Karl Marx

Letzte Reise und Jugend eines deutschen Revolutionärs

Von Uwe WittstockRSS-Newsfeed neuer Artikel von Uwe Wittstock

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Vorbemerkung der Redaktion: Aus Uwe Wittstocks im März 2018 erschienenem Buch „Karl Marx beim Barbier. Leben und letzte Reise eines deutschen Revolutionärs“ veröffentlichen wir das erste Kapitel über die Ankunft des kranken Karl Marx in Algier auf der letzten Reise vor seinem Tod sowie Teile des zweiten Kapitels über seine Jugend und über Personen, die ihn geprägt haben. Dem Autor und dem Karl Blessing Verlag danken wir für die freundliche Genehmigung.

Acht Kapitel des Buches erzählen romanähnlich aus der Perspektive von Karl Marx über seine zehn Wochen in Algier. In ihnen blickt er immer wieder auf sein eigenes Leben zurück, aber im Zentrum des Erzählten steht ein symbolischer Akt: Bei einem Barbier lässt sich Marx seinen Bart entfernen und seine langen Haare kürzen. Diesen Kapiteln folgen jeweils biographische über das Leben und Werk des vor 200 Jahren geborenen Schriftstellers, Revolutionärs – und privaten Menschen. T.A.

Algier I: Kalte Stadt

Als das Dröhnen der Maschine nachließ, atmete er auf. Aber die Dunkelheit blieb undurchdringlich. Es war kalt in der Kabine, von der Wärme Afrikas war nichts zu spüren. Wie schon in der Nacht zuvor hatte er kaum geschlafen, der Lärm aus dem Kesselraum war diabolisch, dazu der Wind, der Seegang und immer wieder sein störrischer Husten. Einen Schlaf, der dieses Wort verdiente, hatte er zum letzten Mal vor vier Tagen finden können, bevor er den Zug nach Marseille bestieg.

Er blieb in seiner Koje liegen, er wollte erst an Deck, wenn es hell wurde. Das Rumoren auf der Said, die Geräusche aus dem Laderaum, die Schritte, die Rufe drangen nur gedämpft zu ihm. Das Schiff wiegte sich kaum merklich, es war halb vier Uhr morgens. Aber er würde jetzt nicht mehr einschlafen. Die Gedanken an seine Frau und der Husten ließen ihn nicht los. Er konnte nur warten.

Als sich das erste graue Tageslicht hinter seiner Luke zeigte, stand er auf, zog sich an, wählte, verfroren, wie er war, die Kleider, die er auch in England getragen hatte, samt seinem Rhinozerosüberrock, den er gekauft hatte, um sich gegen den nassen Londoner Winter zu schützen. Sobald er vor die Kabinentür trat, drängten Männer laut rufend auf ihn zu, die vom Festland an Bord gekommen waren und sich in schwer verständlichem Französisch als Träger für sein Handgepäck anpriesen. Manche waren arabisch gekleidet, andere europäisch, aber die Armut war ihnen allen anzusehen. Nachdem er sich für einen der Helfer entschieden hatte, wandten sich die übrigen wortlos ab, um nach anderen Passagieren Ausschau zu halten, die ihre Dienste benötigen könnten.

Er hob den Blick und sah jenseits der Reling das Häusermeer Algiers die steile Küste hinaufsteigen. Schon der Uferboulevard, das Prunkstück der Stadt, an dem sich die Renommierbauten reihten, lag erheblich höher als der Strand und war vom Hafen aus nur über Treppen oder eine lange Rampe zu erreichen. Das Häusergewirr dahinter dämmerte noch unter einem feinen Dunstschleier. Keine Kuppeln oder Türme waren auszumachen, nur verschachtelte, kreideweiße Kästen schoben sich ineinander wie ein Haufen Bauklötze, alle flach, nirgends ein Spitzdach, meist auch ohne Fenster, nur mit vergitterten Löchern in den Mauern. Im diesigen Morgenlicht wirkte der obere Teil der Stadt wie ein Kalkfelsen, wie ein riesiger, von wenig Palmengrün belebter Steinbruch. Algier, die weiße Stadt. Darüber breitete sich der Schattenriss eines mächtigen Höhenzugs aus. Auf den höchsten Gipfeln waren schmutzig weiße Flecken zu sehen, dort schien Schnee zu liegen.

Im Durcheinander auf Deck entdeckte er Lieutenant Macé, den Kommandanten der Said, der Frau und Kind mit an Bord hatte. Während der Überfahrt waren sie miteinander ins Gespräch gekommen, er mochte den Kapitän, also ging er auf ihn zu, um sich mit ein paar Worten zu verabschieden. Danach folgte er seinem Träger zum Fallreep. Der Tiefgang der Said war zu groß, als dass sie direkt am Kai hätte anlegen können. Barken mit Ruderern umschwärmten das Schiff, übernahmen Ladung, Gepäck oder Fahrgäste und setzten sie ans Ufer über.

