als sei hier immer noch eine Brücke in der Diskussion zu überwinden, die auch der vorliegende Band nicht schließen kann, da er dort ansetzt, wo schon längst klar ist, dass Tiere ein Bewusstsein und ein Wissen über das Bewusstsein anderer Lebewesen besitzen.

Dieses Manko ist allerdings verzeihlich, wenn man bedenkt, wie viele neue Anreize geliefert werden, wie exakt die Thesen recherchiert und auf den neusten Stand gebracht wurden und wie organisch sich die Einzelbeiträge untereinander ergänzen. Zeichnen sich die Texte des ersten Blocks durch ihren einführenden und zugleich prüfend-kritischen Charakter aus, so wird im zweiten die Theorie in Bezug auf tatsächliche Beispiele angewandt. Der letzte Beitrag im ganzen Band ist sogar für Menschen, die sich mit dem Thema auskennen, der wahrscheinlich kurioseste: Jedes Tier ist eine Künstlerin heißt der Aufsatz und plädiert deutlich für den Einbezug tierischen Gestaltens in die Kunstgeschichte und in ästhetische Überlegungen überhaupt. Das wirkt absurd, hat aber durchaus seinen Sinn: Hier endlich liegt vielleicht die Krux des ganzen Missverständnisses, das Menschen davon abhält, sich auch als Tier zu verstehen und ihre vermeintlich besonders ausgefeilten intellektuellen Fähigkeiten für „unnatürlich“ zu halten – denn schon in der Natur eines jeden Tiers ist ein gewisser gestalterischer Wille vorhanden; die ganze Erde ist gleichsam durchdrungen von den weltbildenden, mithin ästhetisch wahrnehmbaren Handlungen (!) aller Lebewesen. Vielleicht ist es vor allem das, was man aus dem Band mitnehmen sollte. Auch ein selbstkritischer Blick, der in die Zukunft schaut, bleibt nicht aus – der Sammelband versteht sich als Schnittstelle verschiedener Bereiche und setzt sich für die nicht nur theoretische, sondern auch angewandte Einbindung tierlichen Handelns in die Theorien der Human-Animal Studies ein, sieht sich dabei jedoch nicht nur als Antwort-Geber, sondern als Setzer neuer Impulse, die Forscher zu einem Weiterdenken und zu zukünftigen Arbeiten geradezu auffordern.

Titelbild

Karsten Balgar / Leonie Bossert / Katharina Dornenzweig / Markus Kurth / Anett Laue / Sven Wirth (Hg.): Das Handeln der Tiere. Tierliche Agency im Fokus der Human-Animal Studies.
Transcript Verlag, Bielefeld 2016.
269 Seiten, 29,99 EUR.
ISBN-13: 9783837632262

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