Die Schiffstreppe war steil und feucht. Er griff zu dem Tau, das an der Bordwand hinablief. Von unten sah ihm der Ruderer entgegen, vor ihm tänzelte der Mann mit seinen Taschen hinunter, verstaute sie rasch in dem schwankenden Kahn, fasste dann nach seiner Hand und gab ihm Halt, als der heikle Schritt von der letzten Stufe ins Boot fällig wurde. Im Grunde war der Aufwand lächerlich, die beiden Männer brauchten nur ein paar Dutzend Ruderschläge, schon konnten sie vor dem Zollhaus festmachen, Taschen und Gast an Land setzen und die verdienten Münzen in Empfang nehmen.

Wieder drängten rufende und gestikulierende Männer auf ihn zu, die sich anboten, ihm beim Zoll behilflich zu sein und sein Gepäck die Treppen hinauf zur Promenade und in die Stadt zu bringen, zu seinem Hotel. Aber zu welchem Hotel?

Darüber hatte er sich wenig Gedanken gemacht. Er hatte auf andere Weise vorgesorgt, besser: vorsorgen lassen. Inmitten des Gewühls am Kai sprach ihn ein Franzose an und stellte sich vor, Marie Léopold Albert Fermé. Der Mann war nicht mehr jung, gut vierzig Jahre alt, und hieß ihn mit Respekt und ein wenig Scheu willkommen.

Fermé kümmerte sich um alles Weitere. Er wählte einen der Gepäckträger aus, nannte ihm den Namen eines Hotels und ermahnte ihn, nicht nur die Taschen des Gastes dorthin zu bringen, sondern später auch dessen Koffer, sobald der an Land gebracht worden sei. Dann nickte er den Zöllnern zu, die ihn grüßten und seinen Begleiter obenhin betrachteten, es aber offenbar nicht für nötig hielten, nach dessen Papieren zu fragen. Hinter dem Zollhaus standen leichte Kutschen bereit für die Fahrt in die Stadt, aber Fermé steuerte auf die Freitreppe zu, die auf den Uferboulevard hinaufführte.

Albert Fermé war ein alter Freund seiner beiden Schwiegersöhne Charles Longuet und Paul Lafargue. Die drei hatten sich vor bald zwanzig Jahren in Paris während des Studiums kennengelernt. Sie besuchten zwar unterschiedliche Universitäten, hatten aber ein gemeinsames politisches Ziel: die Diktatur von Kaiser Napoleon III. zu beenden. Mit Artikeln, Pamphleten und der Organisation eines republikanischen Kongresses machten sie sich unter den Oppositionellen des Landes schnell einen Namen. Doch der Preis dafür war hoch. Longuet und Fermé wurden verhaftet und saßen monatelang im Gefängnis, Lafargue musste die Universität verlassen und nach England ausweichen, um sein Studium zu beenden. Longuet folgte ihm später, und Fermé blieb nichts anderes übrig, als sich mit Tausenden von Zwangsdeportierten, die Napoleon III. in die Kolonie nach Algerien schickte, von Frankreich zu verabschieden. Er hatte Jura studiert, in Paris mit dreiundzwanzig schon eine Anstellung als Rechtsanwalt gefunden und Karrierepläne gemacht. Nun durfte er froh sein, wenn ihm die Justizbehörden trotz seiner erwiesenen politischen Unzuverlässigkeit die Chance gaben, in algerischen Provinznestern als Friedensrichter noch einmal anzufangen und nach Jahren der Bewährung ans Appellationsgericht in Algier zu wechseln.

Longuet hatte an Fermé geschrieben und dem alten Freund die Reise seines Schwiegervaters angekündigt. Der Brief war erst am Tag vor der Ankunft der Said eingetroffen. Doch ein Problem sei das nicht, versicherte Fermé. Er könne es sich mit seinen Terminen bequem einrichten. Die Ämter hätten hier, fern des Mutterlands, ein entspanntes Verhältnis zu ihren Pflichten. Die Mentalität des Südens.

Fermé schien es tatsächlich in keiner Weise eilig zu haben, wofür er ihm dankbar war, die Treppe machte ihm zu schaffen. Andere Passagiere und einige Träger, die erstaunlich große Lasten geschultert hatten, stiegen an ihnen vorüber. Aber Fermé zeigte keinerlei Anzeichen von Ungeduld.

Als sie den Boulevard erreichten, wandte sich Fermé erst einmal zum Hafen zurück und wies ihn auf die Aussicht hin. Gern drehte auch er sich zum Meer, froh, für einen Moment stehen bleiben und den Atem beruhigen zu können. Das Panorama war trotz des trüben Wetters beeindruckend. Algier lag in einer weit ausschwingenden Bucht, die Uferlinie bildete eine sanfte, gleichmäßige Kurve, die im Westen und Osten jeweils in einem vorspringenden Cap endete. Wer immer diese Stadt gegründet hatte, er hatte Sinn für landschaftliche Harmonie besessen.

Die Stadt war, abseits vom Hafen, noch nicht ganz erwacht. Fermé führte ihn über den leeren Boulevard und die Schienen der Pferdebahn auf einen der Renommierbauten zu. Die Fassaden erinnerten an die Häuserfronten entlang der neu errichteten Pariser Boulevards, die gleichen hohen Fenster, die gleichen schmiedeeisernen Balkongitter. Der Hoteleingang lag unter Arkaden und verriet den Ehrgeiz des Grand Hôtel d’Orient, zu den ersten Häusern der Stadt zu zählen. Es war in einem üppigen, leicht orientalisierten Stil eingerichtet, der Hof mit schwarzem und weißem Marmor getäfelt.

Der Pomp der Räume machte ihm umso mehr bewusst, wie zerschlagen und müde er sich fühlte. Fermé hatte für ihn reserviert. Papiere brauchte er auch hier nicht, der Concierge überreichte ihm umstandslos den Schlüssel. Er dankte Fermé und verabredete sich mit ihm für den Nachmittag. Bevor er die Treppe, schon wieder eine Treppe, zu seinem Zimmer heraufstieg, bat er den Concierge noch darum, in seinem Namen ein Telegramm auf den Weg zu bringen, an Frederick Engels, Esq. 122 Regent’s Park Road, Londres N. W. Angleterre, die Überfahrt liege hinter ihm, er sei sicher in Algier angekommen.

Wie gern hätte er ein paar Stunden geschlafen, doch sein Husten gab keine Ruhe und die letzten Erinnerungen an seine Frau auch nicht. Ihre Stimme aus dem Nebenraum, die immer schwächer wurde, die allmählich erlosch. Sie waren nur ein paar Schritte voneinander entfernt gewesen, er hätte bei ihr am Bett sitzen sollen, aber sie blieb unerreichbar für ihn.

Dazu kam seine Enttäuschung, ja sein Entsetzen über das Wetter. Seit Monaten war er krank, Dr. Donkin sprach von Rippenfellentzündung, einer Pleuresie, und hartnäckiger Bronchitis. Als Erholungswochen auf der Isle of Wight keine Sonne, sondern Sturm, Kälte, Regen gebracht hatten, war der Arzt alarmiert gewesen und hatte für den Winter auf einen ausgedehnten Erholungsaufenthalt in mildem Klima gedrängt. Aber wohin? Er war ein Staatenloser, hatte seit Jahrzehnten keinen Pass mehr, und in vielen Ländern musste er mit Schwierigkeiten rechnen. An der italienischen Riviera war vor Kurzem ein Mann mit ihm verwechselt und umgehend verhaftet worden. Frankreich jedoch stand ihm offen, die neue Regierung hatte eine Amnestie für politische Flüchtlinge erlassen, und Algier galt als idealer Kurort für Lungenkranke, die sich vor dem feuchten englischen Winter in Sicherheit bringen mussten. Also war er erst einmal nach Paris und Argenteuil zu seiner Tochter gereist, doch schon die Weiterfahrt nach Marseille wurde zur Katastrophe, die Temperaturen im Zug waren frostig, sie blieben stundenlang in irgendwelchen Bahnhöfen stehen wegen Defekten an der Lokomotive, und als er endlich weit nach Mitternacht ankam, war er bis tief ins Innere verfroren und musste noch lange im Wind auf dem Bahnsteig warten, bevor endlich sein Gepäck ausgeladen wurde. Auch in der Kabine der Said gab es keine Heizung, obwohl er eine Überfahrt Erster Klasse gebucht hatte. Das tagelange Frieren war Gift für ihn, sein Husten wurde mit jedem Tag schlimmer.

Und nun herrschte sogar in Algier Regen und Kälte. Er verfluchte die ganze närrische, schlecht überlegte Expedition. Für einen Moment spielte er mit dem Gedanken, auf dem nächsten Schiff, vielleicht gleich mit der Said, nach Europa zurückzufahren und in Menton oder Nizza sein Glück zu versuchen. Doch das hätte bedeutet, noch einmal zwei Tage auf See in einer ungeheizten Kabine zubringen zu müssen und dem Lärm der Maschine ausgeliefert zu sein. Oder vielleicht weiterreisen nach Süden? Zur Oasenstadt Biskra am Rand der Sahara? Dort war es mit Sicherheit warm und trocken, aber vor den Bahnverbindungen im Inland wurde gewarnt, die 250 Meilen konnten leicht sieben bis acht Tage in Anspruch nehmen und einer solchen Anstrengung fühlte er sich nicht mehr gewachsen. Nein, er konnte nichts anderes tun, als in Algier zu bleiben und auf bessere Witterung zu hoffen.

Doch zumindest an diesem Tag war damit wohl nicht zu rechnen, auch am Nachmittag blieb der Himmel verhangen. Fermé plauderte munter und spazierte mit ihm den Uferboulevard entlang, die lebendigste Straße der Stadt, Araber im Burnus, Europäer im Gehrock, Kutschen, Türken mit Fes, viele weiß verschleierte Frauen, dazu Soldaten in Uniform mit roten Hosen und die Pferdebahn, die auf ihren Schienen dahinrumpelte. Die Promenade erstreckte sich über zwei Kilometer und ruhte auf mehreren Hundert Rundbögen, die sich auf den Küstenfels stützten. Vor gut zwanzig Jahren hatten Napoleon III. und Kaiserin Eugénie höchstselbst in einer pompösen Feier den Grundstein gelegt. Der Bau veränderte das Bild Algiers gründlich. Es war, als hätte man dem alten Gesicht der orientalischen Piratenstadt eine moderne europäische Brille aufgesetzt.

Fermé führte ihn aus der Stadt hinaus. Er hatte für ihn eine andere Unterkunft ausfindig gemacht, billiger und ruhiger als das Hôtel d’Orient, und hoffentlich erholsamer. Sobald der Befestigungswall hinter ihnen lag, sahen sie die ersten Kakteen und wild wachsende Orangenbäume, die Früchte leuchteten unter dem Laub hervor. Sie stiegen gut eine Meile bergan nach Mustapha Supérieur, wo auch Fermé mit seiner Frau wohnte. Rechts und links der Straße lagen nur noch wenige alte arabische Häuser, dafür etliche Villen wohlhabender Franzosen, die mitunter hinter dem üppigen Grün der Gärten ganz verschwanden. Der Weg führte mit kleinen Brücken über tief eingeschnittene Gräben, die bis auf den Fels ausgewaschen waren und in denen nach Regengüssen das Wasser den Hang hinunterstürzte zum Meer.

Eines der Landhäuser war die zweistöckige Hôtel-Pension Victoria. Sie gefiel ihm sofort, und die beiden Damen, die sie führten, die Eigentümerin Madame Alisse und ihre Haushälterin Madame Rosalie, wirkten freundlich. Es gab nur eine Handvoll Gäste, und sie alle hatten, wie er, die Absicht, den ganzen Winter über zu bleiben. Für ihn war ein Zimmer im zweiten Stock vorgesehen, von dem aus er einen herrlichen Blick auf Algier und die ganze Bucht hatte. Ohne zu zögern, sagte er zu.

Ihm hätte auch die Kraft gefehlt, sich nach Alternativen umzuschauen. Nicht nur der Spaziergang, auch das Reden mit seinem Führer Fermé hatten ihn erschöpft. Als sie das Hôtel d’Orient wieder erreichten, bat er ihn um Verständnis, er sei krank, müsse sich dringend schonen und brauche vor allem eines: Ruhe. Doch Fermés Einladung zu einem Besuch bei ihm und seiner Familie für den folgenden Tag konnte er nicht abschlagen. Es wäre zu unhöflich gewesen. Also dankte er, nickte zustimmend und verabschiedete sich. Dann kehrte er zurück in sein Zimmer und zu dem nächtelangen Kampf, seinem Husten ein paar Momente Schlaf abzuringen.

Trier und die Väter

Über die vereinbarte Höflichkeitsvisite wissen wir nur wenig. Karl Marx hat Madame und Monsieur Fermé am 21. Februar 1882, am Tag nach seiner Ankunft in Algier, besucht und kurz darauf per Brief oder Postkarte seiner Tochter Jenny in Paris davon berichtet. Leider ist dieses Schreiben verloren gegangen. Doch ein indirekter Hinweis auf den Verlauf der Begegnung blieb erhalten. In einem bislang unveröffentlichten Antwortbrief an ihren Vater freut sich Jenny: “I am glad you like Fermés wife – it is most fortunate you have one family at least in the place.” Allem Anschein nach blieb es also nicht beim Austausch konventioneller Artigkeiten, sondern die Fermés und ihr Besucher waren einander sympathisch.

Die Lebenssituation des Ehepaars im französischen Algerien dürfte Marx in mancherlei Hinsicht vertraut vorgekommen sein: Richter Fermé stand als Jurist im Dienst eines Regimes, das er im Grunde ablehnte. Er sah sich konfrontiert mit einer Bevölkerung, die in Armut lebte und einer anderen Religion anhing als ihre Kolonialherren, die sie lieber heute als morgen aus dem Land gejagt hätten. Auch Marx’ Vater Heinrich war Jurist gewesen und als Rechtsanwalt ein Teil des preußischen Justizapparats, obwohl er Preußen oft skeptisch gegenüberstand. Trier, wo Marx am 5. Mai 1818 geboren wurde und aufwuchs, gehörte zu einem verzweifelt armen Landstrich und war seit Jahrhunderten zutiefst katholisch. Seine Bürger empfanden die evangelischen Preußen als Besatzungsmacht, die sie nur zu gerne wieder losgeworden wären. Ohne allzu sehr zu übertreiben, kann man – wie der Historiker Jonathan Sperber – behaupten, Preußen habe die linksrheinischen Provinzen, die ihm auf dem Wiener Kongreß 1815 zugesprochen worden waren, wie Kolonien behandelt.

Anders als Fermé hatte Heinrich Marx aber nie offen gegen seine Landesherren aufbegehrt. Er war kein Rebell, sondern ein Mann, der in den Kategorien des sozialen Aufstiegs dachte. Ihm ging es nicht darum, die Welt zu verbessern, sondern das eigene Leben und das seiner Familie. Zu politischen Fragen hatte er seine Meinung, suchte aber nie die offene Konfrontation, sondern begnügte sich im Konfliktfall mit der geballten Faust in der Tasche. Karl Marx hat ihn deshalb nicht abgelehnt oder verachtet, aber ein wenig mehr von jenem rebellischen Geist, der Fermé als Student umtrieb, hätte er seinem Vater vermutlich schon gewünscht.

Heinrich Marx war ein liberal denkender und arbeitsamer Mann. In seiner Jugend hatte er die Französische Revolution aus der Ferne beobachtet und erlebt, wie sie in sein Schicksal eingriff und ihm neue Freiheiten schenkte. Er verehrte ihre aufklärerischen Ideale, doch in seinem Bewusstsein blieb sie, wie für die meisten Zeitgenossen, untrennbar verbunden mit der Erinnerung an die Zeit des Terrors zwischen 1793 und 1794, die 30000 bis 40000 Menschen das Leben gekostet hatten, und an die royalistischen Aufstände, bei denen Hunderttausende gestorben waren. In all dem ähnelte er Ludwig von Westphalen, einem Mann, den er zu seinen Freunden zählte und der einen prägenden Einfluss auf seinen Sohn Karl nehmen sollte.

Heinrich Marx war 1777 unter dem Namen Heschel Marx Levi geboren worden. Er stammte aus einer Familie großer Rabbiner. Sein Vater Mordechai übernahm 1788 das Amt des Rabbis von Trier. Sechs Jahre später, Heinrich war gerade erst 17, besetzten französische Revolutionstruppen die Stadt und eröffneten ihm zuvor unerreichbare Lebenschancen. Denn die Nationalversammlung des revolutionären Frankreichs hatte den Juden volle Bürgerrechte zugesprochen. Mit einem Mal endete ihre jahrhundertelange Diskriminierung, alle beruflichen Beschränkungen waren aufgehoben. Heinrich Marx entschloss sich, Jura zu studieren, um Anwalt zu werden – was im alten Kurfürstentum Trier undenkbar gewesen wäre. Doch als er 1813 seine Ausbildung abschloss, marschierten preußische Truppen in Trier ein, die kurz zuvor Napoleon I. in der Völkerschlacht bei Leipzig geschlagen hatten. Und unter preußischer Herrschaft würde er als Jude, das stellten die neuen Behörden sehr bald klar, keine Chance auf eine Zulassung als Anwalt haben. Der historische Augenblick der Gleichberechtigung war für Heinrich Marx schon wieder vorüber

Da es für ihn keinen anderen Weg gab, Anwalt zu werden, beschloss Heinrich Marx, sich christlich taufen zu lassen. Dieser Schritt scheint ihm nicht schwergefallen zu sein, trotz der starken jüdischen Tradition seiner Familie. Derartige Religionswechsel waren in jenen Jahren keine Seltenheit, die deutschen Juden zeigten eine große Bereitschaft zur Assimilation. Ludwig Börne und Heinrich Heine sind zwei prominente Beispiele, auch sie waren Anhänger der Aufklärung und traten 1818 bzw. 1824 zum Christentum über. Das genaue Datum der Taufe von Heinrich Marx lässt sich nicht mehr feststellen, vermutlich war es im Jahr 1819. Seine Frau und die Kinder, darunter auch der Sohn Karl, folgten seinem Vorbild ein paar Jahre später.

Obwohl Trier zutiefst katholisch geprägt war, bekannte Heinrich Marx sich allerdings zur protestantischen Kirche, die in dieser Stadt nicht viel mehr Anhänger zählte als die jüdische Gemeinde: etwa 300. Er wählte also nicht die Konfession der überwältigenden Mehrheit seiner Mitbürger, sondern entschied sich für die der preußischen Machthaber. Das dürfte seinen sozialen Aufstieg innerhalb des neuen Herrschaftsgefüges beschleunigt haben. Preußen konnte es sich nicht leisten, wählerisch sein, die Schicht der Beamten, der Angehörigen von Verwaltung und Justiz, auf die sich der neue Staatsapparat in den linksrheinischen Provinzen stützte, war hauchdünn.

Tatsächlich stieß Heinrich Marx nach seiner Taufe im Beruf auf keine erheblichen Schwierigkeiten mehr. Er verdiente gut, wohl um die 1500 Taler jährlich. Zum Vergleich: Tagelöhner und Landarbeiter hatten damals einen Jahresverdienst von etwa 100 Talern. Falls er sich in erster Linie aus materiellen Rücksichten für die Laufbahn eines Juristen und für den Übertritt zum Protestantismus entschieden haben sollte, so ist seine Karriereplanung aufgegangen. 1831 wurde ihm von den preußischen Behörden der Ehrentitel Justizrat zugesprochen. In erstaunlich kurzer Zeit hatte sich Heinrich Marx einen Platz unter den Honoratioren der Stadt erkämpft.

Einen Teil dieses Wohlstandes verdankte er seiner Frau, die eine ansehnliche Mitgift in die Ehe einbrachte. Henriette Presburg war in den Niederlanden, in Nimwegen, aufgewachsen. Auch unter ihren Vorfahren, die aus Ungarn stammten, gab es etliche Rabbiner. Sie war bereits 26, also nach dem Verständnis ihrer Zeit keine junge Braut mehr, als sie 1814 Heinrich Marx heiratete. Manches spricht dafür, dass es sich bei der Verbindung um eine arrangierte Ehe handelte, auf jeden Fall aber war es eine fruchtbare: Zwischen 1815 und 1826, in nur knapp elf Jahren, kamen neun Kinder zur Welt. Fünf davon starben jedoch früh, schon als Kinder oder junge Erwachsene, allen Anzeichen nach an Tuberkulose.

Ludwig von Westphalen, der zweite Mann, der die Entwicklung von Karl Marx entscheidend beeinflusste, gehörte zur neuen preußischen Beamtenschaft Triers, war aber kein typischer Preuße. Er hatte in Göttingen studiert und trat 1807 in den Dienst des von Napoleon I. errichteten, kurzlebigen Königreichs Westphalen ein, das mit einer modernen Verfassung nach französischem Vorbild zum Modell für andere deutsche Staaten werden sollte. Nach Napoleons Niederlage erwies sich diese Entscheidung als nicht eben förderlich für Ludwig von Westphalens Karriere, und er musste froh sein, dass Preußen einen so hohen Bedarf an Verwaltungsfachleuten in den neu erworbenen linksrheinischen Provinzen hatte. 1815 wurde er als königlich-preußischer Regierungsrat ins arme, abgelegene Trier versetzt.

Hier lernte ihn Heinrich Marx kennen. Eine Freundschaft zwischen einem adeligen preußischen Regierungsrat und dem Spross einer jüdischen Rabbiner-Familie wäre in vorrevolutionärer Zeit ausgeschlossen gewesen. Da Heinrich Marx nun aber der kleinen protestantischen Gemeinde der Stadt angehörte, ergaben sich zwischen den Familien viele natürliche Berührungspunkte, zumal die Töchter Sophia Marx und Jenny von Westphalen gut befreundet und die Söhne Karl Marx und Edgar von Westphalen Klassenkameraden im Gymnasium waren.

Ludwig von Westphalen hatte durch seine Behörde enge Kontakte zu den Kranken- und Armenhäusern Triers, zu den Gefängnissen und der Polizei. Er kannte die Not der Stadt also auch aus beruflicher Perspektive. Nach der Machtübernahme der Preußen waren fast alle Wirtschaftsverbindungen zu Frankreich gekappt worden, der Handel kam nahezu zum Erliegen. Um 1830 galt ein Viertel der Gesamtbevölkerung als so arm, dass es aus den geringen öffentlichen Mitteln unterstützt werden musste. Parallel dazu verteilte die neue Regierung die Steuerlasten ungleich: Die alten preußischen Provinzen wurden bevorzugt, die neuen, wie das Rheinland, mussten bis zu fünfmal höhere Abgaben zahlen und fühlten sich regelrecht ausgeplündert.

Die Armut ließ Ludwig von Westphalen nicht gleichgültig. Seinen Vorgesetzten gegenüber beschrieb er die Lage der Region in lakonischer, aber ungeschönter Sachlichkeit, wenn er feststellte, „dass es der mittleren und geringen Klasse der Landbewohner an Arbeitsverdienst und Erwerbsmitteln fehle“. Seine Tochter Jenny begleitete ihn mitunter auf Inspektionsfahrten in den Hunsrück oder die Eifel, konnte sich also einen Eindruck von den kümmerlichen Lebensverhältnissen machen. Die Vermutung, dass sie über solche Erlebnisse mit ihren Freunden, also auch mit Karl Marx, gesprochen hat, liegt nahe.

In diesen Jahren wuchs Ludwig von Westphalen in die Rolle eines väterlichen Mentors für den halbwüchsigen Karl hinein. Die beiden wanderten oft gemeinsam und führten auf ihren Streifzügen ausschweifende Gespräche. Es gelang ihm, Karl, der im eigenen Elternhaus mit literarischen Anregungen nicht überschüttet wurde, für die zeitgenössischen romantischen Autoren, für den jüngst verstorbenen Goethe, aber auch für Klassiker wie Dante oder Cervantes zu begeistern. Vor allem aber legte er den Grundstein für Marx’ lebenslange Verehrung Shakespeares. Dessen Welttheater ließ Marx nie wieder los und wurde zum festen Bestandteil seines intellektuellen Kosmos’. Bis ins Alter las er Shakespeares Stücke regelmäßig und zitierte sie in den eigenen Schriften. Seine Begeisterung für diese Dramen, schrieb sein Schwiegersohn Lafargue Jahrzehnte später, sei schier „unbegrenzt“ gewesen, er habe auch die „geringfügigsten Figuren“ genau gekannt und die „Shakespeare eigentümlichen Ausdrücke“ in Listen zusammengestellt und geordnet.

Aber auch über die Verelendung Triers wird Ludwig von Westphalen mit dem jungen Karl geredet haben. Er hatte sich – nicht eben typisch für einen preußischen Beamten – mit den Büchern des französischen Frühsozialisten Henri de Saint-Simon beschäftigt, der das Feudalsystem ablehnte und stattdessen für eine Meritokratie plädierte, in der Herrschaftsrechte strikt nach den Verdiensten des Einzelnen vergeben wurden. Arbeiter, Handwerker, Bauern, aber auch Unternehmer und Bankiers waren in seinen Augen die Leistungsträger der Gesellschaft, Adel und Klerus lediglich Schmarotzer. Viele Formulierungen und Begriffe, die später zentrale Bedeutung für Marx’ Denken entwickelten, wurden von Saint- Simon vorgeprägt. So sprach er bereits vom Proletariat, von der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen oder dem Antagonismus der Klassen.

Im Januar 1834, Karl Marx war 15 Jahre alt, verstrickte sich sein Vater Heinrich in eine politische Provinzaffäre. Sie lässt etwas ahnen von der bedrückenden Atmosphäre, die in Trier unter der absolutistischen, quasi-kolonialen Regierungsgewalt Preußens herrschte. Gemeinsam mit Ludwig von Westphalen gehörte Heinrich Marx zu den Mitgliedern der Casino-Gesellschaft Triers, die wie in anderen Städten des Rheinlands hauptsächlich der Geselligkeit, der Organisation von Festen und Banketten dienen sollte. Allerdings machten sich bei manchen dieser Veranstaltungen behutsame demokratiefreundliche und preußenkritische Untertöne bemerkbar. So lud die Trierer Casino-Gesellschaft am 12. Januar 1834 Abgeordnete des rheinischen Landtags, die als eher liberal galten, zu einem festlichen Bankett ein. Und Heinrich Marx hielt zu diesem Anlass eine der Festreden.

Dieser Landtag hatte nur beratende Funktion und kein Recht, Gesetze oder Steuern zu beschließen. Wo immer er bei regionalen Angelegenheiten Entscheidungen treffen durfte, unterstand er der königlichen Aufsicht. Dennoch ist die Rede von Heinrich Marx voller Zustimmung zur Einrichtung dieser Landtage und voller Ergebenheitsadressen an den König: Denn mit ihnen habe der Herrscher der Bevölkerung „die ersten Institutionen einer Volksvertretung“ geschenkt – eine Formulierung, in der diskret die Erwartung anklingt, diesen ersten Institutionen mögen nun bald weitere folgen, möglichst mit größeren Kompetenzen. Auch die Behauptung des Festredners Marx, der König habe die Landtage begründet, „damit die Wahrheit an die Stufen seines Thrones gelange“, war genau betrachtet ein vergiftetes Lob. Denn sie deutet indirekt an, in der Vergangenheit sei die Wahrheit über den Zustand des Landes dem König vorenthalten worden, oder sie habe ihn schlicht nicht interessiert. Und mehr noch: In pathetischen Wendungen sprach Heinrich Marx von dem Gefühl der Dankbarkeit, das die „ehrenwerthen Bürger“ der Stadt „ihren Stellvertretern“ gegenüber empfinden, die im Landtag für „Wahrheit und Recht“ kämpften.

Doch die preußische Behörden reagierten schon auf diese leise Kritik empfindlich. Justizminister von Kamptz urteilte aus dem fernen Berlin, man habe es in Trier gewagt, „Verhandlungen einer von des Königs Majestät und nur allerhöchst demselben verantwortlichen Versammlung […] in ebenso unkundiger als unbefugter Weise zu beleuchten und zu tadeln. Schon halten die große Mehrzahl von Landesdeputierten sich nicht für deutsche landständische Landtagsdeputierte, sondern für Repräsentanten des Volkes und werden von dem Publikum in diesem Wahn bestärkt.“ In den Augen des Ministers war das Bankett für die Abgeordneten geradezu eine antipreußische Protestversammlung, die unerhörte demokratische Forderungen stellte.

Zwei Wochen später spitzte sich die Affäre zu, als die Casino-Gesellschaft ihr Stiftungsfest beging. Diesmal waren es nicht Reden, sondern Gesänge, die Anstoß erregten. Über ein Dutzend Mitglieder, darunter auch Heinrich Marx, stimmten spontan erst harmlose, dann aber eindeutig revolutionäre Lieder an. Sie sangen unter anderem die französische Revolutionshymne von 1830 La Parisienne und mehrfach die Marseillaise. „Dieser Gesang“, hieß es im denunziatorischen Bericht eines preußischen Freiherrn an den Kommandeur der preußischen Truppen in Trier, „steigerte sich unter wilden Schlägen auf den Tisch bis zur Exaltation, und ganz besonders nahm das Toben bei denjenigen Stellen überhand, aus welchen der revolutionäre Geist entflammt.“  Dazu sei von einem der Gäste ein „seidenes trikoloresTuch“, geschwenkt worden, vor dem man sogar einen Kniefall gemacht habe.

Der Skandal war da, eine polizeiliche Untersuchung wurde angeordnet, die bedrohliche Dimensionen annahm. Wie alle Beteiligten wurde auch Heinrich Marx verhört, wie alle Beteiligten behauptete er, die Versammlung schon frühzeitig verlassen zu haben, noch bevor die Sänger zu revolutionärem Liedgut überwechselten. Der Trierer Oberbürgermeister Wilhelm Haw bemühte sich, die Vorkommnisse hauptsächlich auf den Moselwein zurückzuführen, der an diesem Abend in großen Mengen getrunken worden sei. Dennoch wurde ein Kollege von Heinrich Marx, der Advokat Brixius, angeklagt – und zwar wegen keines geringeren Vergehens als Hochverrat. Das Landgericht Trier sprach ihn wenig später frei, weil ihm keine hochverräterische Absicht nachzuweisen war. Der preußische Innenminister Gustav von Rochow legte Berufung ein, doch der Appellhof in Köln bestätigte den Freispruch, da die Brixius vorgeworfenen Handlungen letztlich „irgendein Strafgesetz nicht verletzt“  hätten.

Auf den Schüler Karl Marx dürfte diese Affäre Eindruck gemacht haben: Nicht nur sein Vater, der preußische Justizrat, sondern ein ganzer Kreis der führenden Bürger seiner Stadt singen Revolutionshymnen, müssen sich daraufhin von der Polizei befragen lassen und können erleichtert sein, als man sie ungeschoren davonkommen lässt. Ein vorteilhaftes Licht warf die Angelegenheit auf keine der beiden Seiten: Den preußischen Machthabern zeigten die Vorgänge, wie gering ihr Rückhalt selbst unter den Honoratioren der Region war, und sie machten sich mit ihren Versuchen, die Beschuldigten juristisch zur Rechenschaft zu ziehen, vor Gericht lächerlich. Die angeblich guten preußischen Bürger dagegen hatten für einen kurzen, unbedachten Moment ihre wahren Überzeugungen aufblitzen lassen, zuckten jedoch schon nach der ersten Drohgebärde des Staates zurück und reihten sich wieder ein, um ihre Funktionen in diesem und für diesen Staat zu erfüllen.

© Karl Blessing Verlag

Titelbild

Uwe Wittstock: Karl Marx beim Barbier. Leben und letzte Reise eines deutschen Revolutionärs.
Blessing Verlag, München 2018.
288 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783896676122

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